Der eigenen Sehnsucht folgen

Im Herzen jedes Menschen liegt seine ganz eigene Sehnsucht. Sie zu entdecken ist in jedem Leben ein großer Schritt nach vorne. Niemand hat sich diese Sehnsucht selbst gemacht. Sie ist ein persönliches Geschenk, das unser Handeln von innen her bestimmt. Diese persönliche Sehnsucht können wir nicht durch Gedankenspiele ergründen, aber wollen uns doch von ihr leiten lassen. Kein Fremder kann sie mir wie ein Geheimwort zuflüstern. Besonders ist die Sehnsucht für gläubige Menschen die persönliche Richtungsweisung Gottes im Leben. Wie kann ich ihr auf die Spur kommen?

Gute Erfahrungen habe ich am Anfang von Exerzitien damit gemacht, nach dem Ärger der TeilnehmerInnen zu fragen oder, wenn jemand keinen Ärger kennt, darum zu bitten, auf die Auslöser ihrer Trauer zu schauen. In beiden Fällen sind sie von einer Situation betrübt, die ihrer Lebenssehnsucht widerspricht. So kann mit der Frage offen angesprochen werden: Wie sollte die Situation sein, mit der Sie zufrieden wären?

Auf die erste wie auf die zweite Frage kann jeweils ein Bündel Antworten kommen. Gute Zuhörer und Zuhörerinnen helfen nach zentralen Schlüsselwörtern zu suchen, mit denen der Ärger oder die Traurigkeit und dann die Sehnsucht ausgedrückt wurden. Die Begleiterinnen und Begleiter spüren sofort, wenn die Übenden bei den vorgeschlagenen Schlüsselwörtern innerliche Widerstände spüren. Im nächsten Schritt werden sie aufgefordert, die vorläufigen Aussagen mitzunehmen und auf ihre Stimmigkeit zu prüfen.

Die eigene Sehnsucht führt oft mehrere Aspekte zusammen. So können pauschale Aussagen vermieden werden und die Übenden können auch später an der Feinabstimmung arbeiten.

Auch im Exerzitienbuch nutzt der Ignatius einen ähnlichen Einstieg in die Übungen. Er formuliert ihn in einem einfachen Ge- bet, was nicht jedem Übenden heute sofort möglich ist. Doch er ist noch einen Schritt weiter gegangen, der auch für uns sinnvoll ist. Versuchen wir einmal von der gefundenen Sehnsucht her nach dem Namen des Gottes zu fragen, der oder die uns unsere Sehnsucht mit auf den Weg gab.

Hagar ist in der Bibel die erste Person, deren persönlichen Namen Gott ausspricht (Gen 16,8). Mitten im heftigen Ärger mit Sarei floh Hagar – verzweifelt und hochschwanger – in die für sie besonders lebensbedrohliche Wüste. Dort spricht sie Gott an: „Du, der Du nach mir schaust.“ Die Frau Abrahams hatte sich sehr abweisend ihr gegenüber verhalten, die den Kinderlosen einen Nachkommen schenken sollte. Mit diesem Namen Gottes und mit einer Verheißung konnte sie sogar wieder an ihren alten Platz zurückkehren und einen vitalen Sohn gebären, der der Vater des arabischen Volkes werden sollte.

Auch Mose lebt mit einer herausfordernden Sehnsucht. Er sucht sein Volk. Mose wurde als kleines Kind inmitten einer Vernichtungsaktion des Pharaos von einer von dessen Töchtern gerettet. Mit 40 Jahren fand er dieses Volk bei harter Fronarbeit, durch die es klein gehalten werden sollte. Vor Wut erschlug Mose einen der Peiniger. Ihm gelang die Flucht in die Steppe. Dort heiratete er und hütete das Vieh seines Schwiegervaters. Seinen Sohn nannte er Gerschom, Gast in der Fremde. Doch mit 80 Jahren machte er sich nochmals auf die Suche und ging über die Steppe hinaus (Ex 3) und bekam von Gott den atemberaubenden Auftrag, sein Volk aus der Knechtschaft zu befreien. Da fragte er ihn in seiner Not: „Wie heißt Du?“ Und er hörte: „Ich bin da und werde da sein. Das ist mein Name.“ Nun hatte er in ihm eine mitziehende Heimat gefunden.

Diese Heimat ist jedem Menschen mit dem eigenen persönlichen Namen verheißen, mit dem wir uns auf den Weg machen.

Eine junge Frau fand nach Ausgrenzungserfahrungen ihren Gottesnamen in den Straßenexerzitien: „Du, der (und später die) Du mich schön ansiehst.“ – Ich selber fand über meinen Wunsch nach Solidarität seinen Namen: „Du, der Du mit uns Menschen solidarisch bist“ – mitten in einer Gesellschaft, die so stark am Kapital orientiert und damit oft zutiefst unsolidarisch ist.

(zuerst erschienen in: Jesuiten 2016, 2)

Aufmerksam werden

Weglassen: Geldbeutel, Handy, iPod, .... (Foto: Martin Strattner CC-BY-ND 2.0)

In den letzten zehn Jahren wurde bei Kirchen­ und Katholikentagen eine Aufmerk­samkeitsübung angeboten. Jeweils etwa 50 Menschen gingen zwei oder drei Stunden auf die Straßen der Stadt. Als Hilfestel­lung bekamen sie zwei Sätze aus dem Lukasevangelium (10,3+4) mit auf den Weg. In diesem Bibeltext bereitet Jesus 72 Jünger und Jüngerinnen darauf vor, in die Städte und Ortschaften zu gehen, in die er noch kommen will. Anschließend erzählten die Teilnehmenden in kleinen Gruppen von ihren überraschenden Erfahrungen. Ähn­lich nahm Jesus sich die Zeit, den Jüngern zuzuhören. Bei uns hörten jeweils einige Begleiterinnen und Begleiter mit Erfah­rungen aus Straßenexerzitien zu. Jetzt möchte ich Sie an dieser Stelle einladen, sich auf solch eine Zeit der Aufmerksam­keit einzulassen.

In der biblischen Vorlage weist Jesus zu­erst auf die Situation hin, die die Jünger vorfinden werden. Ähnliches gilt auch für uns. Die Jünger gingen aus dem geschütz­ten Kreis hinaus in ein oft feindlich ge­sinntes Umfeld. Im eigenen Kreis hatten sie sich unter dem Schutz von Jesus, der wohl jeden zu Wort kommen ließ, eine Stellung erarbeitet. Doch das wird sich auf der Reise ändern: „Ihr überschreitet eine Grenze. Legt deshalb alle Besserwis­serei ab. Hört aufmerksam zu. Nun geht! Ich sende euch wie Lämmer mitten unter Wölfe“, lauten die Worte Jesu.

Dann gibt Jesus noch vier Anweisungen:

1. Lasst das Futter für die Wölfe weg. „Nehmt keinen Geldbeutel mit.“ Ohne Geld seht ihr eure Geschwister besser, die auch ohne Geld auf der Stra­ße sind, und könnt ihre Bedürfnisse besser spüren: Durst, Hunger, den Zu­ gang zu einer Toilette, Regenkleidung. Dann seid ihr keine Kunden mehr, de­ren Bedürfnisse auf Zuruf befriedigt werden. Auch andere Abhängigkeiten, die uns zur Beute von Wölfen werden lassen, können wir wenigstens für einige Zeit weglegen: die Uhr, Handy, Online­präsenz …

2. Kauft kein Überlebenspaket ein. „Lasst auch den Rucksack weg.“ Die Jünger dürfen jede Absicherung vermeiden, außer der, sich ganz auf die Frohe Bot­schaft Jesu zu verlassen.

3. Geht in die Haltung der Achtung vor euren Gastgebern. „Zieht eure Schu­he sofort aus“, nicht erst beim Betre­ten der Häuser, sondern schon hier. Vertagt eure Geste der Achtung nicht! Legt die Schuhe der Distanz weg: Die Schuhe mit hohen Hacken, durch die wir auf andere hinabsehen können; die Turnschuhe, mit denen wir oft bei Konflikten schnell weglaufen; die Schuhe mit Stahlkappen, mit denen wir zutreten können …. Jeder von uns trägt andere „Schuhe“, die eine Distanz zum Boden und zur Wirklichkeit vor Ort herstellen.

4. „Und grüßt nicht unterwegs.“ Wie können wir diese Anweisung verstehen? Als ich in einer überschaubaren Runde den Text aus dem Lukasevangelium vorlas, sprang eine ältere Ordensfrau auf und schrie gerade­ zu: „Ich will doch nicht unhöflich sein!“ Doch auch diesen Ratschlag müssen wir in unseren Alltag übersetzen. Ich schlage vor: Lasst euch von einengenden Regeln nicht aufhalten und grüßt vielleicht mal diejenigen, die ihr sonst nicht grüßt. Mit manchen Höflichkeitsregeln können wir den Ruf Gottes in den Hintergrund drü­cken. Er wird in vielen Alltagskonventio­nen beiseitegeschoben.

Soweit einige Erläuterungen zu dem Bibel­text. Nun lade ich die Sie ein, sich auf eine Zeit der Aufmerksamkeit mit diesen Anweisungen Jesu einzulassen. Was sehen wir alles – auch in gewohnter Umgebung – neu, wenn wir einige vertraute Dinge weglegen? An­schließend hilft ein Gespräch mit Freundin­nen und Freunden, um die Erfahrungen zu sichten. Manchmal weitet das Lesen der Er­fahrungsberichte auf dieser Webseite unseren Blick, oder im Buch: „Im Alltag der Straße Gottes Spuren suchen – Persönliche Begegnungen in Stra­ßenexerzitien“ (Neukirchener Verlage 2016).

Straßenexerzitien auf dem Katholikentag 2016

Rucksackberge_klein (Foto: Gabriele Hesse)

Rucksackberge (Foto: Gabriele Hesse)

Auf dem Katholikentag 2016 in Leipzig haben sich an zwei Tagen jeweils gut 50 Menschen für 2 Stunden auf die Straße begeben mit Lk 10, 1-9 als Impuls. Darin gibt Jesus uns folgendes mit auf den Weg:

Geht!
Ich sende euch wie Schafe mitten unter die W
Nehmt keinen Geldbeutel mit,
keine Vorratstasche und keine Schuhe!
Grüßt niemand unterwegs! (k 10, 3-4)

 

Viele haben ihre Taschen und Geldbeutel weggelassen.

Gott auf der Straße

Die Doktorarbeit von Michael Schindler, Begleiter der Exerzitien auf der Straße, ist im Lit-Verlag erschienen:

Michael Johannes Schindler (2016): Gott auf der Straße. Studie zu theologischen Entdeckungen bei den Straßenexerzitien Reihe: Tübinger Perspektiven zur Pastoraltheologie und Religionspädagogik
Bd. 54, 464 S., 49.90 EUR, br., ISBN 978-3-643-13295-6

Diese Studie folgt einem neueren Ansatz, demzufolge Theologie als Kommentar zu gläubiger Praxis verstanden wird. Die kommentierte Praxis sind die Exerzitien auf der Straße. Diese junge Form von Exerzitien wird durch eine qualitativ-empirische Studie erhellt und durch eine soziologische Skizze zu einer Phänomenologie der Straße ergänzt. Es wird aufgedeckt, welche bibelhermeneutische, exegetische und spirituelle Qualität diese Praxis enthält, und inwiefern hier in dogmatischer Perspektive von einem „Sakrament der Straße“ gesprochen werden kann. Aus diesem Befund werden Optionen für die Pastoral getroffen.

Vom Autor sind hier zwei weitere Artikel publiziert:

Die barmherzige Straße – überraschende Gottesentdeckungen bei Straßenexerzitien

Wenn Straße heiliger Boden wird

Die barmherzige Straße – überraschende Gottesentdeckungen bei Straßenexerzitien

Durchblick auf der Straße (Foto: Kathrin Happe)

Von Michael Schindler, Friedrichshafen

Straße mit Barmherzigkeit in Verbindung zu bringen wirkt paradox. Menschen, die auf der Straße leben (müssen), kennen die Unbarmherzigkeit eines solchen Daseins, wo selbst die Schicksalsgenossen potentiell unbarmherzige Konkurrenten sind. Wer auf die Straße gesetzt wurde, hat die Unbarmherzigkeit der Arbeitswelt kennengelernt. Und eine Kindheit auf der Straße blendet bestenfalls in sozialromantischen Verklärungen die dieser zugrunde liegende Enge und Armut des Zuhauses aus.

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Das Heilige auf der Straße

Ein Porträt von Philipp Gessler zum 73. Geburtstag von Christian Herwartz (taz, 16. April 2016)

Auf seinem Unterarm prangt ein Tattoo: Moses brennender Dornbusch. Für Christian Herwartz steht er dafür, sich ungeschützt auf Fremdes einzulassen. Das praktizierte der Jesuit über Jahre

Christian Herwartz in Berlin-Kreuzberg, 2015 (Foto: Wolfgang Borrs)
Christian Herwartz in Berlin-Kreuzberg, 2015 (Foto: Wolfgang Borrs)

Ist das etwa der liebe Gott? Jedenfalls sieht der Obdachlose so aus – lange weiße Haare, Vollbart, wallendes Hemd und eine weite Hose. Etwas irritierend ist der zackige Spiegel, der an einer Schnur um seinen Hals baumelt, die nackten Füße stecken in Badeschlappen. Er drückt auf die Klingel der „WG Herwartz“ am Eingang des Hauses Naunynstraße 60, gleich neben der Kneipe Der Trinkteufel in Berlin-Kreuzberg. Die Tür öffnet sich, ohne Nachfrage. Im dritten Stock steht die Wohnungstür auf, verschiedene, meist nicht mehr ganz junge Menschen, tragen Tassen und Teller in das WG-Wohnzimmer. Es ist Samstagmorgen, und wie immer samstags zwischen halb zehn und halb zwölf, ist jeder, der mag, zu einem offenen Frühstück eingeladen. An der langen Holztafel, an der etwa 15 Leute sitzen, ist noch ein Platz frei, neben Christian Herwartz. Der liebe Gott neben dem Heiligen von Kreuzberg.

Dass Herwartz ein Heiliger von heute sein könnte, das hat Pater Klaus Mertes mal angedeutet, ebenfalls ein mutiger Jesuit, der als Rektor des Canisius-­Kollegs vor sechs Jahren den Missbrauchsskandal in seinem Gymnasium aufdeckte – und damit die katholische Kirche im Innersten erschütterte. Aber was ist schon heilig?

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Spiritualität in der Sozialen Arbeit und der Weg der Straßenexerzitien

Von Andrea Tafferner, Katholische Hochschule NRW, Münster

Für ein Buchprojekt wurde ich gebeten, ein Fallbeispiel aus der Sozialen Arbeit aus Sicht der Theologie zu kommentieren. Eine theologische Perspektive einzubringen heißt für mich auch, zu beschreiben, wie spirituelle Grundhaltungen in der Sozialen Arbeit einen selber verändern und dadurch auch die Beziehung zu den Menschen prägen, die aus unterschiedlichsten Gründen professionelle Unterstützungsleistungen erhalten. Ein Kernthema der Beziehungsgestaltung in professionellen Kontexten ist die Balance von Nähe und Distanz. Durch die Straßenexerzitien ist mir deutlich geworden, dass es „Schuhe der Distanz“ gibt, die eine offene Begegnung mit anderen Menschen beeinträchtigen. Oder noch viel mehr: die auch die Freude, die von innen kommt, hemmen können.

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Buchvorstellungen: Im Alltag der Straße Gottes Spuren suchen

Im Februar erscheint das neue Buch über Straßenexerzitien, herausgegeben von Christian Herwartz, Elisabeth Tollkötter, Josef Freise, Katharina Prinz und Maria Jans-Wenstrup, mit einem Nachwort von Klaus Mertes

Christian Herwartz (Hg.)
Im Alltag der Straße Gottes Spuren suchen
Persönliche Begegnungen in Straßenexerzitien

kartoniert / 12,3×19,0 cm /
176 Seiten

ISBN 978-3-7615-6270-3

Neukirchener Aussaat

Lieferung ab 15. Februar 2016

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unterwegs in Afrika …… Heilige Orte entdecken

Durch seine Wunden sind wir geheilt

Von Marlies Reulecke

Abb.: aus der Fotoserie Marienzyklus, Jens Reulecke – Digital Print bemalt mit Retuschierfarbe, 70 x 100 cm, 2015.

„Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten, um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.“ (2 Kor 12,10)

Bei meinen Aufenthalten in Afrika fasziniert es mich immer wieder, selbst in den schwächsten und vom Leid geplagtesten Frauen eine ungeahnte Stärke zu entdecken, eine Würde, die ihnen keiner nehmen kann. Eine dieser Frauen ist Salome.

Sie lebt als Witwe in einem kleinen Ort im Niger, eines der ärmsten Länder dieser Erde. Sie gehört zur Minderheit der Christen in diesem islamischen Land.

Salome ist unendlich stolz darauf, dass ihre fünf Kinder alle das Abitur gemacht haben und einige nun studieren bzw. ihre Ausbildung abgeschlossen haben.

In der HIV-Abteilung des örtlichen Krankenhauses verwaltet sie die Krankenakten, aber nebenbei berät sie auch die Patienten und steht ihnen in ihrer Krankheit bei. Sie ist der Mittelpunkt der Abteilung, die „Mutter“, die eine Atmosphäre der Geborgenheit vermittelt. Sie ist dazu bestens qualifiziert, nicht weil sie eine langjährige Ausbildung vorzuweisen hat, sondern weil sie selbst durch Leid gegangen ist, ohne dabei bitter zu werden. Von ihrem Mann mit HIV infiziert, empfing sie zu einem Zeitpunkt, als im Niger noch nicht an eine Therapie zu denken war, das Todesurteil, als man ihr mitteilte, dass auch sie das Virus in sich trägt.

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