„Freude“: Marita Lersner und Klaus Mertes SJ im Gespräch über das neue Buch von Christian Herwartz und vielen Wegbegleiter*innen

Marita Lersner und Klaus Mertes SJ haben das neue Buch „Freude – Begegnung mit Straßenexerzitien“ mit Texten von Christian Herwartz und vielen seiner Wegbegleiter*innen herausgegeben. Im lebhaften Gespräch mit Kathrin Happe erzählen die beiden die erstaunliche Geschichte des Buchs, wie es zu dem Titel kam, und was ihnen besonders Freude an diesem Buch gemacht hat.

Bestellen kann man das Buch in jeder Buchhandlung (Herder Verlag).

Straßenexerzitien als Praxis von „Freestyle Religion“

Uwe Habenicht, geboren 1969, verheiratet, drei Kinder; evangelischer Theologe; er arbeitete als Pfarrer in Deutschland und Italien. Seit 2017 ist er Pfarrer in St. Gallen mit Schwerpunkt Jugendarbeit. Bei seiner Erkundung der spirituellen Aufbrüche der Gegenwart unter dem Titel „Freestyle Relition“ fragt er nach Merkmalen einer tragfähigen christlichen Spiritualität. Ausgangspunkt ist für ihn die religiöse Autonomie des Einzelnen. Anschaulich beschreibt er, dass sich dabei die eigenen, auch mystischen Erfahrungen nicht gegen gemeinsames Beten und politisches Engagement ausspielen lassen. Und wie in solchen neuen Formen des Religiösen, auch in neuen Formen des Umgangs mit traditioneller Religion, individuelle Freiheit und Gemeinsinn miteinander zu dem verbunden werden, was „Freestyle Religion“ als Religion für das 21. Jahrhundert ausmacht. Im „Praxisteil“ am Ende des Buches schreibt er über die Straßenexerzitien.

Straßenexerzitien und Alltagsexerzitien – vom Abschreiten aller drei Kreise                     

Etliche Aspekte der bisher beschriebenen Kreise fließen in der Form der Straßenexerzitien zusammen, die ich abschließend noch kurz skizzieren möchte: In den Straßenexerzitien zieht man sich nicht aus der Hektik und dem Getriebe der Städte aufs Land zurück, um Einkehr zu hallten. Vielmehr sucht diese Form der Exerzitien die Gegenwart des Auferstandenen im Alltag der Straße. Die Wahrnehmung der Wunden der Zeit, der Ausgestossenen und Leidenden bekommen dabei ein besonderes Gewicht, Spiritualität mit dem Gesicht zur Welt: Aufmerksam, offen und absichtslos gehen die Übenden eigensinnig und allein auf die Straßen und Plätze und suchen nach einem Echo des biblischen Wortes, mit dem sie am Morgen aufgebrochen sind. „Sich auf die Exerzitien zu begeben bedeutet zu ‚üben‘. Wir üben aufmerksamer zu werden, unsere innere Aufmerksamkeit zu bemerken und ihr zu folgen. Um auf die innere Stimmen besser zu hören, werden solche Übungszeiten normaler Weise in einem Kloster oder in einem Haus angeboten, das dafür besonders geeignet erscheint, mit landschaftlich schöner Umgebung oder einem Meditationssaal. Bei den Exerzitien auf der Straße gehen wir raus in die Stadt. Üblicherweise zehn Tage lang, jeden morgen und jeden Nachmittag. Abends kommen wir wieder zusammen, feitern Gottesdienst und erzählen uns in kleinen Gruppen, was uns begegnet ist.“[1]

Hier verschränken sich Wahrnehmung des Leidens Meditation und gemeinschaftlich liturgische Feier. „Wir üben, das Leben in Fülle zu suchen, den Lebendigen und die Lebendige, die tausend Namen hat, die wir Gott nennen. Wir üben ihr unser Herz zu öffnen. Warum ‚üben‘? Wir üben vielleicht weniger im Sinne von trainieren, sondern von: immer wieder neu anfangen. Ich übe ins Jetzt zu kommen. Ich werde langsamer und spüre Neues. Nach und nach entdecke ich eine Stille in mir und kann mein Inneres spüren. Im Lassen vom Tun und Arbeiten, vom Denken und Handeln finde ich zu einem Dialog in mir und bin im Gebet. Ich übe, mehr ins Hören zu kommen. Wer will mir heute begegnen? Wo oder in wem will sich Gott, die Quelle des Lebens, mir heute zeigen?

Unverschämte Übungen – immer wieder unverschämt Neues. Da, wo ich es vielleicht am wenigsten erwarte! Gott, die liebende Gegenwart, suchen im Jetzt, in allen Dingen, wie Ignatius, der Begründer des Jesuitenordens, sagt. Auch in jedem Menschen kann ich dieses Schönem das Gott ist, finden. Unverschämt – vielleicht gerade in jenen Menschen, die ich sonst eher beiseiteschiebe, die am Rande leben, die am Brennpunkt des Lebens stehen.“[2]

Dieses hörende Schweigen ist die Voraussetzung für jede Form von kooperativem Engagement zugunsten derer, denen man begegnet ist – auch wenn die Straßenexerzitien diesen letzten praktischen Schritt nicht leisten können, der für das Ganze der Freestyle Religion konstitutiv ist.

Straßenexerzitien lassen sich als Grundübung von Freestyle Religion verstehen, die sich eben nicht im stillen Kämmerlein versteckt, sondern die Straße als Ort gelebter Religion wiederentdeckt – so wie sich Parcours oder Free Running den herausfordernden Gegebenheiten der Straße stellen oder die zeitgenössische Kunst auf die Straße geht, um im alltäglichen Leben Spuren zu hinterlassen.[3]

„Wenn ich auf die Straße gehe, lasse ich die Kontrolle weg, mit der ich bestimme, wer mir begegnen kann und wer nicht. Ich gehe in die Offenheit der Begegnung und lasse mich in dieser Offenheit frei, soweit ich es vermag, begegne Überraschendem und schaue, ob dieses ‚Ungeborgene‘ mein Herz entzündet und mich in unvorstellbarer Weise beherbergen, mir Geborgenheit und Gottes Anwesenheit zeigen will. Ich stimme dem offenen Ausgang des Tages zu, gehe aus dem Gewohnten hinaus, sage ja dazu, dem Fremden, dem Unbekannten entgegen zu gehen, will erproben, was geschieht, und schauen, was sich ereignet.“[4]

Wenn Religion ihre schützenden Räume, in denen sie das Göttliche feiert und die Augen vor der Zerrissenheit der Welt nicht verschlossen hat, verlässt und ihre vertiefte Verankerung im Göttlichen hinaus auf die Straße trägt, um die Welt mit anderen kooperativ zu gestalten, und wenn die diesem Weg immer wieder und wieder eigensinnig gehtm wird aus Religion Freestyle Religion. Dann ist Religion mehr als frommes Selbstgespräch meiner Seele mit mir selbst. Dann ereignet sich wunderbares Wirken weit über mich hinaus.    


[1]    Herwartz, Im Alltag der Straße, 27

[2]    Ebd.

[3]    Aus dem Galler Tageblatt vom 4.8.2019

[4]    Herwartz, Im Alltag der Straße, 29

Leseprobe aus: Uwe Habenicht, Freestyle Religion. Eigensinnig, kooperativ und weltzugewandt – eine Spiritualität für das 21. Jahrhundert © Echter Verlag Würzburg 2020, S. 135-138

Auf nackten Sohlen – Exerzitien auf der Straße

Herwartz, Christian (2006) Auf nackten Sohlen – Exerzitien auf der Straße,

Ignatianische Impulse Band 18, Echterverlag Würzburg

Aus dem Klappentext: Christian Herwartz erzählt seinen persönlichen Weg als Arbeiterpriester. Schritt für Schritt entdeckte er neue spirituelle Wege, die das Mitleben mit armen Menschen und die Liebe zu Christus als eines sehen. So entwickelte er mit anderen die „Exerzitien auf der Straße“. Das Buch erzählt von diesen Erfahrungen und gibt Anregungen zu einer erneuerten Exerzitienpraxis.
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Im Alltag der Straße Gottes Spuren suchen

Dieses Buch bietet einen sehr guten Einstieg in die Straßenexerzitien:

Christian Herwartz / Maria Jans-Wenstrup / Katharina Prinz / Elisabeth Tollkötter / Josef Freise (Hg.):

Im Alltag der Straße Gottes Spuren suchen

Persönliche Begegnungen in Straßenexerzitien

1. Auflage 2016, kartoniert / 12,3×19,0 cm / 176 Seiten ISBN 978-3-7615-6270-3, Neukirchener Aussaat

Aus dem Klappentext: Jesuitenpater Christian Herwartz lebte seit über 35 Jahren in einer offenen Wohngemeinschaft in Berlin-Kreuzberg, hat jahrzehntelang als Arbeiterpriester in Fabriken gearbeitet und ist überzeugt, dass Spiritualität und gesellschaftliches Engagement zusammengehören. In diesem Band beschreiben er und viele andere Autoren und Autorinnen ihre sehr persönlichen Erfahrungen bei Exerzitien auf der Straße.

Sich auf fremde Orte und Menschen sowie überraschende Erfahrungen einzulassen, gehört bei dieser Form der „geistlichen Übungen“ dazu. Eine Frage lautet: Wer will mir heute begegnen? Von diesen Begegnungen mit einer alten türkischen Frau, einem fünfjährigen Mädchen und einem Obdachlosen erzählen die Teilnehmer genauso wie von berührenden Einsichten unter der Brücke. Von dem, was sie als Mensch, Christ verändert hat, wie Gott ihr Herz traf. Geistliche und biblische Reflexionen zu den verschiedenen Etappen der Straßenexerzitien runden diesen Band ab und können eigene Straßenexerzitien anleiten.

Lesungen und Buchvorstellungen hier

 

Von der Inspiration biblischer Bilder

Der folgende Beitrag des Theologen Michael Schindler versucht die Idee der Straßenexerzitien mit ihrem zentralen Schrifttext der Gotteserscheinung im brennenden Dornbusch unter dem Fokus der Grenzerfahrung durchzubuchstabieren.

Als Mose als Flüchtling in Midian weilte und bei seinem Schwiegervater als Hirte arbeitete, trieb er eines Tages seine Tiere „über die Steppe hin hinaus.“[1] Der Beginn dieser dichten biblischen Erzählung von Gottes Selbstoffenbarung und Erscheinung wird mit einem Ortswechsel markiert: Mose überschreitet mit seiner Herde eine bisherige Grenze. Das ermöglicht ihm im Folgenden die Überwindung weiterer Grenzen. die Auch Begegnung mit Gott liest sich als eine Grenzerfahrung: Gott kommt Mose einerseits ganz nahe. Das gegenseitige Sehen wird in besonderer Weise betont und der Bote JHWH’s wird zu JHWH selbst.

Andererseits lässt sich Gott nicht (be-)greifen: Mose muss in gebührendem Abstand stehen bleiben, die Schuhe ausziehen und verhüllt sein Gesicht. Indem sich Mose auf Gottes Wort einlässt und sich für die ihm zugedachte Aufgabe berufen lässt, überschreitet er eine persönliche Grenze, vor der er zunächst zurückweicht, nämlich vom Ziegenhirten zum Hirten seines Volkes zu werden.

Die Dornbuscherzählung (Ex 3) als hermeneutischer Schlüssel

Die Dornbuscherzählung bildet das biblische Fundament einer noch jungen Exerzitienform, den so genannten „Exerzitien auf der Straße“. Der entscheidende Unterschied zu herkömmlichen Exerzitien ist der doppelte Ortswechsel. Man verlässt seinen Alltag und nimmt eine Auszeit, um Exerzitien zu machen. Man sucht aber auch keinen herkömmlichen Exerzitienort des Rückzugs in die Stille eines Klosters oder Exerzitienhauses auf, sondern übt stattdessen auf der Straße. Die Menschen machen sich auf, auf den Straßen einer (Groß-)Stadt den „brennenden Dornbusch“ zu suchen. Sie werden aufmerksam um zu entdecken, wo sich auf der Straße heiliger Boden für sie auftut und wo sie den Impuls bekommen, ihre Schuhe auszuziehen, d. h. inne zu halten und sich selbst zurückzunehmen, um wie Mose mit verhülltem Gesicht ins Hören zu kommen. Dieser „heilige Ort“ materialisiert sich in konkreten Orten: das kann eine Parkbank sein oder eine Bushaltestelle, ein Hinterhof oder ein historisches Denkmal. Der brennende Dornbusch kann in der Begegnung mit Menschen entdeckt werden, auch in der Begegnung mit sich selbst oder mit Dingen wie Papierschnipseln oder einem Kinderwagen.[2] Anders gesagt: Die biblische Erzählung vom brennenden Dornbusch wird zum hermeneutischen Schlüssel für die Erlebnisse auf der Straße. Sie erzählen diese jeweils am Abend in einer Kleingruppe und hören von den Straßengeschichten der anderen Übenden.

Grenzüberschreitungen auf der Straße

Im Grunde sind Exerzitien in der Tradition des Ignatius immer schon persönliche Grenzüberschreitungen. Die so genannten großen Exerzitien wollen zu einer grundlegenden Wahlentscheidung zurüsten. Sie waren nie nur als eine spirituelle Auszeit, als eine Art Wellness für die Seele, gedacht. Doch gibt es bei den Exerzitien auf der Straße eine spezifische Grenzerfahrung. Denn diese laden dazu ein, jenseits des geschützten Raums der eigenen Wohnung oder eines Bildungshauses sich auf einen geistlichen Übungsprozess einzulassen. Das beginnt schon damit, dass die Gruppe in der Regel in einer einfachen Unterkunft wohnt, die z. B. im Winter Obdachlosen als Notschlafplatz dient. Grenzen werden überschritten, wenn die Exerzitanten und Exerzitantinnen mit jemandem von der Straße in Kontakt kommen, der abgerissene Kleider trägt und nach Alkohol riecht. Grenzen werden überschritten, wenn bewusst Orte aufgesucht werden, die man normalerweise in seinem Leben meidet. Grenzen werden überschritten, wenn entdeckt wird, dass mitten im Lärm der Straße plötzlich eine Stille auftreten und jemand auf einer belebten Kreuzung ein Lied anstimmen und ins Beten kommen kann.[3]

Weiterknüpfen des biblischen Fadens

Die Geschichte von der Erscheinung Gottes im brennenden Dornbusch[4] wird in diesen Exerzitien in einer Weise verwendet, dass dieser biblische Faden gewissermaßen auf der Straße weitergeknüpft wird. Sie schärft den eigenen Blick und ermöglicht die angemessene innere Haltung für das eigene Üben auf der Straße. Und sie dient als hermeneutischer Schlüssel, um die abendlichen Erzählungen nachhallen zu lassen und zu deuten, gerade auch wenn es um die Erfahrung und Überwindung von Grenzen geht.

Lesetipps:

Christian Herwartz, Brennende Gegenwart. Exerzitien auf der Straße, Ignatianische Impulse 51, Würzburg 2011.

Michael Schindler, Gott auf der Straße. Studie zu theologischen Entdeckungen bei den Straßenexerzitien, Berlin u. a. 2016.

Christian Herwartz/Maria Jans-Wenstrup/Katharina Prinz/Elisabeth Tollkötter/Josef Freise (Hg.), Im Alltag der Straße Gottes Spuren suchen. Persönliche Begegnungen in Straßenexerzitien, Neukirchen 2016.

Dr. Michael Johannes Schindler ist Pastoralreferent in der Diözese Rottenburg-Stuttgart mit einem langjährigen Schwerpunkt in der Stadtpastoral. Ehrenamtlich ist er seit 2010 als Begleiter von Straßenexerzitien tätig, die er in einer Forschungsarbeit empirisch und theologisch untersuchte. Der Artikel wurde zuerst publiziert in Bibel und Kirche, 71. Jahrgang,  2. Heft 2016, S. 108-109

Fußnoten:
[1] So wird der hebräische Begriff „achar“ von den meisten Übersetzern wiedergegeben.
[2] Die genannten Beispiele sind einer empirischen Untersuchung zu den Straßenexerzitien entnommen (Schindler 2016). Viele weitere Beispiele von entsprechenden Erfahrungen finden sich auf der Website.
[3] Auch diese Beispiele entstammen den Interviews der empirischen Untersuchung (vgl. Schindler 2016).
[4] Ex 3,1-6 ist die grundlegende Erzählung für die Hauptphase der Exerzitien. Es gibt aber auch andere entsprechende Geschichten wie z. B. die Hagargeschichte in der Frage nach dem eigenen Gottesnamen zu Beginn der Exerzitien oder die Aussendung der Jünger und Jüngerinnen. Gegen Ende der Exerzitien steht die Emmauserzählung quasi als Relecture der Erfahrungen auf der Straße. Weitere biblische Geschichten werden in den Gottesdiensten verwendet.

Gott auf der Straße

Die Doktorarbeit von Michael Schindler, Begleiter der Exerzitien auf der Straße, ist im Lit-Verlag erschienen:

Michael Johannes Schindler (2016): Gott auf der Straße. Studie zu theologischen Entdeckungen bei den Straßenexerzitien Reihe: Tübinger Perspektiven zur Pastoraltheologie und Religionspädagogik
Bd. 54, 464 S., 49.90 EUR, br., ISBN 978-3-643-13295-6

Diese Studie folgt einem neueren Ansatz, demzufolge Theologie als Kommentar zu gläubiger Praxis verstanden wird. Die kommentierte Praxis sind die Exerzitien auf der Straße. Diese junge Form von Exerzitien wird durch eine qualitativ-empirische Studie erhellt und durch eine soziologische Skizze zu einer Phänomenologie der Straße ergänzt. Es wird aufgedeckt, welche bibelhermeneutische, exegetische und spirituelle Qualität diese Praxis enthält, und inwiefern hier in dogmatischer Perspektive von einem „Sakrament der Straße“ gesprochen werden kann. Aus diesem Befund werden Optionen für die Pastoral getroffen.

Vom Autor sind hier zwei weitere Artikel publiziert:

Die barmherzige Straße – überraschende Gottesentdeckungen bei Straßenexerzitien

Wenn Straße heiliger Boden wird