Klaus Hofmeister im Gespräch mit Christian Herwartz

Klaus Hofmeister, geb. 1960, Studium der Katholischen Theologie in München und Tübingen, Redakteur für Kirche und Religion im Hessischen Rundfunk, im Gespräch mit Christian Herwartz. Es geht um die Begegnung mit Gott in Straßenexerzitien, das Leben in seiner WG in der Berlin-Kreuzberg, die Mahnwachen vor dem Abschiebegefängnis.

Pater Herwartz, Exerzitien, das sind Besinnungstage, die Menschen einlegen, um ihre Beziehung zu Gott zu intensivieren, um Zeit für das Gebet zu haben oder einfach mal der Seele mehr Raum zu geben. Dazu geht man normalerweise an einen ruhigen Ort und, wie man sagt, nach innen. Sie gehen bei diesen Exerzitien auf die Straße. Wie muss ich mir das konkret vorstellen?

Wir tun im Grunde dasselbe wie die, die zu Exerzitien in ein Kloster gehen. Denn Exerzitien heißt nur „üben“, Wir üben Aufmerksamkeit. Dafür gibt es Hilfsmittel. Die Stille ist eines davon. Aber die Stille ist nicht das Zentrale. In den Exerzitien gilt es auszusteigen aus einem Alltag, in dem ich gewohnt bin, immer gleich zu urteilen. Es geht darum, aus unserem dauernden Urteilen auszusteigen und in die Wahrnehmung zu kommen. Es ist nämlich gar nicht einfach, in dieses Jetzt zu kommen. Die Chance ist, auch in der Stadt, in die Aufmerksamkeit für das das Jetzt zu kommen. Das sind Exerzitien auf der Straße.

Das heißt also, die Menschen gehen auf die Straße, also z. B. in Berlin oder auch in anderen Großstädten und suchen sich dann einen Ort für ihre Meditation oder für ihre Aufmerksamkeit. Die Augen müssen ja auch offen sein.

Die spannende Frage ist: Wie kann ich mich führen lassen an einen Ort, der vielleicht ein Ort der Begegnung ist oder ein Ort der Stille, es kann verschiedenes sein. Wie lasse ich mich von meinem Herzen dort hinführen?

Müssen das Orte sein, wo man sagt, „da werde ich auf jeden Fall Gott finden“?

Das gibt es überhaupt nicht, einen Ort, an dem man sicher Gott findet. Es geht um die Frage, wo ich in diese Offenheit komme.-Ob ich das dann hinterher als eine Begegnung mit Gott wahrnehme ist eine zweite Frage. In der Regel passiert das. Wir haben eine Geschichte, die uns hilft, das zu spüren. Es ist die biblische Geschichte von Moses und dem brennenden Dornbusch. Der sieht in der Wüste einen Dornbusch, der brennt und nicht verbrennt. Das ist ein Zeichen der Liebe. Es gibt nur eines das brennt und nicht verbrennt – und das ist die Liebe. Er wird neugierig und geht hin. Und auf dem Weg dorthin ereignet sich dieser eine Moment. In der Geschichte wird das heiliger Boden genannt. Für einen Teilnehmer der Straßenexerzitien kann dieser heilige Boden irgendwo auf einem Hinterhof sein. Dort ereignet sich für ihn dieser Moment, anzuhalten, aufmerksam zu werden, neugierig zu werden. Das ist der Ort, wo mir etwas gesagt werden soll. Darum geht es in den Exerzitien, diesen heiligen Ort zu finden.

Welcher konkrete Ort kann das sein?

Das kann vor einem Gefängnis sein oder auf der Parkbank mit einem Obdachlosen oder in der Begegnung mit einem Suchtkranken oder an einem Wasser. Also da, wo ich mich loslasse. Da, wo ich die Erfahrungen nicht mehr sortiere, sondern sie an mich heran lasse. Zum Beispiel: eine Frau hat sich drei Tage auf eine Bank gesetzt, sie hat immer mit einem Obdachlosen dort gesessen. Und zum Schluss hat sie gemerkt: das ist es, was ich gesucht habe. Sie hatte in sich aus welchen Gründen auch immer eine Angst vor Obdachlosigkeit. Indem sie Obdachlose kennen lernte, war sie befreit von dieser Angst. Das ist immer das erste in Exerzitien, diese Heilung.

Sie regen die Teilnehmer dieser Straßenexerzitien dann ganz buchstäblich an, die Schuhe auszuziehen. So wie Moses die Schuhe auszog, als er den brennenden Dornbusch sah und fühlte, das ist heiliger Boden. Es kann einem also passieren, dass man Teilnehmer Ihrer Straßenexerzitien in Berlin oder in anderen großen Städten barfuß herumstehen sieht?

Genau und das ist eine große Hilfe bei der Meditation. Einmal wird dadurch klar, ich muss die Mauer, die ich um mich habe, fallen lassen. Die Sohle ist ja eine Distanz zur Wirklichkeit. Insofern ist es auch ein Symbol. Wenn ich diese Mauern fallen lasse, dann merke ich, wenn ich vor dem Gefängnis stehe, dass ich vielleicht der Gefangene bin und nicht der andere. Und dann kommt etwas in Gang, was dann gedeutet wird am Abend, wenn ich erzählen kann, wo ich merke, da stoße ich auf etwas, was mich betrifft.

Stimmt es, dass Sie den Rat geben, eher zu Orten zu gehen und dort zu verweilen, zu meditieren, zu denen man sich spontan nicht hingezogen fühlt?

Ja. Wenn ich immer in dem bleibe, was mir bekannt ist, und immer diese Vermeidungsstrategie habe, da will ich nicht hingehen, das ist mir zu heiß, dann erlebe ich es natürlich als eine Chance, solche zehn Tage mal den Weg über die anderen Orte zu gehen. Weil sie ja auch ein Teil der Wirklichkeit in mir selbst sind. Und das gilt nicht nur für die äußeren Orte. Es gilt natürlich auch für liegen gebliebene Dinge in meinem eigenen Leben. Das können schlimme Erlebnisse sein, Trennungen, Schmerzhaftes bis hin zum Missbrauch. All diese Dinge, die man nicht gern berührt. Und da bieten diese Exerzitien eine Chance, sich dem zu nähern. Wir wissen nicht, wie nahe der Moses dem Dornbusch gekommen ist. Es war irgendwo, irgendeine Stelle, als er gemerkt hat, hier muss ich die Schuhe ausziehen, und dann ist er angesprochen worden.

Sie leben seit 1978 in Berlin-Kreuzberg in einer kleinen Jesuitengemeinschaft, die sich in mehr als dreißig Jahren zu einer offenen Wohngemeinschaft entwickelt hat. Offen für wen? Wer lebt da mit Ihnen zusammen?

Da gibt es keinen Plan. Die meisten Leute fragen nach einer Unterkunft für eine Nacht, und dann können es auch Jahre werden. Und so sind immer wieder andere da gewesen, die gern mitleben wollten. Weil sie in irgendeiner Notlage waren oder auch, weil sie religiöse Fragen hatten. Und dann, ja dann wird das bunt.

Wie bunt?

In dem Schlafzimmer, in dem ich schlafe, habe ich schon mit siebzig Nationen zusammen geschlafen. Ich finde das ganz schön bunt. Also von siebzig Nationen Gastfreundschaft zu lernen. Darum geht es ja. Und jede Nation, jede Kultur, tut das ein bisschen anders. Und das wichtigste ist, in dieser Offenheit für Menschen zu bleiben. In der Offenheit des Teilens. Man macht ja nicht nur gute Erfahrungen, und dann immer dorthin zurückzukommen, zu dieser Wertschätzung des anderen. Das wichtigste ist gar nicht so sehr das, was wir machen, sondern das, was wir zulassen. Ob wir die Tür offen lassen, so dass ein Freund kommen kann und sagt: du, da ist was, was wir in unserer Familie nicht meistern können, vielleicht könnt ihr das in Eurer Wohngemeinschaft meistern. Und dann ist die Frage, ob wir ein Bett frei haben. Wir führen keine Gespräche darüber. Wenn wir ein Bett frei haben, dann ist die Entscheidung schon gefallen.

Sie leben dort in drei Zwei-Zimmer-Wohnungen, die eine Wohnetage bilden in Berlin-Kreuzberg.

Wir haben ganz klein angefangen, mit drei Jesuiten haben wir eine kleine Wohnung gehabt. Und dann kamen solche Anfragen. Dann haben wir eine Matratze dazugelegt, oder noch eine zweite. Also es ist doch furchtbar, wenn man gefragt wird, ob jemand im Notfall eine Unterkunft bekommen kann und man muss nein sagen, weil man keine Matratze da liegen hat. Das heißt, man plant nicht, wie das mal wird. Man plant auch nicht, ob man noch eine Wohnung dazumieten muss. Das entwickelt sich im Tun.

Haben Sie in dieser Wohngemeinschaft ein eigenes Zimmer?

Nein.

Das heißt, auch in Ihrem Zimmer schlafen abends mehrere Menschen

Sieben sind wir.

Ist das nicht unglaublich anstrengend, ein Leben zu führen, wo die Tür immer offen ist, wo Menschen in ihren verschiedensten Nöten anklopfen können?

Na ja, wenn ich die Bibel lese, dann war Jesus obdachlos. Er sagt, die Füchse haben Höhlen, die Vögel haben Nester, ich habe nichts, wo ich meinen Kopf hinlegen kann. Das ist eine Umschreibung von Obdachlosigkeit. Das bin ich nicht. Aber so irgendwie mit den Gefühlen in diese Nähe von diesem Ursprung unseres Glaubens zu kommen, das ist etwas ganz Schönes. Und es mag ja sein, dass einem das zwischendurch mal schwerer fällt. Aber dahin immer wieder zurückzukommen, in diesen Kontakt, letztlich mit Jesus, das ist etwas ganz ganz Schönes und so bin ich über jeden froh, mit dem ich vielleicht am Anfang Schwierigkeiten habe. – Neben mir hat mal jemand geschlafen, der hatte eine Phobie. Der dachte er würde vergiftet und hat alle Lebensmittel und alles was ihm wichtig war, in Plastiktüten mit ins Bett genommen. Und das raschelt die ganze Nacht. Aber es war möglich, dass er es in Leinensäcke getan hat, und dann konnte ich wieder schlafen. Ich denke, solche Schwierigkeiten sind auszuräumen, wenn man miteinander redet und wenn man ein bisschen Geduld hat. In diese Bereitschaft immer wieder zurückzukehren, braucht manchmal ein bisschen Energie. Aber sie wird ja auch belohnt.

Was hat das mit Ihrem Glauben zu tun? Warum leben Sie diese Gastfreundschaft? Sehen Sie in den Menschen, die zu Ihnen kommen, Jesus auf der Straße, der zu Ihnen kommt?

So direkt auf den Einzelnen bezogen, ist das ja eine Überforderung. Aber im Kern, von der Ideologie her, ist es richtig. Und dazwischen liegt das, was so der Alltag ist. Für mich ist es selbstverständliche Gastfreundschaft. Ich kann gar nicht verstehen, wie man Mensch sein kann, ohne Gastfreundschaft. Ich bin doch auf so viele Menschen angewiesen und ich wäre gar nicht am leben, wenn nicht diese Gastfreundschaft meiner Eltern da wäre, mich zu haben, anzunehmen und mich aufzuziehen. Und das ist ja etwas, was ich geschenkt bekommen habe, und in diesem Geschenk lebe ich auch weiter.

Suchen die Menschen, die zu Ihnen in diese offene Wohngemeinschaft kommen, bei Ihnen so etwas wie professionelle Hilfe? Oder was können Sie geben in dieser Notsituation?

Professionelle Hilfe kann ich überhaupt keine geben. Das geht nicht. Ein Familienvater kann nicht seine Frau operieren, nicht professionell. Oder sie kann nicht Sozialarbeiterin für ihren Mann sein. Ich denke, diese mehr in diese Liebe führenden Beziehungen verlangen, dass man Distanz hat zur professionellen Hilfe. Und deshalb ist auch Jesus kein professioneller Helfer gewesen. Er hat kein Krankenhaus gebaut und keine Sozialstation eingerichtet. Also die Botschaft ist: das Zentrum unserer Beziehung ist Liebe, und die kann durch professionelle Hilfe nicht ausgedrückt werden. Sie ist sicher sehr nötig und als Freund kann ich jemanden zum Arzt begleiten, aber das ist nicht das Zentrale der Beziehung.

Es gibt auch Menschen, die in sehr heiklen Verhältnissen leben müssen. Ich spreche die Frage der Illegalen an, also Menschen, die ohne Papiere leben und die einfach zu Ihnen kommen.

Die Frage der Illegalität ist natürlich eine spannende Frage, weil ich gar nicht sehe, wie ein Christ nicht illegal werden kann. Das ist die ganz große Frage in der Kirchengeschichte- Als die Kirche mit dem Staat in Kooperation ging, damals mit dem Kaiser um 300, da sind Menschen in die Wüste gegangen, weil sie sagten, das ist nicht mehr Kirche, nicht mehr das ganz klare Stehen auf der Seite der Ausgegrenzten in der Gesellschaft. Und in dieser Tradition der Glaubenssuche, da stehen wir doch alle.

Sie haben auch Schlagzeilen gemacht. Seit 1995 halten Sie die Mahn- und Gebetswachen vor der Abschiebehaftanstalt Berlin-Köpenick.

Das hat schon viel früher angefangen. Das Gefängnis ist ja auch ein Spiegel der Gesellschaft. Es ist nicht umsonst, dass die jungen Christen fast alle im Gefängnis gelandet sind, weil sie gestört haben. Ich habe auch die RAF-Gefangenen besucht und mich damit auseinandergesetzt. Weil es wichtig ist, die Leute nicht abzugrenzen, denn unsere Gesellschaft ist ja eine Ausgrenzungsgesellschaft. Sie schneiden immer wieder Menschen weg und denken, die wären nicht so wichtig. Und an diesem Tun will ich mich nicht beteiligen. Ich sehe auch Menschen, die ohne eine Schuld, ohne kriminelle Handlungen im Gefängnis sitzen. In den Abschiebegefängnissen. Die gehören zur Gesellschaft dazu, und wer glaubt, nur durch Abschneiden weiterzukommen, dem kann ich überhaupt nicht zustimmen.

Indem Sie sich Entwurzelten, Heimatlosen zuwenden, ihnen in ihrer WG eine offene Tür bieten, leben Sie ja selbst einen sehr ausgesetzten Glauben. Sie selber haben gesagt, Glaube kann einen aber auch entwurzeln und das wäre möglicherweise die dem Evangelium oder Jesus gemäßere Haltung.

Wir verwurzeln uns ja so leicht in den Dingen, die wir gelernt haben und wo wir einen Nutzen haben. Und es passiert auf jeden Fall eine Entwurzelung, wenn ich anfange zu glauben. Franziskus hat sich vor seinem Vater ausgezogen und alles hingeschmissen und gesagt, darauf will ich nicht mehr bauen. Auch der Weg Jesu in der Versuchungsgeschichte fängt an mit einem nein. Und das ist Entwurzelung, aus dem auszusteigen, was so lieb und teuer ist. Aber das ist der Prozess durch ein Nein zu dem Ja zu kommen, das viel tiefer liegt in mir. Zu dem Leben ja zu sagen. Darin sich zu verwurzeln. Insofern ist das Bild des Entwurzelns nur die eine Seite. Es geht auch wieder darum, dieses Ja zu sagen. Und auch davon werde ich mich vielleicht, wenn ich älter werde, noch mal trennen müssen. Das ist ja ein Prozess, in dem wir leben. Wir leben als Jugendliche oder junge Erwachsene, dann vielleicht als Vierzigjährige oder Sechzigjährige immer noch mal in einer neuen Herausforderung, ob wir uns dem Leben anvertrauen oder im Liebgewordenen stecken bleiben.

Christian Herwartz (geb. 1943) ist Jesuit und lebt seit 35 Jahren in einer offenen Wohngemeinschaft in Berlin. Er war jahrzehntelang Arbeiterpriester und hat die so genannten Exerzitien auf der Straße entwickelt. Mehr dazu in seinem Buch „Brennende Gegenwart – Exerzitien auf der Straße“, Echter 2011

Dieses Interview wurde zuerst auf „Nackte Sohlen“ veröffentlicht.

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