Weihnachten im Anthropozän

Zu Beginn der katholischen Liturgie zur Christmette wird die Geburt Christi in der Zeit verortet im sogenannten Martyrologium Romanum: Die Gründung der Welt, die Erschaffung des Menschen, die Urväter Abraham und Mose, das Königtum Davids, die Gründung Roms, das Kaisertum des Augustus – das alles sind Referenzpunkte des welthistorischen Ereignisses der Geburt Christi.

Als ich dem gestern lauschte, kam mir etwas in den Sinn: all diese historischen Ereignisse (mit Ausnahme der Erschaffung der Welt und des Lebens auf Erden), Abraham, Mose, David, die ganze biblische Geschichte, auch die ganze lange Kirchengeschichte, auf die Kirche zurückblicken kann – sie spielten sich unter den Bedingungen eines relativ stabilen Klimas ab.

Holozän nennen die Geologen die Epoche, die vor etwa 10.000 Jahren begann, und die die Grundlage für die Entwicklung der gesamten menschlichen Zivilisation bildete. All unsere jüdische und christliche Tradition bildete sich unter diesen relativ günstigen und stabilen Bedingungen – die Dürren und Fluten sind dabei durchaus eingeschlossen.

Das ist nun unwiederruflich vorbei. In abenteuerlichem Tempo katapultiert die Menschheit gerade ihren Heimatplaneten aus diesem lebensdienlichen Zustand heraus. Sie gräbt abgestorbene, einst lebendige Materie – fossile Brennstoffe – aus den Tiefen der Erde heraus, verbrennt sie binnen weniger Jahrzehnte, und gibt so dem Erdsystem einen gigantischen Impuls. Die Vertreibung aus dem Paradies, hat dies mein Freund Christoph Bals einmal genannt. Anthropozän – das vom Menschen gemachte geologische Zeitalter – ist der wissenschaftliche Begriff für diese neue, unbekannte Welt.

Die Temperaturkurve auf dem folgenden Diagramm veranschaulicht dies: *Die blaue Kurve ist die der letzten 10.000 Jahre, das Holozän, die grüne ist die Kurve des Pariser Klimaabkommens, die zunehmend unrealistischer wird, die gelb, orange und roten Kurven sind der Pfad, auf dem wir uns gerade befinden.

Die Entwicklung der mittleren Temperatur auf der Erde seit der letzten Eiszeit und die Prognosen unter verschiedenen Emissionsszenarien – sowie die Kipppunkte im Erdsystem. Quelle: Schellnhuber, H. J., Rahmstorf, S. & Winkelmann, R. Why the right climate target was agreed in Paris. Nature Climate Change 6, 649-653 (2016). doi:10.1038/nclimate3013. Erläuterungen für Laien finden sich hier und hier, wer Englisch kann auch hier.

Und die neue Welt, sie hat immer öfter Züge eines Infernos (inferno = italienisch für Hölle). Am 20. Dezember 2019 postete Bo Kitty auf ihrer Facebook-Seite dieses Foto eines australischen Feuerwehrmanns inmitten eines brennenden Waldes:

Quelle: https://www.instagram.com/p/B6KCOM5h-YE/

Sie schreibt dazu (meine Übersetzung mit Erläuterungen in eckigen Klammern):

Für alle in der restlichen Welt: Australien brennt und hat seit etwa 2 Monaten nicht mehr aufgehört. Heute ist es landesweit um die 50 Grad Celsius. In Melbourne sind es 111 Grad Fahrenheit [44°C]. Unser Regierungschef [Scott Morrisson] ist vor diesem nationalen Notstand geflohen, um eine Kirche in Übersee zu gründen [er war anscheinend auf Hawaii im Urlaub, hat jetzt den Urlaub abgebrochen https://www.sueddeutsche.de/…/profil-scott-morrison-1.47316… ].

Ich weiß, dass Australien wie eine malerische Insel am Ende der Welt aussieht, aber es ist ein wirklich schöner Ort, nicht nur die Natur, sondern auch die Menschen. Ich habe mir hier unter all den Orten, an denen ich gewesen bin, ein Zuhause gemacht. Früher nannte man es das glückliche Land. Keiner von uns fühlt sich im Moment glücklich. Wir haben Hunderte von Häusern und 2,5 Millionen (ja Millionen) Hektar unseres natürlichen Lebensraums verloren, und bisher sind es Freiwillige, die diese Brände bekämpfen. Und wir alle sind durch die Nachricht aufgewacht, dass zwei von ihnen heute Morgen gestorben sind. Zwei junge Väter.

Ich schreibe dies für alle Menschen auf der ganzen Welt, die ich versammelt habe, weil Australien Angst hat und nicht weiß, was wir tun sollen, um dies zu bekämpfen. Es wird eine weiße Weihnacht für uns sein, aber statt Schnee ist es Asche, von unseren alten Bäumen, von unserem Busch, der wie nirgendwo sonst auf der Erde ist.

Währenddessen werden furchterregende Gesetze gemacht, unsere bürgerlichen Freiheiten werden ausgehöhlt, wir haben Pfingstler an der Macht [Premier Morrison ist Mitglied einer Pfingstkirche, die verkündet dass am Ende der Zeiten die Gerechten in den Himmel entführt werden, während die anderen im Feuer untergehen]. In der Tat scheint es das Ende der Zeiten.

Es findet ein massiver Wandel statt. Überall auf der Welt gibt es einen Wachwechsel. Wir leben buchstäblich mitten in der Zerstörung. An alle, die sich auflehnen, macht weiter. Gigantische Wellen menschlicher Uneinigkeit werden die Gesellschaft verändern. Das ist eine geschichtliche Tatsache.

Im Moment hat keiner von uns alle Antworten klar, denn jetzt verstecken wir uns drinnen in klimatisierten Räumen, wenn wir können. Im Moment reden wir im Internet, das überwacht und manipuliert wird, aber wir sind immer noch viel mehr als sie [ich denke sie meint die Klimaleugner und Autoritären]. Und wir sind verdammt mutiger. Genau wie das junge Mädchen, das vor dem Haus unseres Premierministers stand, mit einem Schild, auf dem stand: „Sieh, was du uns hinterlassen hast, sieh zu, wie wir dagegen ankämpfen, sieh zu, wie wir gewinnen“… der von der Bereitschaftspolizei mit Verhaftung gedroht wurde [zu dieser Geschichte mehr hier ].

Ich sende Liebe an alle Feuerwehrleute. An alle, die ihr Zuhause verloren haben und vertrieben wurden.
Und drängt alle auf der ganzen Welt, die Geschehnisse in Australien zu verfolgen. ❤️

Was gerade in Australien passiert – die Hitzewellen, die jedes Maß sprengen, die Buschbrände, die die Luft mit Rauch und Asche vergiften, das hat apokalyptische Züge. Und es ist erst ein Vorgeschmack: Die Erde hat sich gerade 1,1°C erwärmt, und die Möglichkeit die Erwärmung bei 1,5°C zu stoppen wie in Paris vereinbart, zerrinnt uns gerade Tag um Tag zwischen den Fingern.

Was bleibt angesichts der Aussicht auf eine Katastrophe, die unsere Vorstellungskraft überschreitet, und die nur in apokalyptischen Bildern fassbar ist?

Was bleibt sind Glaube, Hoffnung, Liebe. Zur Hoffnung in Zeiten der Klimakatastrophe schreibt die großartige junge britische Theologin Hannah Malcolm (Übersetzung und Hervorhebungen durch mich):

God comes down to dwell with God’s people forever. And I choose to believe this, choose to be hopeful, even on the days I do not feel hopeful at all. I choose to believe that what we do on earth matters, even if we cannot now reverse the tide of death that we face. This is because we are in the business of resurrection – the business of bringing life out of death.
[Gott kommt herab, um für immer bei seinem Volk zu wohnen. Und ich entscheide mich dafür, daran zu glauben und hoffnungsvoll zu sein, sogar an den Tagen, an denen ich überhaupt keine Hoffnung habe. Ich entscheide mich dafür, daran zu glauben, dass das, was wir auf der Erde tun, von Bedeutung ist, auch wenn wir die Flut des Todes, mit der wir konfrontiert sind, jetzt nicht umkehren können. Das liegt daran, dass unser Aufgabe die Auferstehung ist – das Geschäft, Leben aus dem Tod zu holen.]

Glaube, Hoffnung, Liebe. Die Liebe aber ist das Größte unter ihnen. Das feiern wir an Weihnachten: Dass Gottes Liebe vor 2000 Jahren als Mensch auf die Erde gekommen ist – und dass er uns auch im Inferno des Anthropozäns nicht verlassen wird.

Darauf setze ich. Angst und Hass bringen uns um. Nur dank der Liebe werden wir im Anthropozän überleben.

Berlin, Kino International, Weihnachten 2019 (Foto: Jörg Haas)


Von der Inspiration biblischer Bilder

Der folgende Beitrag des Theologen Michael Schindler versucht die Idee der Straßenexerzitien mit ihrem zentralen Schrifttext der Gotteserscheinung im brennenden Dornbusch unter dem Fokus der Grenzerfahrung durchzubuchstabieren.

Als Mose als Flüchtling in Midian weilte und bei seinem Schwiegervater als Hirte arbeitete, trieb er eines Tages seine Tiere „über die Steppe hin hinaus.“[1] Der Beginn dieser dichten biblischen Erzählung von Gottes Selbstoffenbarung und Erscheinung wird mit einem Ortswechsel markiert: Mose überschreitet mit seiner Herde eine bisherige Grenze. Das ermöglicht ihm im Folgenden die Überwindung weiterer Grenzen. die Auch Begegnung mit Gott liest sich als eine Grenzerfahrung: Gott kommt Mose einerseits ganz nahe. Das gegenseitige Sehen wird in besonderer Weise betont und der Bote JHWH’s wird zu JHWH selbst.

Andererseits lässt sich Gott nicht (be-)greifen: Mose muss in gebührendem Abstand stehen bleiben, die Schuhe ausziehen und verhüllt sein Gesicht. Indem sich Mose auf Gottes Wort einlässt und sich für die ihm zugedachte Aufgabe berufen lässt, überschreitet er eine persönliche Grenze, vor der er zunächst zurückweicht, nämlich vom Ziegenhirten zum Hirten seines Volkes zu werden.

Die Dornbuscherzählung (Ex 3) als hermeneutischer Schlüssel

Die Dornbuscherzählung bildet das biblische Fundament einer noch jungen Exerzitienform, den so genannten „Exerzitien auf der Straße“. Der entscheidende Unterschied zu herkömmlichen Exerzitien ist der doppelte Ortswechsel. Man verlässt seinen Alltag und nimmt eine Auszeit, um Exerzitien zu machen. Man sucht aber auch keinen herkömmlichen Exerzitienort des Rückzugs in die Stille eines Klosters oder Exerzitienhauses auf, sondern übt stattdessen auf der Straße. Die Menschen machen sich auf, auf den Straßen einer (Groß-)Stadt den „brennenden Dornbusch“ zu suchen. Sie werden aufmerksam um zu entdecken, wo sich auf der Straße heiliger Boden für sie auftut und wo sie den Impuls bekommen, ihre Schuhe auszuziehen, d. h. inne zu halten und sich selbst zurückzunehmen, um wie Mose mit verhülltem Gesicht ins Hören zu kommen. Dieser „heilige Ort“ materialisiert sich in konkreten Orten: das kann eine Parkbank sein oder eine Bushaltestelle, ein Hinterhof oder ein historisches Denkmal. Der brennende Dornbusch kann in der Begegnung mit Menschen entdeckt werden, auch in der Begegnung mit sich selbst oder mit Dingen wie Papierschnipseln oder einem Kinderwagen.[2] Anders gesagt: Die biblische Erzählung vom brennenden Dornbusch wird zum hermeneutischen Schlüssel für die Erlebnisse auf der Straße. Sie erzählen diese jeweils am Abend in einer Kleingruppe und hören von den Straßengeschichten der anderen Übenden.

Grenzüberschreitungen auf der Straße

Im Grunde sind Exerzitien in der Tradition des Ignatius immer schon persönliche Grenzüberschreitungen. Die so genannten großen Exerzitien wollen zu einer grundlegenden Wahlentscheidung zurüsten. Sie waren nie nur als eine spirituelle Auszeit, als eine Art Wellness für die Seele, gedacht. Doch gibt es bei den Exerzitien auf der Straße eine spezifische Grenzerfahrung. Denn diese laden dazu ein, jenseits des geschützten Raums der eigenen Wohnung oder eines Bildungshauses sich auf einen geistlichen Übungsprozess einzulassen. Das beginnt schon damit, dass die Gruppe in der Regel in einer einfachen Unterkunft wohnt, die z. B. im Winter Obdachlosen als Notschlafplatz dient. Grenzen werden überschritten, wenn die Exerzitanten und Exerzitantinnen mit jemandem von der Straße in Kontakt kommen, der abgerissene Kleider trägt und nach Alkohol riecht. Grenzen werden überschritten, wenn bewusst Orte aufgesucht werden, die man normalerweise in seinem Leben meidet. Grenzen werden überschritten, wenn entdeckt wird, dass mitten im Lärm der Straße plötzlich eine Stille auftreten und jemand auf einer belebten Kreuzung ein Lied anstimmen und ins Beten kommen kann.[3]

Weiterknüpfen des biblischen Fadens

Die Geschichte von der Erscheinung Gottes im brennenden Dornbusch[4] wird in diesen Exerzitien in einer Weise verwendet, dass dieser biblische Faden gewissermaßen auf der Straße weitergeknüpft wird. Sie schärft den eigenen Blick und ermöglicht die angemessene innere Haltung für das eigene Üben auf der Straße. Und sie dient als hermeneutischer Schlüssel, um die abendlichen Erzählungen nachhallen zu lassen und zu deuten, gerade auch wenn es um die Erfahrung und Überwindung von Grenzen geht.

Lesetipps:

Christian Herwartz, Brennende Gegenwart. Exerzitien auf der Straße, Ignatianische Impulse 51, Würzburg 2011.

Michael Schindler, Gott auf der Straße. Studie zu theologischen Entdeckungen bei den Straßenexerzitien, Berlin u. a. 2016.

Christian Herwartz/Maria Jans-Wenstrup/Katharina Prinz/Elisabeth Tollkötter/Josef Freise (Hg.), Im Alltag der Straße Gottes Spuren suchen. Persönliche Begegnungen in Straßenexerzitien, Neukirchen 2016.

Dr. Michael Johannes Schindler ist Pastoralreferent in der Diözese Rottenburg-Stuttgart mit einem langjährigen Schwerpunkt in der Stadtpastoral. Ehrenamtlich ist er seit 2010 als Begleiter von Straßenexerzitien tätig, die er in einer Forschungsarbeit empirisch und theologisch untersuchte. Der Artikel wurde zuerst publiziert in Bibel und Kirche, 71. Jahrgang,  2. Heft 2016, S. 108-109

Fußnoten:
[1] So wird der hebräische Begriff „achar“ von den meisten Übersetzern wiedergegeben.
[2] Die genannten Beispiele sind einer empirischen Untersuchung zu den Straßenexerzitien entnommen (Schindler 2016). Viele weitere Beispiele von entsprechenden Erfahrungen finden sich auf der Website.
[3] Auch diese Beispiele entstammen den Interviews der empirischen Untersuchung (vgl. Schindler 2016).
[4] Ex 3,1-6 ist die grundlegende Erzählung für die Hauptphase der Exerzitien. Es gibt aber auch andere entsprechende Geschichten wie z. B. die Hagargeschichte in der Frage nach dem eigenen Gottesnamen zu Beginn der Exerzitien oder die Aussendung der Jünger und Jüngerinnen. Gegen Ende der Exerzitien steht die Emmauserzählung quasi als Relecture der Erfahrungen auf der Straße. Weitere biblische Geschichten werden in den Gottesdiensten verwendet.

Gott auf der Straße

Die Doktorarbeit von Michael Schindler, Begleiter der Exerzitien auf der Straße, ist im Lit-Verlag erschienen:

Michael Johannes Schindler (2016): Gott auf der Straße. Studie zu theologischen Entdeckungen bei den Straßenexerzitien Reihe: Tübinger Perspektiven zur Pastoraltheologie und Religionspädagogik
Bd. 54, 464 S., 49.90 EUR, br., ISBN 978-3-643-13295-6

Diese Studie folgt einem neueren Ansatz, demzufolge Theologie als Kommentar zu gläubiger Praxis verstanden wird. Die kommentierte Praxis sind die Exerzitien auf der Straße. Diese junge Form von Exerzitien wird durch eine qualitativ-empirische Studie erhellt und durch eine soziologische Skizze zu einer Phänomenologie der Straße ergänzt. Es wird aufgedeckt, welche bibelhermeneutische, exegetische und spirituelle Qualität diese Praxis enthält, und inwiefern hier in dogmatischer Perspektive von einem „Sakrament der Straße“ gesprochen werden kann. Aus diesem Befund werden Optionen für die Pastoral getroffen.

Vom Autor sind hier zwei weitere Artikel publiziert:

Die barmherzige Straße – überraschende Gottesentdeckungen bei Straßenexerzitien

Wenn Straße heiliger Boden wird

Die barmherzige Straße – überraschende Gottesentdeckungen bei Straßenexerzitien

Durchblick auf der Straße (Foto: Kathrin Happe)

Von Michael Schindler, Friedrichshafen

Straße mit Barmherzigkeit in Verbindung zu bringen wirkt paradox. Menschen, die auf der Straße leben (müssen), kennen die Unbarmherzigkeit eines solchen Daseins, wo selbst die Schicksalsgenossen potentiell unbarmherzige Konkurrenten sind. Wer auf die Straße gesetzt wurde, hat die Unbarmherzigkeit der Arbeitswelt kennengelernt. Und eine Kindheit auf der Straße blendet bestenfalls in sozialromantischen Verklärungen die dieser zugrunde liegende Enge und Armut des Zuhauses aus.

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Spiritualität in der Sozialen Arbeit und der Weg der Straßenexerzitien

Von Andrea Tafferner, Katholische Hochschule NRW, Münster

Für ein Buchprojekt wurde ich gebeten, ein Fallbeispiel aus der Sozialen Arbeit aus Sicht der Theologie zu kommentieren. Eine theologische Perspektive einzubringen heißt für mich auch, zu beschreiben, wie spirituelle Grundhaltungen in der Sozialen Arbeit einen selber verändern und dadurch auch die Beziehung zu den Menschen prägen, die aus unterschiedlichsten Gründen professionelle Unterstützungsleistungen erhalten. Ein Kernthema der Beziehungsgestaltung in professionellen Kontexten ist die Balance von Nähe und Distanz. Durch die Straßenexerzitien ist mir deutlich geworden, dass es „Schuhe der Distanz“ gibt, die eine offene Begegnung mit anderen Menschen beeinträchtigen. Oder noch viel mehr: die auch die Freude, die von innen kommt, hemmen können.

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„Auf nackten Sohlen“: Buchbesprechung von Michael Hainz

Von Michael Hainz

Dass „Exerzitien auf der Straße“ eine wirksames Instrument persönlicher Gottsuche, Heilung und Bekehrung sind, beginnt sich langsam herumzusprechen (www.strassenexerzitien.de). Bei dieser Exerzitienform sind Menschen sehr schlicht mitten in einer Stadt untergebracht und werden dazu angeleitet und dabei begleitet, Gottes Fingerzeige in der urbanen Wirklichkeit selbst lesen zu lernen und sich in scheinbar alltäglichen Begebenheiten vom Herrn selbst ansprechen und wandeln zu lassen.

P. Christian Herwartz, Jesuit und Arbeiterpriester in Berlin, erzählt nun erstmals anhand seiner Biographie, wie er in einem langen Prozess spirituellen Experimentierens dieses kostbare Geschenk der Exerzitien auf der Straße entdeckt und ihre grundlegenden Elemente allmählich entfaltet hat. Zur Sprache kommen so einzelne Etappen eines persönlichen Berufungsweges: die Ausbildung im Jesuitenorden, Lehrjahre bei französischen Arbeiterpriestern, die Gründung einer Kommunität in Berlin-Kreuzberg, überraschende persönliche Begegnungen, Einladungen zur Begleitung von Exerzitien usw.

Herwartz erzählt von sich und seinem „Schatz“, aber für andere: so nämlich, dass die Leserin, der Leser für ihr eigenes Leben Frucht ziehen können. Dazu trägt bei, dass am Ende jedes Abschnitts die geistliche Essenz des Erzählten nochmals kurz als „Übersetzungshilfe“ oder Tipp gebündelt wird. So werden die Episoden und Lernerfahrungen eines ungewöhnlichen Lebens zu Anstößen und Einladungen, sich selbst, als Leser und Leserin, auf den Weg mit Jesus und zu den von ihm bevorzugten armen Menschen einzulassen.

Kein konventioneller, abgestandener, bürgerlich abgesicherter Weg wird hier vorgestellt, sondern im Gegenteil einer, der immer wieder neu, lebendig und voller Überraschungen ist und gewiss auch aus dem gewohnten kirchlichen Rahmen fällt. Herwartz erzeugt keinen moralischen Druck und beansprucht nicht sein Leben als Maßstab für andere. Was seine Erzählungen vielmehr so wohltuend und einladend macht, ist der immer wieder durchscheinende Glaube an den Herrn, der als der Auferstandene den Weg des Menschen mitgeht und sich von ihm finden lässt. Exerzitien auf der Straße sind, so wird mit guten Gründen deutlich, eine privilegierte Zeit von – in der Regel – acht Tagen, ein „heiliger Ort“, um im je „persönlichen Dornbusch“ Gott zu begegnen.

 

Buchtipp „Auf nackten Sohlen“

Buchtipp

Von Hannes König SJ

Als von Dezember 1974 bis März 1975 in Rom die 32. Generalkongregation des Jesuitenordens stattfand, war sie geprägt von der Frage nach der Identität des Jesuiten. Dort fiel die Grundentscheidung, „dass die Teilnahme am Kampf für Glauben und Gerechtigkeit das ist, was den Jesuiten in unserer Zeit ausmacht“.
In diesem Zusammenhang ging der Orden im deutschen Sprachraum zwei Projekte an: Zum einen begann ein Team von vier Jesuiten die ignatianische Spiritualität unter dem genannten Aspekt zu studieren und neu zu vermitteln und fing auch an, Exerzitien im Alltag anzubieten. Zum anderen begannen drei Jesuiten in Berlin-Kreuzberg eine Kommunität in einer kleinen Wohnung und nahmen eine manuelle Arbeit auf.

So beschreibt Christian Herwartz selbst in diesem Band einen entscheidenden Moment in der Geschichte des Ordens und auch in seinem eigenen Leben als neugieriger und suchender Mensch und Ordensmann. In klarer und einfacher Sprache erzählt er knapp die ganze Geschichte seines Fragens nach dem Leben und nach Gott, und wie er dem, was den Orden ursprünglich ausmacht, auf die Spur kam.
Dass er mit ein paar Freunden mitten in unserer (gut)bürgerlichen Gesellschaft einen Weg an der Seite der Armen fand und ging, hat ihn zu einem Entdeckungsreisenden werden lassen. Viele haben inzwischen an seiner Reise teilgenommen, die im Sommer 1998 zu den ersten Exerzitien auf der Straße mit ein paar Jesuiten in Berlin geführt hat. In diesem Experiment sind die zwei oben genannten Projekte in der Person von Alex Lefrank SJ und Christian Herwartz SJ zusammengekommen.
Was sich in den nächsten acht Jahren daraus entwickelt hat, wird knapp und geradezu packend in der zweiten Hälfte des Bandes erzählt. Danke, Christian!

Christian Herwartz (2006) Auf nackten Sohlen. Exerzitien auf der Straße. Ignatianische Impulse, Band 18. Echter Verlag, Würzburg.

Buchbesprechung zu „Auf nackten Sohlen“

Hunger nach Glauben und Gerechtigkeit

Von Heinz-Jürgen Metzger

Wie kann ein Christ in einem Staat, in dem die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden, seinen Glauben leben? In seinem Buch „Auf nackten Sohlen“ beschreibt Christian Herwartz sein Leben an der Seite von Arbeitern, Armen und Ausgestoßenen. Er zeigt einen Weg, den „auferstandenen Jesus in unserer Mitte zu entdecken – besonders in Hungrigen, Kranken, Obdachlosen und Gefangenen“.

Herwartz, 1943 geboren, arbeitete zunächst als Maschinenbauer auf einer Kieler Werft. Auch nach seinem Eintritt in den Jesuitenorden 1969 blieb er der Arbeitswelt verbunden. Lange Jahre lebte er als Arbeiterpriester in Frankreich und Deutschland. In Berlin war er an der Gründung einer kleinen Jesuitenkommunität beteiligt, in der er auch heute noch wohnt.

Getrieben vom „Hunger nach Glauben und Gerechtigkeit“ wird er zum Grenzgänger, zu jemandem, der immer wieder Grenzen überschreitet und die Begegnung mit Ausgegrenzten sucht. Stationen seines Weges schildert Herwartz kurz: 1989 – Hungerstreik von politischen Gefangenen in der BRD, 1993 – Räumung der Wagenburg in Berlin, seit 1995 Mahn- und Gebetswachen vor der Abschiebehaftanstalt für Flüchtlinge in Berlin-Köpenick.

„Der Hunger nach Gerechtigkeit ist ein Schmerz, mit dem wir unsere Umwelt neu sehen lernen. Wenn wir ihn nicht betäuben, öffnet er uns den Blick auf Menschen, die unter Ungerechtigkeit leiden. Deshalb preist Jesus den Hunger in der Bergpredigt und nennt die Menschen selig, die sich von ihm leiten lassen.“ schreibt Herwartz.

Um andere an dieser Öffnung hin zu den Ausgegrenzten Teil haben zu lassen, hat er „Exerzitien auf der Straße“ entwickelt. „Das Wort ‚Straße‘ weist auf die offenen, grenzenlosen Plätze im Leben hin, auf denen wir besondere, für unsere Leben entscheidende Begegnungsorte entdecken.“ Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind eingeladen, die Begegnung mit Jesus in der Großstadt zu suchen. Wie einigen von ihnen Jesus begegnet ist, auch das schildert das Buch.

Die Stärke des Buches liegt darin, dass es konkret, immer auf Leben und Erleben bezogen ist. Dies macht es auch für mich als Buddhisten lesenswert. Mich hätte aber auch interessiert, wie das deutlich werdende Jesus-Bild in einem größeren theologischen Zusammenhang einzuordnen ist. Herwartz beschränkt sich darauf, seinen Weg und seine Arbeit in den Zusammenhang der Herausforderungen des Jesuitenordens zu stellen. Dessen Generalkongregation hatte 1974/75 entschieden, ‚dass die Teilnahme am Kampf für Glauben und Gerechtigkeit das ist, was den Jesuiten in unserer Zeit ausmacht‘.

„Auf nackten Sohlen“ ist ein Buch für alle die, die den Kampf für Glauben und Gerechtigkeit noch nicht verloren gegeben haben.

Heinz-Jürgen Metzger ist Zen-Mönch und leitet die BUDDHAWEG-SANGHA. Er arbeitet als Geschäftsführer der PEACEMAKER GEMEINSCHAFT DEUTSCHLAND

Theologische Überlegungen nach Exerzitien in Kreuzberg

Kottbusser Tor bei Nacht. Boris Niehaus. cc-by-sa https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Kottbusser_Tor_Panorama.jpg

THEOLOGISCHE ÜBERLEGUNGEN
nach den Exerzitien in Kreuzberg (August 2001)

Klaus Mertes SJ

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Das Fundament der Exerzitien ist die Ausgangsfrage: „Was macht mich am meisten zornig? Was ärgert mich am meisten?“ Die Frage ist gestellt, um hinter dem Nein des Zornes dem Ja auf die Spur zu kommen, das ich ganz tief in meinem Leben bejahe, mehr vielleicht, als ich es selbst weiß. In dieser Ausgangsfrage, als Frage nach meinem Fundament gestellt, steckt eine Erinnerung an das Glaubenbekenntnis in der Taufe. „Theologische Überlegungen nach Exerzitien in Kreuzberg“ weiterlesen