Auf den Spuren der „Mystikerin der Straße“ (II)

Plakat das an Madeleine Delbrêl erinnert, an einer Mauer in Ivry

Teil 2 des Reiseberichts von Dorothee Steiof auf den Spuren der Schriftstellerin Madeleine Delbrêl, der Mystikerin der Straße (zuerst veröffentlicht auf Feinschwarz.de)

Dazwischen sein – „sans étiquette“

Ich breche am ersten Morgen auf und lasse mich treiben. So entdecke ich zufällig eine etwas in die Jahre gekommen Kirche aus Beton in einer kleinen Gasse, die nach Madeleine Delbrêl benannt ist („ALLÉE Madeleine Delbrêl“). In dieser Gasse befindet sich das oben abgebildete Graffiti an einer Mauer. Die Mauer bildet die Grenze zum „Leninstadion“, einem Fußballplatz. Genau gegenüber steht ein ebenfalls nach Madeleine Delbrêl benanntes soziales Zentrum, auf das sie „schaut“. Heiligenikonografie à la banlieue – mit dem dreimaligen: „Ich liebe dich“! Es hätte wohl keinen besseren Platz geben können. Die Mystikerin der Straße befindet sich wie zu ihren Lebzeiten zwischen Kommunismus und Kirche, in der Mitte das soziale Handeln – hier geht ihr Blick hin.

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Auf den Spuren der „Mystikerin der Straße“ (I)

Plakat das an Madeleine Delbrêl erinnert, an einer Mauer in Ivry

Dorothee Steiof reist auf der Suche nach pastoraler Inspiration nach Frankreich. Daraus wird eine Begegnung von Präsenzpastoral und mit Madeleine Delbrêl in Ivry-sur-Seine. Auf der Webseite Feinschwarz.de berichtet sie in zwei Texten über diese Begegnungen und bringt diese auch in Verbindung mit ihren Erfahrungen auf der Straße und mit Straßenexerzitien. Teil 1:

Es ist ein schöner Sommertag und ich sitze im TGV in Richtung Paris. Ich habe in der Banlieue, genauer in Ivry-sur-Seine, dem Lebens- und Wirkort von Madeleine Delbrêl (1904-1964) für vier Tage ein kleines Hotel gebucht. In meiner Promotion zum Thema einer doxologischen Spiritualität hatte ich mich intensiv mit Madeleine Delbrêl beschäftigt und dabei auch eine Woche im „Maison de Madeleine Delbrêl“ in Ivry gewohnt und geforscht.[1] Nach der Promotion (2012) war dann erst einmal „Schluss“ mit unserer „Beziehung“ – ich brauchte eindeutig Abstand!

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Abendmahl mit Schokoriegel: Klaus Mertes über seine Erfahrung mit Straßenexerzitien

Schokoriegel WunderBar

Klaus Mertes ist Jesuit. Er wurde bundesweit bekannt, als er vor 10 Jahren als Rektor des Canisius-Kollegs in Berlin sexuellen Mißbrauch in der Institution bekannt machte. Heute ist er Rektor des Kollegs in St. Blasien.

In einem Interview mit dem ZEITmagazin erzählt er, wie er von Gegnern in der Kirche verleumdet wurde, und sich ausgegrenzt führlte. Er habe es beim Katholikentag nicht mehr über mich gebracht, zur großen Eucharistiefeier zu gehen.

ZEITmagazin: Was macht man als Kirchenmann, wenn einem das wichtigste Miteinander der Kirche, das Abendmahl, zuwider wird?

Mertes: Ich habe „Exerzitien auf der Straße“ gemacht, eine geistliche Übung, bei der man ohne Ziel rausgeht ins Freie: mittellos, planlos und offen für das, was einem begegnet. Um ein Mittagessen in der Obdachlosenküche zu bitten, das kostete echte Überwindung. Ich musste, biblisch gesprochen, meine Schuhe ausziehen: die Schuhe des Helfers, des Lehrers, der Überlegenheit und des Status. Und dann saß beim Essen ein Obdachloser neben mir, der sah, dass ich keinen Schokoriegel als Nachtisch habe. Er nahm seinen, brach ihn durch und gab mir die Hälfte. – Genau die Geste Jesu am Tisch mit den Jüngern. Und plötzlich hatte das Abendmahl wieder Sinn.

Klaus Mertes begleitet regelmäßig auch Exerzitien auf der Straße.

Unser Nein Leben

Tag_1 (Foto: Kathrin Happe)

Unter diesem Titel ist – nach einer Podiumsdiskussion „Kampf und Kontemplation“ auf dem Katholikentag in Leipzig 2016 – im Sommer 2016 ein Artikel in Publik Forum EXTRA „Taizé heute – das kleine Gleichnis für eine versöhnte Welt“ erschienen. – Mein Entwurf hatte den Titel „Im Konflikt zwischen Tätern und Opfern“

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Der eigenen Sehnsucht folgen

Im Herzen jedes Menschen liegt seine ganz eigene Sehnsucht. Sie zu entdecken ist in jedem Leben ein großer Schritt nach vorne. Niemand hat sich diese Sehnsucht selbst gemacht. Sie ist ein persönliches Geschenk, das unser Handeln von innen her bestimmt. Diese persönliche Sehnsucht können wir nicht durch Gedankenspiele ergründen, aber wollen uns doch von ihr leiten lassen. Kein Fremder kann sie mir wie ein Geheimwort zuflüstern. Besonders ist die Sehnsucht für gläubige Menschen die persönliche Richtungsweisung Gottes im Leben. Wie kann ich ihr auf die Spur kommen?

Gute Erfahrungen habe ich am Anfang von Exerzitien damit gemacht, nach dem Ärger der TeilnehmerInnen zu fragen oder, wenn jemand keinen Ärger kennt, darum zu bitten, auf die Auslöser ihrer Trauer zu schauen. In beiden Fällen sind sie von einer Situation betrübt, die ihrer Lebenssehnsucht widerspricht. So kann mit der Frage offen angesprochen werden: Wie sollte die Situation sein, mit der Sie zufrieden wären?

Auf die erste wie auf die zweite Frage kann jeweils ein Bündel Antworten kommen. Gute Zuhörer und Zuhörerinnen helfen nach zentralen Schlüsselwörtern zu suchen, mit denen der Ärger oder die Traurigkeit und dann die Sehnsucht ausgedrückt wurden. Die Begleiterinnen und Begleiter spüren sofort, wenn die Übenden bei den vorgeschlagenen Schlüsselwörtern innerliche Widerstände spüren. Im nächsten Schritt werden sie aufgefordert, die vorläufigen Aussagen mitzunehmen und auf ihre Stimmigkeit zu prüfen.

Die eigene Sehnsucht führt oft mehrere Aspekte zusammen. So können pauschale Aussagen vermieden werden und die Übenden können auch später an der Feinabstimmung arbeiten.

Auch im Exerzitienbuch nutzt der Ignatius einen ähnlichen Einstieg in die Übungen. Er formuliert ihn in einem einfachen Ge- bet, was nicht jedem Übenden heute sofort möglich ist. Doch er ist noch einen Schritt weiter gegangen, der auch für uns sinnvoll ist. Versuchen wir einmal von der gefundenen Sehnsucht her nach dem Namen des Gottes zu fragen, der oder die uns unsere Sehnsucht mit auf den Weg gab.

Hagar ist in der Bibel die erste Person, deren persönlichen Namen Gott ausspricht (Gen 16,8). Mitten im heftigen Ärger mit Sarei floh Hagar – verzweifelt und hochschwanger – in die für sie besonders lebensbedrohliche Wüste. Dort spricht sie Gott an: „Du, der Du nach mir schaust.“ Die Frau Abrahams hatte sich sehr abweisend ihr gegenüber verhalten, die den Kinderlosen einen Nachkommen schenken sollte. Mit diesem Namen Gottes und mit einer Verheißung konnte sie sogar wieder an ihren alten Platz zurückkehren und einen vitalen Sohn gebären, der der Vater des arabischen Volkes werden sollte.

Auch Mose lebt mit einer herausfordernden Sehnsucht. Er sucht sein Volk. Mose wurde als kleines Kind inmitten einer Vernichtungsaktion des Pharaos von einer von dessen Töchtern gerettet. Mit 40 Jahren fand er dieses Volk bei harter Fronarbeit, durch die es klein gehalten werden sollte. Vor Wut erschlug Mose einen der Peiniger. Ihm gelang die Flucht in die Steppe. Dort heiratete er und hütete das Vieh seines Schwiegervaters. Seinen Sohn nannte er Gerschom, Gast in der Fremde. Doch mit 80 Jahren machte er sich nochmals auf die Suche und ging über die Steppe hinaus (Ex 3) und bekam von Gott den atemberaubenden Auftrag, sein Volk aus der Knechtschaft zu befreien. Da fragte er ihn in seiner Not: „Wie heißt Du?“ Und er hörte: „Ich bin da und werde da sein. Das ist mein Name.“ Nun hatte er in ihm eine mitziehende Heimat gefunden.

Diese Heimat ist jedem Menschen mit dem eigenen persönlichen Namen verheißen, mit dem wir uns auf den Weg machen.

Eine junge Frau fand nach Ausgrenzungserfahrungen ihren Gottesnamen in den Straßenexerzitien: „Du, der (und später die) Du mich schön ansiehst.“ – Ich selber fand über meinen Wunsch nach Solidarität seinen Namen: „Du, der Du mit uns Menschen solidarisch bist“ – mitten in einer Gesellschaft, die so stark am Kapital orientiert und damit oft zutiefst unsolidarisch ist.

(zuerst erschienen in: Jesuiten 2016, 2)

Spiritualität in der Sozialen Arbeit und der Weg der Straßenexerzitien

Von Andrea Tafferner, Katholische Hochschule NRW, Münster

Für ein Buchprojekt wurde ich gebeten, ein Fallbeispiel aus der Sozialen Arbeit aus Sicht der Theologie zu kommentieren. Eine theologische Perspektive einzubringen heißt für mich auch, zu beschreiben, wie spirituelle Grundhaltungen in der Sozialen Arbeit einen selber verändern und dadurch auch die Beziehung zu den Menschen prägen, die aus unterschiedlichsten Gründen professionelle Unterstützungsleistungen erhalten. Ein Kernthema der Beziehungsgestaltung in professionellen Kontexten ist die Balance von Nähe und Distanz. Durch die Straßenexerzitien ist mir deutlich geworden, dass es „Schuhe der Distanz“ gibt, die eine offene Begegnung mit anderen Menschen beeinträchtigen. Oder noch viel mehr: die auch die Freude, die von innen kommt, hemmen können.

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