ADVENT. Auf allen Vieren Richtung Weihnachten

Make Love Great Again

von Marcus Rasche

Die vier Adventssonntage des Lukasjahres ließen sich als eine Blaupause des Projektes lesen, die Welt radikal zu erneuern: (1) Das Alte muss vergehen! (2) Es wird vom Rande und vom Kleinsten her unterwandert! (3) Dafür braucht es die ungeteilte, radikale Hingabe für das Neue! (4) Und dieses Neue beginnt im Hier und Jetzt.

(1) Die Bewegung, die Jesus aus Nazareth ins Leben rief, entstand in aufgeheizter Atmosphäre. Um im Angesicht eines ausbeuterischen, übermächtigen Imperiums (Rom) und seiner regionalen Helfeshelfer (die Herodesse) zu überleben, sich irgendwie zu behaupten, gab es verschiedene Strategien: Kollaboration (Sadduzäer und ihre Hohepriester), innere Immigration (Pharisäer), bewaffneter Widerstand (Zeloten, Sikarier), Auswanderung (Essener). Aber für viele Menschen wurde auch dies immer klarer: Gott werde das unselige Treiben und die vielen Sünden dieser Welt nicht länger mit ansehen. Weil diese Welt grausam ist und verdorben, unrettbar verloren: deshalb wird Gott ihr ein radikales, furchtbare Ende bereiten. Dann wird er eine neue Welt schaffen, ein neues Zeitalter. Dahinein gelangen aus der alten Welt nur sehr wenige: ein Rinnsal, ein kleiner, heiliger Rest, die wenigen Aufrechten, die ausgeharrt haben. Man nennt diese Weltanschauung „Apokalyptik“ (gr. apokalypsis:  Enthüllung, Offenbarung), weil dieses geheime „Wissen vom Ende der Welt“ nun, am Ende der Welt, den Auserwählten offenbar werden sollte.

Und die Jesusbewegung? Versuchte etwas ganz Anderes, etwas ganz Neues! Keine Flucht, weder nach Innen noch nach Außen, keine Kollaboration, kein gewaltsamer Widerstand. Sondern: Die Welt mit dem einzigen Sauerteig zu durchdringen, der echte Veränderung bringt: die Liebe! Tatkräftig und voller Leidenschaft! Apokalyptisch waren Jeus und die seinen also nicht: denn sie liebten diese Welt! Und feierten sie ausgiebig! Auch für sie war zwar klar, dass es „so“ nicht weitergeht; und dass das „Alte“ verschwinden und „Neues“ kommen muss. Nicht aber die Welt muss vergehen – sondern der „kosmos“, d.i. die Welt i.S. einer von Menschen gemachten, kranken, pervertierten Wirklichkeit, mit ihren Logiken der Macht, des Mammons, der Spaltung, des Krieges. Hier allerdings bedient sich auch die Jesusbewegung ausgesprochen apokalyptischer Motivik: Das Evangelium vom Ersten Advent schöpft da sozusagen aus dem Vollen, wenn es von erschreckenden „Zeichen an Sonne, Mond und Sternen“ spricht, vom „Toben und Donnern des Meeres“, der „Erschütterung der Kräfte des Himmels“, welche die Menschen „bestürzen“, „ratlos machen“, „vor Angst vergehen“ lassen. Das alte Denken muss mit Pauken und Trompeten untergehen! „Wendet euren Geist“, „denkt um“, ist Jesu erste Forderung an uns (Mk1).

(2)          Nicht Jesus also, wohl aber Jesu größtes Vorbild und enger Freund Johannes: den kann man getrost als in der Tradition der Apokalyptik stehend bezeichnen. Aber was hat Jesus dann so sehr an Johannes gefesselt? Das Evangelium vom Zweiten Advent gibt Hinweise. Es zeigt die typisch lukanische Vorliebe für die historische Kontextuierung seiner Erzählungen – und hier, in der Erzählung vom Täufer, greift Lukas wirklich sehr weit aus: „Es war im 15. Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius, Pontius Pilatus war Statthalter von Judäa, Herodes Tetrarch von Galiläa“ usw.; „Hohepriester waren Hannas und Kajaphas…“ Diese großartige Einleitung der Täufererzählung ist allerdings nicht bloße chronikalische Information für ein historisch interessiertes Publikum – das wäre ein naives Verständnis des Textes; was sich uns sofort offenbart, wenn wir genau hinsehen, wen Lukas da aufzählt: Die Genannten sind samt und sonders ausgemachte Feinde des Johannes und der Jesusbewegung, sie begegnen uns im weiteren Verlauf des LkEv als die, welche Johannes und Jesus verfolgen, zu Fall bringen und ermorden werden – Exponenten, Kollaborateure, Liebchen des grausamen, finsteren Imperiums. Genau dies aber ist der Rahmen, innerhalb dessen nun eine ganz neue Geschichte anhebt, die das ewig-gleiche Narrativ aufbricht, es sprengt und alt aussehen lässt: dass es immer schon Herrscher und Beherrschte gegeben hat, dass die Mächtigen ihre Völker ausbeuten, dass es nun einmal keine Gerechtigkeit auf Erden gibt, dass es eben Arm und Reich immer schon gegeben habe usw., usw. Johannes setzt am Zweiten Adventssonntag seine sozialethischen Vorstellungen dagegen. Und Lk zeigt im weiteren Verlauf seiner „Frohen Botschaft“ und später, in der Apostelgeschichte ganz konkret auf, dass und wie es in der Jesusbewegung auch ganz anders, nämlich liebevoll und gerecht, zugehen kann (Apg. 2 und 4).

Aber hier, am Zweiten Adventssonntag, zeigt er eben vor allem, dass dieses „Andere“, dieses „Neue“, die Gegenerzählung – eine echte Gegenwirklichkeit – aus kleinsten Anfängen entsteht, an einem unbedeutenden Flusslauf in der Ödnis einer nicht allzu wichtigen Provinz, ganz am Rande des riesigen Imperiums: Von dort aus soll die Welt verändert werden! Der Kontrast könnte größer nicht sein: Hier der purpurgekleidete „erhabene Caesar“ Tiberius in seinen prächtigen Palästen, dort der in einem Kamelhaarkleid gewandete Johannes, der an einen unbekannten jungen Mann aus der galiläischen Provinz am Rande der Welt einen eigentümlichen Ritus vollzieht… Verstehen wird dies nur, wer dem Gleichnis vom Senfkorn wirklich vertraut! Mut schöpfen wird daraus nur, wer überzeugt ist von der Wirkung des Sauerteigs: wer erfüllt ist von dem Glauben an die göttliche Schöpferkraft, die Liebe, die alles durchdringt, alles im Dasein hält und aus kleinsten Anfängen die Welt verwandeln kann! Wagemutig – aber durchaus nicht einzigartig: Denn ob abgelegene Ödnis im Niemandsland (Mose), ob verlassene Grabkammer (Antonios der Ägypter), die Ruine von St. Damiano (Franziskus), die Höhle bei Manresa (Ignatius), das winzige Dorf Taizé (Frère Roger): aus fernsten Gegenden und aus unbedeutendsten Stätten heraus kann Großes entstehen.

(3)          Das Evangelium des Dritten Adventssonntags weist auf die Bedingung hin, unter der allein dieser Wagemut Frucht bringen wird. Im letzten Abschnitt vollzieht Johannes eine scharfe Trennung von Spreu und Weizen, die im Feuer verbrannt bzw. als Ernte eingefahren werden. Dieses Schwarz-Weiß-Denken missfällt heute so manchem: unfein, undifferenziert. Aber wo es ans Eingemachte geht, um Grundsätzliches, da ist alles, was nicht heiß oder kalt ist, sondern lau, völlig unangebracht (Offb 3). Wo es um Leben und Tod geht, um Freiheit oder Unterdrükkung, um reich und arm, satt und hungrig, wo es um den Menschen und seine Würde, seine Freiheit, seine Gleichheit geht: Da gibt es keine Kompromisse! Jesus ist klar, dass seine Botschaft von einer anderen Welt ganze Familien entzweit (Mt 10), wie sie auch seine Familie entzweit hat (Mk 3), und wer nicht für ihn ist, ist gegen ihn (Mt 12): Wo es um das Eigentliche geht, gibt es kein lau; die Lauen enden im Nirgendwo; denn, folgen wir Dante: „Der Himmel will sich nicht mit ihnen schänden – und auch die tiefe Hölle schließt sich ihnen“; weil die, „die nie lebendig waren“ Gott und seinen Feinden ein Greuel sind.

Von daher erklärt sich auch jene eigentümliche Vorliebe Jesu für „unmoralische Helden“, wie uns einige seiner Gleichnisse lehren. Und er hätte mit Sicherheit, wie den schlitzohrigen Verwalter (Lk 16), den gottlosen Richter (Lk 18), den listigen Finder (Mt 13) und manche mehr, so auch einen frauenverachtenden, xenophoben, selbstverliebten, volksverhetzenden und lügenhaften Straftäter, der Präsident werden möchte anstelle des Präsidenten, uns als Vorbild vor Augen gehalten, wie er, schon blutüberströmt, noch die Faust reckt zu einem unbeugsamen „fight, fight, fight!“ oder, um die Niederlage abzuwenden, das Kapitol stürmen lässt: Nicht, was solche Männer wollen, bewundert Jesus; sondern ihre ungeteilte, radikale, restlose Hingabe an die Sache (die bei ihnen allerdings in der Regel nur „Ich“ heißt). Warum? Weil er sich eine solche Leidenschaftliche auch für die wünscht, die die Welt zu einem besseren Ort machen wollen und sollen! Mit letzter Rücksichtslosigkeit! Denn die einzige verzeihliche Rücksichtslosigkeit ist die der Liebe! Wer ist dazu bereit? Sind wir es nicht, so überlassen wir die Welt ihren leidenschaftlichen Zerstörern! Aber vielleicht schämen wir uns eher für eine solche Radikalität?

Jesus aber (Lk 12): „Ich bin gekommen, um auf der Erde ein Feuer anzuzünden; ich wünschte, es würde schon brennen!“ Diese Leidenschaft beinhaltet einen weiteren, für uns Heutige oft ebenso befremdlichen Aspekt: Dass das Neue hier und heute beginnen kann. Wir Christ:innen sahen hingegen jahrhundertlang diese Welt lediglich als das zu durchschreitende Jammertal an, bevor wir, dann erst und nur bei guter Führung, in einen fernen „Himmel“ kämen. Jesus glaubt zwar mit einigen seiner jüdischen Zeitgenossen (so die Pharisäer) an ein Leben nach dem Tod; aber für ihn beginnt der „Himmel“ schon hier auf Erden! Die neue Welt Gottes, sein Reich – das Reich der Liebe, weil Gott selbst ja die Liebe ist –, beginnt „mitten unter euch“ (Lk 17), das Reich ist schon „angekommen“ (Mk 1), ist schon zu euch gekommen (Mt 12). Denn die Welt ist und bleibt: Gottes gute Schöpfung; deshalb haben wir die Aufgabe, vom Urbeginn an (Gen 1-2!), sie wieder zu einem Ort zu machen, an dem alle, Menschen, Tiere, Pflanzen, gut leben und gerne leben können. Das Feuer der Liebe, von dem Jesus so sehr wünscht, dass es hier brennen soll, bewirkt, worauf die Liebe zielt: die Metamorphose dieser Welt.

(4)          Der Vierte Adventssonntag bietet eine intime, rührende Szene: Maria und Elisabeth begegnen sich. Es ist wohl die große Freude, die Johannes im Bauch seiner Mutter hüpfen lässt: Freude darüber nämlich, dass da, im Bauch der Maria, jemand im Gleichklang mit dem künftigen Täufer ist; Freude darüber, dass die beiden versuchen werden, hier und jetzt, die Welt aus den Angeln zu heben. Theologisch ist es aber auch die Begegnung zweier unterschiedlicher Auffassungen, welche jedoch in entscheidenden Punkten übereinkommen. Die Szene ist wie eine Bestätigung dessen, was die ersten Drei Sonntage gefrohbotschaftet haben: Das Dringlich-Drängende des Täufers, sein Insistieren darauf, hier und jetzt umzukehren, das Nahe des Neuen und das Radikal-Entschiedene, das nötig ist, um sich vom Neuen ergreifen zu lassen: Das ist, was die Jesusbewegung mit der Täuferbewegung gemein hat, was Jesus von Johannes übernommen und verinnerlicht hat. Und dies verbindet sich nun mit der tiefen Liebe zu Gottes Schöpfung und zu den Menschen, was v.a. die Jesusbewegung kennzeichnet: mit dem tiefen Vertrauen darauf, dass Gottes Schöpfung wirklich eine gute Schöpfung ist und bleiben wird. Und dass wir den Auftrag haben, sie wieder zu verwandeln in eine gute Welt für alle. Dass Gott selbst dieses Tun dann vollenden werde – das steht für Jesus sicher außer Frage. Aber für ihn steht nicht im Mittelpunkt, dass irgendwann einmal ein „Himmel“ anbrechen wird für uns, sondern dass der Himmel der Liebe, eben weil wir alle und die Welt ja ohnehin und allein aus Liebe geboren sind, selbstverständlich schon hier und jetzt anbrechen kann, soll und muss.

Die Frage die sich aus den vier Adventssonntagen ergibt, ist daher sehr einfach: Sind wir bereit für den Kampf? Denn ein Kampf ist es: Wir müssten den Mut aufbringen, wirklich hinzusehen: dass es so, wie es läuft, nicht weitergehen kann – gegen unsere Versuche, uns in einer unheilvollen Wirklichkeit gemütlich einzurichten. Wir müssten den Wagemut aufbringen, vom Kleinsten, scheinbar Aussichtslosen aus, diesen Kampf aufzunehmen für ein befreites Hier und Jetzt, – entgegen unserer üblichen Einschätzung dessen, was „man“ für „realistisch“ halten kann. Wir müssten möglicherweise auch die Scham überwinden, uns ungeteilt und radikal einer Sache zu verschreiben – entgegen unserer bürgerlichen Attitüde der Ausgewogenheit in allen Urteilen. Wir müssten also, zusammengefasst, das Vertrauen aufbringen, dass die Welt Gottes gute Schöpfung ist, die es schon hier, schon jetzt ermöglicht, sie zu feiern mit einem guten Leben – Hoffnung gegen alle Hoffnung.

Das alles ist natürlich in erster Linie ein Kampf mit uns selbst, oft ein Kriechen auf allen Vieren. Wir sollten ihn gewinnen! Wir werden ihn aber nicht allein gewinnen können, sondern nur miteinander: indem wir uns gegenseitig stärken, verbinden, vernetzen, Mut zusprechen, Hoffnung machen. Wie sonst sollte Gott heute Mensch werden mitten unter uns? Wenn wir wenigstens versuchen, den Kampf aufzunehmen: Dann wird Gott in uns selbst ankommen! Dann werden wir selbst neu geboren – und feiern nicht nur die Geburt des Christkindes in der Krippe (in der Heilige Nacht), nicht nur die Inkarnation des Logos in Jesus, dem Christus (am Weihnachtstag): sondern dann kann Gott auch in uns selbst Menschen werden. Was wäre das für ein Weihnachten: „Wir feiern die Geburt unseres Herrn Jesus Christus in unserm armen Fleisch…“.

Der erste Tag der Natur-Exerzitien in Barhöft/Vorpommern

Vom 17.-21.10.2025 fanden zum ersten Mal Naturexerzitien, inspiriert durch Straßenexerzitien, im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft statt. Wolfgang Palm schreibt von einem Exerzitientag.

von Wolfgang Palm

6.30 h Aufbruch mit der Gruppe zum Aussichtspunkt. Freude und Beheimatung beim Gehen in der Dunkelheit und bald Dämmerung, Schweigen als guter Rahmen. Hermann Hesses Gedicht: „Seltsam, im Nebel zu wandern …“ traf meine Stimmung in der noch weitgehend unbekannten Gruppe und Landschaft. 

Erfahrung an der Beobachtungsstelle: eher schwierig, Vögel nur mit (großem) Abstand zu hören und zu beobachten. Kindheitserfahrungen dazu belastend. 

Nach dem gemeinsamen Frühstück Austausch des Erlebten in Gruppen. Ein erstes Kennerlernen, Abtasten und Mitteilen. Thema unter anderem: „Raum geben für das Unverfügbare dieser Exerzitientage“. Vertiefte Einsichten in meine aktuelle Befindlichkeit – Sehnsucht nach Alleinsein u n d Dazugehören – und Sehnsucht bereichernd und mit dem Impulsthema des Vorabends eine „Wegzehrung“ für die Zeit allein bis zum Abendessen.

Der erste Tag allein in der Natur um Barhöft sehr entschleunigend und entspannend. Impulse vom Vorabend und dem Gruppenaustausch immer wieder im Bewusstsein beim Gehen und Sitzen in der Natur. So fand ich vermehrt Abstand zu den „Anreisemitbringsel“ der vergangenen Wochen und Monate, die mich bewegten und in Anspruch nahmen. Die Gegenwart und das Neuland nahmen endlich wieder einen dominanteren Raum ein. Höhepunkt: zwischen zwei großen Feldern fand ich eine kleine Kornblume – „meine blaue Blume“ – für die Zeit dieser Exerzitien und danach. Eingebettet in ein größeres Ganzes: in der Natur der Boddenküste und auf unserem blauen Planeten. 

Am Abend ein gutes und verbindendes Treffen in der Gesamtgruppe mit drei Teilen zur persönlichen Klärung, um über die eigenen Absichten dieser Exerzitien Klarheit zu gewinnen:

  • aus einer Reihe von Bildkarten von Caspar David Friedrich wählte ich „Frau und Mann in Betrachtung des Mondes“ (um 1824) mit der Frage: „Wo findest du Trost?“ – Austausch über die Wahl der Karte als Vorstellungsrunde.
  • Lesung aus dem Buch Könige, Elia in der Wüste/Höhle: „Was willst du hier?“
  • gemeinsames Lied: „Da wohnt ein Sehnen tief in mir, o GOTT ….“

Von den „Straßenexerzitien“ zu den „Großstadtmeditationen“

Straßenexerzitien sind als neue Form der ignatianischen Exerzitien entstanden…und inzwischen ist es so weit, dass auch diese neue Form weiter verändert und verwandelt wird…und dass sie das auch aushält! Der folgende Artikel von Lutz Müller SJ macht eine solche „Metamorphose“ nachvollziehbar.

In letzter Zeit sind neue Formate in den Straßenexerzitien aufgetaucht. Da kommt beispielsweise Misereor Aachen auf uns Begleitende von Straßenexerzitien zu und fragt, ob wir wohl einen Besinnungstag für ihre Mitarbeitenden gestalten könnten. Ein ausgedehnter geistlicher Impuls für einen Besinnungstag im Advent. Eine Art Schnuppertag, wie er schon von Katholikentagen, Kirchentagen u.ä. bekannt ist. Der dauert sechs Stunden und ist offen für alle Eingeladenen. Bei den Eingeladenen geht es um die Angestellten von Misereor. Sie werden quasi vom Arbeitgeber angemeldet. Da stellt sich sofort die Frage: Geht das überhaupt? Exerzitien auf Anweisung? Straßenexerzitien unfreiwillig??

So ein Tag strukturiert sich in mehrere Phasen: Ankommen, Aussenden, Einsammeln, Gottesdienst.

  • Ankommen: Begrüßung, Erklärung der Exerzitien auf der Straße, Einführung spirituell, biblisch, methodisch;
  • Aussendung auf die Straße, Zeit auf der Straße;
  • Rückkehr zum Ausgangspunkt, Einteilen in Gruppen, Teilen der gemachten Erfahrungen; jeweils ein/e Begleiter/in für etwa 10 Teilnehmende;
  • Eucharistiefeier zum Abschluss für alle.

Jede dieser vier Phasen hatte eine eigene Teilnehmendenzahl, d.h. die Zahl war in jeder Phase verschieden groß. Alle hatten die Freiheit, jeweils am Besinnungstag mitzumachen oder aber – falls sie das so nicht wollten – in ihrem Büro zu arbeiten. Dabei war klar: die Teilnahme wurde erwartet, aber wie das genau aussah, entschied jede Person selbst. Das trug der Tatsache Rechnung, dass kein Arbeitgeber seine Angestellte zu einem Besinnungstag verpflichten kann. Auf diese Weise wurde die Freiheit gegeben, sich etwas aus dem „Programmangebot“ auszusuchen. Da taten die Menschen dann auch. Ganz viele (über 100) kamen zur Einführung und zum Gottesdienst. Auf die Zeit auf der Straße liessen sich weniger ein, ebenso auf die Austauschrunde.

Inhaltlich möchte ich nur erwähnen, dass eine Reihe der Teilnehmenden authentische Erfahrungen auf der Straße machten. Damit meine ich, dass sie Begegnungen und Gefühle, Wahrnehmungen und Verhaltensweisen erlebten, wie ich sie normalerweise selbst bei Straßenexerzitien kenne.

Formal bestand die Austauschrunde aus einem Teilen über 60 Minuten, angeleitet von einem oder zwei Begleiter:in. D.h. das ergab sehr wenig Zeit pro Teilnehmenden, es haben auch einige nichts gesagt, was anders auch nicht gegangen wäre.

Beim Abschluß des Tages im Gottesdienst war eine rege Beteiligung vorhanden.

Formate dieser Art mehren sich. Eine Institution erkennt, dass Straßenexerzitien eine positive Erfahrung sein könnte für die eigenen Mitarbeitenden. Jedenfalls hält sie diese „Aktivität“ für eine Bereicherung und sucht sie daher aus. Sie „schickt“ ihre Leute dahin. Damit gilt: Die Teilnehmenden sind nicht richtig freiwillig da, sondern eben mit Einschränkung. Im Fall von Misereor bestand eine Wahlfreiheit. Das machte das Projekt frei: Wer sich nicht oder nur teilweise auf das Abenteuer einlassen konnte oder wollte, hatte sein Büro als Alternative.

Es gibt inzwischen auch andere Stile. Die Organisation der Malteser hat mehrere Curricula der Fortbildung. Eine Art davon – dasjenige für vermutete, potentielle Führungskräfte – ist eine Reihe mit vier Modulen, zu je drei Tagen, wobei ein Modul „Spiritualität“ heißt. Die Fortbildungsabteilung suchte sich dafür die Exerzitien auf der Straße aus. Eingeteilt in Regionalgruppen mit je etwa 10 Teilnehmenden durchläuft dasselbe Team alle vier Module, so eben auch das Modul „Spiritualität“. Damit sind wichtige Parameter verändert, es sind nicht mehr Straßenexerzitien im üblichen Sinn. Die sind die hauptsächlichen Unterschiede:

  1. Es gibt keine offizielle Alternative zum Programm. Die Teilnehmenden sind mit der Gruppe vor Ort zur Fortbildung. Das Büro in der Herkunftsstadt ist weit weg. Die Teilnahme ist nicht richtig freiwillig, sondern wird wirklich erwartet.
  2. Die Unterbringung erfolgt in einfachen Hotels, die die Fortbildungsabteilung bucht. Es gibt keine Verbindung zu irgendeiner Kirchengemeinde.
  3. Die Gruppe kennt sich; wenn nicht schon aus der alltäglichen Arbeit, dann immer aus den (meist) zwei vorherigen Modulen.
  4. Gerade weil sich die Leute von vorher kennen und sie sich auch nach dem Kurs wieder treffen werden (zum vierten Modul und meist auch im folgenden Arbeitsalltag) besteht ein großes Bedürfnis zum geselligen Treff abends.
  5. Das Innenleben der Firma ist als unsichtbarer, aber spürbarer Gast mit dabei: interne Hierarchien, persönliche Sympathien, geteilte Vorlieben, gemeinsame Feindbilder, Atmosphäre von Fortbildungen, die Philosophie des Unternehmens usw.
  6. Der Trainer aus der Fortbildungsabteilung ist dabei. Er leitet die Veranstaltung und liefert Inhalte (dazu gleich mehr), macht aber nicht als Begleiter der Austauschrunden mit.
  7. Niemand kennt in diesen Kontexten „geistliche Begleiter:innen“. Die Menschen sind vertraut mit Trainer:innen, Supervisor:innen, Moderator:innen, Referent:innen, Anleiter:innen, Expert:innen usw. Geistliche Begleitung ist völlig neu.
  8. Kaum jemand kennt Exerzitien aus eigener Erfahrung, dementsprechend ist die Vertrautheit mit religiöser oder spiritueller Sprache sehr unterschiedlich.

Das Setting ist so verschieden, dass wir den Titel änderten. Die Straßenexerzitien in diesem Format heißen hier Großstadtmeditation. Die Namensänderung ist nicht nur formell, sondern wirkt sich inhaltlich aus. Die Vorgehensweise ist nämlich verschieden:

  1. Es gibt eine Reflexion über den Wertekatalog der Malteser.
  2. Es gibt eine Einführung in unterschiedliche Dimensionen von Glauben: Existenzglaube, Transzendenzglaube, Konfessionsglaube. Das sind drei grundlegende Formen des Zugehens auf die Wirklichkeit, das sich im Vertrauen auf Natur, Schöpfung, Universum, oder im Glauben an ein höheres Wesen, oder in der Identifikation mit einer religiösen Konfession und ihren Traditionen zeigt.
  3. Es gibt eine Sensibilisierung mit Aufmerksamkeits- und Atemübungen.
  4. Gottesdienstformen sind Meditation, Wortgottesdienst und Eucharistiefeier.
  5. Es ist ausführlich Raum für Stellungnahmen zu Glaubensformen, Gottesbildern und Kirche; und für die Meta-Ebene des Kurses (Umstände, Organisatoren, Rollen usw).

Das sind alles Punkte, die in normalen STREX so gebündelt nicht vorkommen. Entsprechend werden die Großstadtmeditationen mit Methoden der Erwachsenenbildung ergänzt, weil es nicht sofort auf die Straße geht, sondern eine Art Anwärmphase braucht, damit sich möglichst viele auf den Prozess einlassen. Am Anfang des Prozesses steht das gewinnende Einladen der Anwesenden – etwas, das bei normalen STREX vorausgesetzt werden kann. Wenn ich solche Exerzitien begleiten will, muss ich derlei Ambivalenzen aushalten.

Die Großstadtmeditationen sind aus den STREX erwachsen. Sie sind nicht mehr die ursprüngliche Form. Eine Stärke der ignatianischen Exerzitien ist ihre Fähigkeit, an verschiedene Umstände angepasst werden zu können. Ignatius von Loyola, der Begründer von Exerzitien, schreibt: „Diese Übungen müssen je nach der Eignung derjenigen angewandt werden, die geistliche Übungen nehmen wollen.“ (Geistliche Übungen 18a) Die Großstadtmeditationen sind für mich ein Beispiel dafür.

Heilsames Vermissen?

Auferstandener Christus (Bs. Aires) Foto: J. Haas

von Jutta Maier*

Ja, ich vermisse es sehr: das „Exsultet“ der Osternacht und das gemeinsam geschmetterte „Halleluja“, die Freude am Licht der großen Osterkerze und auch das Osterfrühstück bei meinem Bruder. Trotzdem bin ich dankbar, dass ich mich gerade in diesem „Vermissen“ mit vielen Glaubenden österlich verbunden fühlen darf. Dabei ist mir klar, dass es ein „Vermissen“ in diesen Wochen gibt, das für viele Mitmenschen ganz andere, große, schmerzhafte und dauerhaft einschneidende Auswirkungen auf ihr Leben und ihre Beziehungen hat.

Darum glaube ich, dass der AUFERSTANDENE, wie Papst Franziskus meint, längst von innen an den Türen unserer Kirchen und unserer Denkgebäude gerüttelt hat und sie mit seiner gewaltigen Liebesenergie aufsprengt. ER bewegt sich frei in Raum und Zeit, um sich –unerkannt- auf den Straßen und in den (Kranken)-Häusern, Pflegeheimen und an den Arbeitsplätzen zu den Menschen zu gesellen.

So möchte ich es zulassen, dass durch das Vermissen der gewohnten, festlichen Gottesdienste und Bräuche auch meine vielleicht zu eng gefassten, liturgisch genormten Vorstellungen von Gott und seinem Gnaden-Wirken aufgesprengt werden. Ich möchte mich selber von innen her aufmachen und ihn neu suchen, den österlichen Christus. Lest in den Evangelien nach: Er ist als AUFERSTANDENER nicht im Tempel erschienen. Aber er wurde auf dem Friedhof, auf dem Heimweg ins Dorf, von Freunden in ihrer ‚Quarantäne‘ und bei der Arbeit am See gesichtet.

Ich wünsche uns allen ein NEUES HERZ, das sich auf einen lebendigen und überraschend anderen Christus einstellt. Ich wünsche uns OSTERAUGEN, die ihn erkennen, weil er seine und unsere Wunden trägt und weil von ihm ein Friede ausgeht, der Mut zum Leben macht.

Die erste Strophe eines Osterliedes der Dichterin Silja Walter geht mir nicht aus dem Sinn:

Größer als alle Bedrängnis ist deine Treue, Herr.

Du sprengtest unser Gefängnis, du bringst uns das Neue, Herr.

Dein Leben will singen aus Tod und Misslingen.

Halleluja, lobet Gott!

*Jutta Maier ist als Gemeindereferentin im Bistum Augsburg tätig und im Raum Mindelheim mit dem Projekt „Kirche am Weg“ unterwegs mit einem Schälferwagen (der wegen Corona gerade ruht) www.bistum-augsburg.de/kircheamweg

Franziska Passek: Exerzitienbericht Köln 2003

Franziska Passek: Exerzitienbericht 19. Juli 2003 (Quelle)

Von verschiedenen Seiten wurde ich gebeten, etwas über meine letzten Exerzitien zu Papier zu bringen.

Im Herbst 2002 las ich einen Artikel mit der Überschrift „Exerzitien auf der Strasse“. Es wurde gleich zu Anfang erklärt, dass im vergangenen Sommer zwölf Frauen und Männer der unterschiedlichsten Berufe, Lebensformen und Alters zehn Tage Exerzitien in Köln gemacht hatten. „Franziska Passek: Exerzitienbericht Köln 2003“ weiterlesen

Goldene Brüche

Kintsugi, von Pomax auf flickr (CC BY-NC-ND 2.0)

Kintsugi (jap. 金継ぎ, dt. „Goldverbindung, -flicken“) oder seltener Kintsukuroi (金繕い, „Goldreparatur“)[1] ist eine japanische Reparaturmethode für Keramik. Wenn ein wertvolles Stück zerbricht, werden die Bruchstücke nicht weggeworfen. Stattdessen werden mit einer Kittmasse geklebt, in die feinstes Pulvergold eingestreut wird. Am Ende entsteht ein einmaliges Einzelstück, das oftmals schöner ist als je zuvor.

„Jede wiederhergestellte Schale zeigt: Ich bin gebrochen, an verschiedenen Stellen. Ich habe vieles überstanden. Es hat Mühe und Zeit gekostet, wieder ganz zu werden, wieder neu gefüllt werden zu können. Aber genau das macht mich einzigartig.“

Iris Macke

Solcherlei Heilung erfahren viele Menschen bei Straßenexerzitien. Unsere Brüche Schmerzen werden uns in der Begegnung mit anderen Menschen auf der Straße bewusst – und sie heilen mit dem Gold der Liebe Gottes, die uns geschenkt wird.

 

Du siehst mich: Straßenexerzitien auf dem Evangelischen Kirchentag

CC BY-NC-SA 2.0, hidden side on flickr

Veranstaltungen von und mit BegleiterInnen von Exerzitien auf der Straße

Nächste Woche ist Evangelischer Kirchentag in Berlin und Wittenberg. Der Leitspruch: „Du siehst mich.“ aus der Hagar-Geschichte (Gen 16). So nennt Hagar Gott als Gott sie ganz unerwartet in der Wüste anspricht. Unerwartet angesprochen oder berührt zu werden, ist eine Erfahrung, die viele Menschen bei Exerzitien auf der Straße machen.

Straßenexerzitien werden zwei mal als Kurzexerzitien angeboten.
Am Donnerstag, 25. Mai, und am Freitag, 26. Mai, jeweils 15-18 Uhr. Treffpunkt ist St. Ansgar, eine moderne Kirche aus den 50er Jahren im Hansaviertel, Berlin-Tiergarten (Stadtplanlink). Wie stets geht es um ein erstes Üben, Christus auf der Straße zu finden. Wer sich noch nicht mit Straßenexerzitien befasst hat, kann hier mehr dazu nachlesen.

Veranstaltungen mit Christian Herwartz SJ

Die Straßenexerzitien sind eng mit Christian Herwartz SJ verbunden.
Hier kann man ihn finden auf dem Kirchentag:

25.5.2017

  • 11:00 Uhr auf dem Messegelände am Stand „Wir sind Kirche“ beim Gespräch am Jakobsbrunnen – Vorgeschlagene Themen: Welttag der Armen oder Offen für die Begegnung mit dem Auferstandenen mitten unter uns?
  • 15:00-18:00 Uhr bei Exerzitien auf der Straße in Berlin (s.o.)
    Üben, Christus auf der Straße zu finden (Johannes 14,6) Startpunkt: St. Ansgar, Klopstockstr. 31, Tiergarten

26.5.2017

  • 11:00-13:00 Uhr „Liturgischer Tag Großstadt“
    Theologie, Spiritualität in der Stadt, Urbanistik, Liturgie in der Großstadt
    Liturgischer Tag Großstadt | Podium Rhythmen der Großstadt
    Von Babel bis zum himmlischen Jerusalem, Parochialkirche, Klosterstr. 67, Mitte
  • Christian Herwartz 11.15-25 Uhr Wo ist die Stadt heilig?
  • 15:00-18:00 Uhr Exerzitien auf der Straße in Berlin (s.o.)
    Üben, Christus auf der Straße zu finden (Johannes 14,6);
    Start: St. Ansgar, Klopstockstr. 31, Tiergarten (706 | D4)

27.5.2017

  • 10:00 Uhr Morgenimpuls zum Thema „Kirche auf der Straße – Erfahrungen mit Obdachlosen und Geflüchteten“ der Leserinitiative Publik-Forum in der katholischen Kirchengemeinde St. Augustinus, Dänenstr. 17/18, Prenzlauer Berg (Schönhauser Allee)

Veranstaltungen mit Klaus Mertes SJ

Klaus Mertes SJ ist ebenfalls Begleiter von Straßenexerztien. Ihn kann man auf folgender Veranstaltung treffen.

27.5.2017

15:00 Uhr, Ev. Kirchengemeinde Alt-Pankow, Breite Straße 38, 13187 Berlin. Buchvorstellung „Ökumene in Zeiten des Terrors“ – Briefwechsel – Gespräch mit den Autoren Antje Vollmer, Klaus Mertes
Moderation: Wolfgang Thierse anschließend Ökumenischer Gottesdienst

Veranstaltungen mit Harald Schröder

Ein weiterer Begleiter von Straßenexerzitien ist Harald Schröder.

Während des Evangelischen Kirchtages wird er von Donnerstag (25. Mai) bis Samstag (27. Mai) in Begleitung von Obdachlosen und Arbeitslosen aus Bremen im Café des „reformHAUS“ im Untergeschoss des Französischen Doms am Gendarmenmarkt beteiligt sein.