Der erste Tag der Natur-Exerzitien in Barhöft/Vorpommern

Vom 17.-21.10.2025 fanden zum ersten Mal Naturexerzitien, inspiriert durch Straßenexerzitien, im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft statt. Wolfgang Palm schreibt von einem Exerzitientag.

von Wolfgang Palm

6.30 h Aufbruch mit der Gruppe zum Aussichtspunkt. Freude und Beheimatung beim Gehen in der Dunkelheit und bald Dämmerung, Schweigen als guter Rahmen. Hermann Hesses Gedicht: „Seltsam, im Nebel zu wandern …“ traf meine Stimmung in der noch weitgehend unbekannten Gruppe und Landschaft. 

Erfahrung an der Beobachtungsstelle: eher schwierig, Vögel nur mit (großem) Abstand zu hören und zu beobachten. Kindheitserfahrungen dazu belastend. 

Nach dem gemeinsamen Frühstück Austausch des Erlebten in Gruppen. Ein erstes Kennerlernen, Abtasten und Mitteilen. Thema unter anderem: „Raum geben für das Unverfügbare dieser Exerzitientage“. Vertiefte Einsichten in meine aktuelle Befindlichkeit – Sehnsucht nach Alleinsein u n d Dazugehören – und Sehnsucht bereichernd und mit dem Impulsthema des Vorabends eine „Wegzehrung“ für die Zeit allein bis zum Abendessen.

Der erste Tag allein in der Natur um Barhöft sehr entschleunigend und entspannend. Impulse vom Vorabend und dem Gruppenaustausch immer wieder im Bewusstsein beim Gehen und Sitzen in der Natur. So fand ich vermehrt Abstand zu den „Anreisemitbringsel“ der vergangenen Wochen und Monate, die mich bewegten und in Anspruch nahmen. Die Gegenwart und das Neuland nahmen endlich wieder einen dominanteren Raum ein. Höhepunkt: zwischen zwei großen Feldern fand ich eine kleine Kornblume – „meine blaue Blume“ – für die Zeit dieser Exerzitien und danach. Eingebettet in ein größeres Ganzes: in der Natur der Boddenküste und auf unserem blauen Planeten. 

Am Abend ein gutes und verbindendes Treffen in der Gesamtgruppe mit drei Teilen zur persönlichen Klärung, um über die eigenen Absichten dieser Exerzitien Klarheit zu gewinnen:

  • aus einer Reihe von Bildkarten von Caspar David Friedrich wählte ich „Frau und Mann in Betrachtung des Mondes“ (um 1824) mit der Frage: „Wo findest du Trost?“ – Austausch über die Wahl der Karte als Vorstellungsrunde.
  • Lesung aus dem Buch Könige, Elia in der Wüste/Höhle: „Was willst du hier?“
  • gemeinsames Lied: „Da wohnt ein Sehnen tief in mir, o GOTT ….“

Auf den Spuren der „Mystikerin der Straße“ (II)

Plakat das an Madeleine Delbrêl erinnert, an einer Mauer in Ivry

Teil 2 des Reiseberichts von Dorothee Steiof auf den Spuren der Schriftstellerin Madeleine Delbrêl, der Mystikerin der Straße (zuerst veröffentlicht auf Feinschwarz.de)

Dazwischen sein – „sans étiquette“

Ich breche am ersten Morgen auf und lasse mich treiben. So entdecke ich zufällig eine etwas in die Jahre gekommen Kirche aus Beton in einer kleinen Gasse, die nach Madeleine Delbrêl benannt ist („ALLÉE Madeleine Delbrêl“). In dieser Gasse befindet sich das oben abgebildete Graffiti an einer Mauer. Die Mauer bildet die Grenze zum „Leninstadion“, einem Fußballplatz. Genau gegenüber steht ein ebenfalls nach Madeleine Delbrêl benanntes soziales Zentrum, auf das sie „schaut“. Heiligenikonografie à la banlieue – mit dem dreimaligen: „Ich liebe dich“! Es hätte wohl keinen besseren Platz geben können. Die Mystikerin der Straße befindet sich wie zu ihren Lebzeiten zwischen Kommunismus und Kirche, in der Mitte das soziale Handeln – hier geht ihr Blick hin.

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Auf den Spuren der „Mystikerin der Straße“ (I)

Plakat das an Madeleine Delbrêl erinnert, an einer Mauer in Ivry

Dorothee Steiof reist auf der Suche nach pastoraler Inspiration nach Frankreich. Daraus wird eine Begegnung von Präsenzpastoral und mit Madeleine Delbrêl in Ivry-sur-Seine. Auf der Webseite Feinschwarz.de berichtet sie in zwei Texten über diese Begegnungen und bringt diese auch in Verbindung mit ihren Erfahrungen auf der Straße und mit Straßenexerzitien. Teil 1:

Es ist ein schöner Sommertag und ich sitze im TGV in Richtung Paris. Ich habe in der Banlieue, genauer in Ivry-sur-Seine, dem Lebens- und Wirkort von Madeleine Delbrêl (1904-1964) für vier Tage ein kleines Hotel gebucht. In meiner Promotion zum Thema einer doxologischen Spiritualität hatte ich mich intensiv mit Madeleine Delbrêl beschäftigt und dabei auch eine Woche im „Maison de Madeleine Delbrêl“ in Ivry gewohnt und geforscht.[1] Nach der Promotion (2012) war dann erst einmal „Schluss“ mit unserer „Beziehung“ – ich brauchte eindeutig Abstand!

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Im Angesicht der Schöpfungswunde

Straßenexerzitien-Wochenende am Garzweiler II-Tagebau, 12.-14.11.2021

„Gott, du mein Gott, dich suche ich“. Mit diesen Worten aus dem 63. Psalm starteten wir zu dritt am zweiten Novemberwochenende in unseren ersten Straßenexerzitientag am Braunkohletagebau Garzweiler. Um flexibel zu sein, waren wir mit einem Wohnmobil gekommen und standen im Dorf Keyenberg, wenige hundert Meter entfernt vom „Loch“. In diesen zwei Tagen wollten wir uns von der lebendigen Geistkraft führen lassen.

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David: Die weitreichenden Folgen einer Begegnung

Die weitreichenden Folgen einer Begegnung Knapp 15 amerikanische Studierende der Landschaftsarchitektur sitzen in einem Raum und lauschen gespannt und leicht irritiert den Ausführungen und Ideen eines wohnungslosen Deutschen. Wie kommt es zu der überraschenden Szene? Um dies zu verstehen müssen wir knapp drei Monate in der Zeit zurückgehen.

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Die Straße als Anders-Ort — Gott auf der Straße begegnen? Wie soll das gehen?

Looking for a sign? This is it!

Bericht von Straßenexerzitien in Essen

Einen Eindruck davon erhielten fünf interessierte Frauen am 10.09.2020. Pater Lutz Müller SJ hatte ins Abuna-Frans-Haus nach Essen-Frohnhausen eingeladen. Der Leitgedanke des „Schnuppertags Straßenexerzitien“ war, Gott an einem ungewöhnlichen und ungewohnten Ort zu suchen. Nach einer kurzen Vorstellungsrunde führte Pater Müller in das Format ein: Bei Straßenexerzitien sind die Teilnehmenden auf der Straße unterwegs. Sie folgen den Bewegungen der eigenen Sehnsucht. Lassen sich ein auf ungewohnte Lebenswelten — oft auf Menschen am Rande der Gesellschaft. So üben sie, sich selbst, den anderen und Gott darin zu begegnen. Die Leitfragen des ersten Schnuppertages entwickelte Pater Müller aus dem Gleichnis des brennenden Dornbusches. Was ist (m)ein heiliger Ort für diesen Tag? Wo und wie verlasse ich meine Komfortzone und gehe dorthin, wo es unangenehm wird?

Nach diesem Einführungsimpuls ging es für die fünf Frauen bei strahlendem Sommerwetter hinaus. Vier Stunden Zeit lagen nun vor den Teilnehmerinnen. Zeit für Begegnungen mit dem Innen und Außen, mit dem eigenen Herzen oder Menschen in verschiedensten Lebenslagen. Einige Teilnehmerinnen verzichteten dabei auf jegliche Hilfsmittel wie Handy, Geld oder die Fahrkarte für den ÖPNV. Für andere war die Fahrt mit der Straßenbahn die erste Begegnung mit Menschen, die ebenfalls unterwegs waren. Wieder andere ließen mit dem Fahrrad die Welt an sich vorbeiziehen.

Um 15 Uhr traf sich die Gruppe wieder im Garten des Abuna-Frans-Hauses. Eine intensive Zeit lag hinter den Teilnehmerinnen, die nun nacheinander von ihren Erlebnissen, Eindrücken und Gefühlen berichteten – und die ihre eigenen Antworten auf die Leitfragen gefunden hatten. Der Austausch über diese Antworten rundete den Tag ab. Sechs Stunden intensiver Erfahrungen lagen hinter den Teilnehmerinnen, die sie als „Urlaub vom Alltag“, „Auszeit“ oder „wertvollen Impuls“ bezeichneten. Alle Frauen dankten dem Gastgeber und der Organisatorin, Barbara Weß, Kollegin aus dem Fachbereich Integration und Migration, von Herzen. Damit verbunden war der innige Wunsch, diese Veranstaltung zu wiederholen. Wir dürfen gespannt sein: Frau Weß und Pater Müller haben bereits mit den Planungen für eine weitere Veranstaltung begonnen.

Erfahrungen von Strassenexerzitien unter Corona-Bedingungen

"Coronakrise in Berlin" by tim.lueddemann is licensed under CC BY-NC-SA 2.0

Lutz Müller SJ

Einzelexerzitien in Köln

Als ein gelungenes Experiment habe ich es empfunden, als ich Ende Mai 2020 Strassenexerzitien in Köln machte. Unter Corona-Bedingungen ist es ja herausfordernd, auf der Straße unterwegs zu sein. Abstand, Hygienemaßnahmen und Alltagsmaske stellen mich auf die Probe, wie ernst und konsequent ich dies auf der Straße befolge. Folgendes war für mich gut lebbar:

  • Ich suchte mir ein gastfreundliches Kloster, das mich als Einzelgast aufnahm. Das waren die Karmelitinnen, bei denen ich auch täglich die hl. Messe mitfeierte.
  • Da ich allein ohne Gruppe unterwegs war, suchte ich mir einen Begleiter, der sich täglich eine halbe Stunde Zeit nahm.
  • Die Stadt Köln bietet Wohnungslosen, Obdachlosen und anderen Armen eine gute Infrastruktur der Hilfe. Mir scheint, dort ist ein guter Ort, um Strassenexerzitien zu machen.

So hatte ich einen Rahmen vorgefunden und geschaffen, unter dem ich dies ausprobieren wollte. Als mein Hauptplatz stellte sich die Treppe vor dem Hauptbahnhof heraus, direkt unterhalb des Domes. Das ist ein Platz voller Menschen mit vielen Bewegungen. Dort passieren nicht nur Reisende aus aller Welt, sondern viele Kölner machen dort Pause; die Straßenreinigung hält den Platz im 30 Minuten Takt sauber, weil es ein Vorzeigeobjekt ist; mehrere Gruppen von Obdachlosen treffen sich, über den Tag verteilt. Verschiedene Künstler versuchen dort ihr Glück, Menschen anzuziehen. Es herrscht aber ein solches Gewusel auf dem Platz, dass fast alle nach kurzer Zeit entnervt weiterziehen zum Domplatz hinauf.

Ich lernte auch den Neumarkt kennen, ein Treffpunkt von Dealern und Drogenkonsumenten. Ein sehr verschmutzter, großer, unappetitlicher Platz, wo ich mich nur unwohl fühlte. Am Appellhofplatz war es einsam, dort trafen sich meist nur einige Männer, die ich vom HBF her kannte. Eine Kontaktaufnahme gelang mir nicht.

Zur Verpflegung: Der Sozialdienst katholischer Männer verteilte wochentags eine Frühstückstüte. Oft war die Schlange der Anstehenden länger und größer als die Zahl der Tüten. Dort fiel mir die Kontaktaufnahme leicht. Mit einem der Männer kam ich intensiver ins Gespräch. Als er anfing, mich über meinen Herkunftsort Essen auszufragen, welche Anlauforte es dort gäbe, merkte ich, wie wenig ich über meine Stadt wusste….

Die Pfarrei St. Maria in der Kupfergasse verschenkte täglich ab 14 Uhr belegte Brote in großer Menge. Dort waren auch immer Leute unterwegs. So kam ich in puncto Ernährung gut über die Runden.

Zur Begleitung: Unter der einfühlsamen Begleitung von Markus Röntgen wurden mir zusätzliche Aspekte meines Weges bewusst. Täglich traf ich ihn für 30 Minuten in einer Kirche in Bahnhofsnähe zum Gespräch. Es war schön, einen kompetenten Kollegen zu erleben, der aus eigener Erfahrung informiert Fragen stellte, Anteil nahm an den Fragmenten meiner Tage, mir zuhörte und mich so begleitete. Sehr interessant waren seine selbst verfassten Haikus (japanische Kurzgedichte) von Begegnungen mit dem Selbst und dem Fremden.

Mit Maske war es mühsamer als ohne, aber es ging. Auf der Treppe am Bahnhof konnte ich gut auf Abstand achten. Da ich eine knappe Woche mich täglich dort aufhielt, konnte ich wiederholt mit einigen Obdachlosen gut in Kontakt kommen. So merkte ich, wie sehr sie sich umeinander kümmerten, sie Blickkontakt mit den Polizeistreifen hielten, sie sich auf Fremde wie mich einließen, die nicht auf ihre Bettelaktionen reagierten. Schwierig fand ich die Gruppe rumänischer (?) Bettler, die systematisch die Region um Dom und HBF abliefen. Als ich versuchte, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, konnten sie kein deutsch.

Ein Novum war für mich meine Intuition, mich unter die Flaschensammler zu mischen. Das war eine vielschichtige Erfahrung. Ich spürte an mir Ekel, in dunkle Mülleimer zu fassen wegen des Drecks; Frust, wenn jemand anders vor mir gerade alles abgegrast hatte und ich also leer ausging; Ambivalenz, wenn ich anderen Sammlern begegnete; Scham, wenn mich andere Passanten dabei beobachteten; eine Mischung von Erfolgsfreude und Peinlichkeit, wenn ich die Flaschen in einem Discounter einlöste… Ich merkte, wie diese Sammler allein unterwegs waren. Das Flaschensammeln ist eine Aktivität, die den Tag füllen kann.

Ob ich dabei irgendwann Gott begegnet bin, weiß ich nicht. In jedem Fall bin ich Brüdern und Schwestern von der Straße begegnet. Manchmal entstand eine Nähe, meistens blieb Fremdheit. Vielleicht war das der verborgene Gott…

Kurs in Essen

Nach meiner Woche in Köln folgte bald darauf mein Kurs in Essen, den ich ausgeschrieben hatte als Veranstalter und Begleiter. Drei Teilnehmende rangen sich trotz Corona durch (allerdings ohne Lockdown Bedingungen) und kamen ins Abuna-Frans-Haus. Eine Woche verbrachten sie in der Ruhrmetropole, die sich gut eignet für Straßenexerzitien. Drei Personen konnte ich gut in Einzelzimmern in unserem Haus, das eine WG mit Flüchtlingen beherbergt, unterbringen. Wie üblich, gab es morgens einen Morgenimpuls mit Frühstück, tagsüber waren alle unterwegs auf der Straße, abends kochte meist eine/einer aus der Gruppe ein Abendessen vor der Austauschrunde. Diese nenne ich lieber „Lesezeit“, weil es darum geht, die Erfahrungen des Tages miteinander aufzunehmen, stehen zu lassen und zu lesen. Mir scheint, das Wort „Lesezeit“ bringt dies deutlicher zum Ausdruck als der Begriff „Austauschrunde“.

Unsere Eucharistiefeiern fanden fast jeden Tag an einem anderen Ort statt. Meist konnten wir Elemente aus der Lesezeit des Vortags integrieren. So feierten wir im Park, an einem Brunnen, im Gewerbegebiet, vor einer verschlossenen Kirche, im Garten und in der Kirche.

Die Teilnehmenden machten naturgemäß ganz verschiedene Erfahrungen, je nachdem wie sie unterwegs waren: allein, mit Fremden, barfuß, kommunikativ oder schweigsam, mit persönlicher Agenda, suchend, mit oder ohne Geld, mit oder ohne Handy, mit oder ohne Blasen an den Füßen, sich öffnend oder sich verschließend, …

Es ergaben sich verschiedene Räume innerhalb der Straßenexerzitien: ein Bibliolog, ein Grillabend, eine Fußwaschung, Begegnungen mit den Flüchtlingen des Hauses, gemeinsames Kochen,…

Am letzten Tag, ein Sonntag, hielt ich in der Gemeindemesse eine Predigt zu den Straßenexerzitien. Ich freute mich sehr, als alle drei Teilnehmenden sich entschlossen, ein Zeugnis einzubringen und etwas von ihren Erfahrungen auf der Straße mit der Gemeinde zu teilen. So stand Corona nicht täglich im Mittelpunkt, prägte dennoch den Umgangsstil miteinander, verhinderte aber nicht die Exerzitien.

Kann ein Lächeln verloren gehen?

Lächeln

von Christoph Albrecht SJ

Ein Mann, der einsam ist, ein Pfarrer, der ihn nicht anschaut, ein Lächeln, das verloren geht. Auch mir hätte schon mal ein bewusster, wohlwollender Blick genügt, um die tiefe Sehnsucht nach Leben zu stillen. Umso wertvoller meine Erfahrungen mit Exerzitien auf der Straße.

«Nach dem Gottesdienst stand der Pfarrer am Ausgang der Kirche und grüßte alle, auch wenn er wegen der Corona-Krise niemandem die Hand geben konnte. Leider hat er mich nicht angeschaut.» Das sagte mir kürzlich ein Mann, der öfters unter Einsamkeit leidet.

Auch ich erinnere mich an Situationen, wo ich gerne Beachtung gefunden hätte, ein bewusster, wohlwollender Blick hätte genügt. Doch der kam nicht. Ein schleichendes, dumpfes Gefühl, für andere nicht zu existieren, überkam mich damals. Ist es dem Menschen auf dem Kirchplatz auch so ergangen? Was hätte ein bewusster Blickkontakt bei ihm wohl verändert? Was hätte die Begegnung beim betreffenden Pfarrer ausgelöst? Ich kenne ihn. Er ist nicht einer, der über die Köpfe der Menschen hinwegblickt. Es mag ein dummer Zufall gewesen sein. Wenn er einen Fehler gemacht hat, dann lag dieser wohl in der Meinung, viele Menschen im gleichen Moment persönlich begrüßen zu können. Das ist eine vorprogrammierte Überforderung.

Ich wollte nun meinerseits das eben Ausgesprochene nicht überhören und fragte nach: «Hättest du gerne mit ihm gesprochen?» Er: «Nein, ich hätte ihn in diesem Moment nicht aufhalten wollen, aber ich hätte ihm gerne mein Lächeln geschenkt. – Weißt du», sagte er weiter, «wir übersehen so viele Dinge im Leben, die uns glücklich machen wollen. Hätte er mich nicht übersehen, wären wir beide beschenkt weitergegangen. Auch ich übersehe immer wieder Dinge und nur manchmal bemerke ich im Nachhinein überhaupt, dass ich was übersehen habe. Unsere Aufmerksamkeit ist so begrenzt, dass ich mich manchmal frage, ob wir nicht halbblind durchs Leben gehen. Würden wir all das wahrnehmen, was uns an Eindrücken geschenkt wird, wären wir vielleicht auch dankbarer für die Fülle eines Tages. Oder würden wir das Leben kaum aushalten, weil wir wohl auch mehr negative Eindrücke zu verarbeiten hätten?»

Unser Gespräch entwickelte sich weiter. Worauf sind wir aufmerksam? Und worauf nicht? Was steuert unseren Blick auf die Welt? Erkennen wir nur, was wir bewusst beachten, oder sind wir fähig, uns von etwas völlig Neuem überraschen zu lassen, sozusagen aus dem Nichts  Aufmerksamkeit für etwas zu entwickeln, das wir vorher nie beachteten? Ich musste an wichtige Erfahrungen während den Exerzitien auf der Straße denken. Das sind geistliche Übungen, wo wir nicht in einem Bildungszentrum oder in einem Kloster meditieren, sondern irgendwo in der Stadt. Die Gruppe der Übenden trifft sich zwar jeden Abend mit den Begleiter*innen am Ort einer einfachen Unterkunft, doch tagsüber lässt sich jede und jeder so, wie es gerade möglich ist, auf das ein, was ihr oder ihm unterwegs begegnet. Offen für Menschen und für Begebenheiten, die ich sonst schnell mal übersehe, komme ich dabei immer auch mit meiner eigenen tiefen Sehnsucht nach Leben in Kontakt. Seltsam und fast paradox, dass meine sowieso immer beschränkte Aufmerksamkeit auf wesentliche Dimensionen meines Lebend gelenkt wird, ohne dass ich das planen könnte.

Ich bin froh um die Erfahrungen der Straßenexerzitien. Sie ermutigen mich, auch im Alltag nicht ängstlich und angestrengt nach den Lücken meiner Aufmerksamkeit zu suchen, sondern mich bewusst immer wieder in eine Stimmung zu versetzen, in der ich ansprechbar bleibe für andere Menschen, interessiert, neue, mir unbekannte Phänomene wahrzunehmen, und größere oder feinere Zusammenhänge zu erkennen.

Vielleicht haben Sie in diesem Sommer Gelegenheit und Zeit, unverplant und unverzweckt an Orten zu verweilen, wo man nicht nur mit bestimmten Privilegien hinkommt.

Vielleicht mögen Sie die Geschichte von Mose (in der Bibel Exodus 2 und 3) lesen. Eines Tages geht Mose als Schafhirt über das Gewohnte hinaus in die Wüste. Er entdeckt einen brennenden Dornbusch, der nicht verbrennt. Er hat also hingeschaut und bemerkt, dass hier etwas ungewöhnliches vor sich geht. Als er näher kommen möchte, hört er eine Stimme, er soll seine Schuhe ausziehen, er stehe auf heiligem Boden. Und dann spricht die Stimme seinen eigenen tiefen Schmerz an: «Ich habe die Not meines Volkes gesehen, ich habe ihre Schreie gehört.» Mose wird aufmerksam auf eine Wirklichkeit, die weit über seine eigenen Sorgen hinausgeht und ihn doch auch persönlich betrifft. Er kann es nicht fassen und schöpft doch einen unglaublichen Mut für neue Schritte in eine Richtung, die er sich nie von selbst zugetraut hätte.

Oder vielleicht inspiriert Sie diese Kurzgeschichte. Vielleicht eben nicht nur an Weihnachten…

Ins Herz Gottes gelangen

Weihnachten

schien mir eine gute Gelegenheit,

das Kloster jenseits der Zeit aufzusuchen.

Am Fuss des Aufstiegs jedoch sass ein blinder Bettler,

und als ich näher kam,

um ihm ein wenig Geld zu geben,

hörte ich ihn wimmern:

«Wer nimmt mich mit ins Herz Gottes?»

Unmöglich konnte ich weitergehen.

Wer würde ihn ins Herz Gottes mitnehmen?

Ich setzte mich ihm gegenüber.

Ich nahm seine Hände.

«Gemeinsam», sagte ich,

«gemeinsam werden wir ins Herz Gottes gelangen».

Aus: Theophan, Das Kloster jenseits der Zeit

Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog der Schweizer Jesuiten.

Abendmahl mit Schokoriegel: Klaus Mertes über seine Erfahrung mit Straßenexerzitien

Schokoriegel WunderBar

Klaus Mertes ist Jesuit. Er wurde bundesweit bekannt, als er vor 10 Jahren als Rektor des Canisius-Kollegs in Berlin sexuellen Mißbrauch in der Institution bekannt machte. Heute ist er Rektor des Kollegs in St. Blasien.

In einem Interview mit dem ZEITmagazin erzählt er, wie er von Gegnern in der Kirche verleumdet wurde, und sich ausgegrenzt führlte. Er habe es beim Katholikentag nicht mehr über mich gebracht, zur großen Eucharistiefeier zu gehen.

ZEITmagazin: Was macht man als Kirchenmann, wenn einem das wichtigste Miteinander der Kirche, das Abendmahl, zuwider wird?

Mertes: Ich habe „Exerzitien auf der Straße“ gemacht, eine geistliche Übung, bei der man ohne Ziel rausgeht ins Freie: mittellos, planlos und offen für das, was einem begegnet. Um ein Mittagessen in der Obdachlosenküche zu bitten, das kostete echte Überwindung. Ich musste, biblisch gesprochen, meine Schuhe ausziehen: die Schuhe des Helfers, des Lehrers, der Überlegenheit und des Status. Und dann saß beim Essen ein Obdachloser neben mir, der sah, dass ich keinen Schokoriegel als Nachtisch habe. Er nahm seinen, brach ihn durch und gab mir die Hälfte. – Genau die Geste Jesu am Tisch mit den Jüngern. Und plötzlich hatte das Abendmahl wieder Sinn.

Klaus Mertes begleitet regelmäßig auch Exerzitien auf der Straße.

Wenn Menschen das Heilige im Alltäglichen entdecken

von Anja Schmitz

„Exerzitien“ bedeutet „Übung“. Ich verbinde damit Tage der Stille und inneren Einkehr, abgelegen in einem Kloster. Doch „Straßenexerzitien“?

Auf der Internetseite lese ich: „Das wahrzunehmen und wahr sein zu lassen, was in mir und um mich herum ist. Das sind Regungen, Bewegungen, Situationen, meine Umwelt, meine Mitmenschen und die Beziehung zu ihnen – und darin die Spur des Geheimnisses, das wir Gott nennen.“ Gebannt lese ich weiter und mir wird klar: Das ist nicht nur eine geistige Übung. Das ist, wie ich leben möchte.

Gottessuche und Selbsterkenntnis

Wenn ich ohne bestimmtes Ziel in die Welt gehe, mir Zeit nehme, mit den neugierigen Augen eines Kindes die Welt betrachte und offen für Unerwartetes bin, kommt es vor, dass kleine Details mich ansprechen, dass sich Gespräche mit Fremden ergeben oder kurze Augenblicke zum Wendepunkt in meinem Leben werden. Es geht darum, Schweigen als innere Haltung zu erlernen, die es mir ermöglicht, Dinge um mich herum wirklich wahrzunehmen und nicht nur das Gewohnte zu sehen und zu denken.

Vorurteile kann ich nicht einfach abstellen, aber wenn ich aufmerksam nicht nur nach außen, sondern auch nach innen schaue, kann ich sie wahrnehmen und betrachten. Wenn ich spüre, dass sie mich einengen, kann ich mich bewusst entscheiden, sie abzulegen. Im bewussten Betrachten meiner inneren und der äußeren Welt, ohne im Hamsterrad des Alltags zu stecken, kann ich Gott begegnen. Er manifestiert sich in Menschen, in Worten, in Situationen, in mir. Das Heilige ist mittendrin in alltäglichen Situationen, wenn ich nur genau hinschaue.

Gott auf der Straße entdecken

Nicht das abgeschiedene Kloster, sondern „die Straße“ ist hier das ideale Umfeld. Unterschiedlichste Menschen, Szenen, die sich vor meinen Augen abspielen: banal und alltäglich, aber auch konfrontierend, irritierend, befremdend. Hier kann ich bis an die Grenzen meiner Toleranz kommen. Wenn der andere mir dann ein Stück entgegen kommt, kann eine Begegnung stattfinden, in der sich Gott offenbart. Jesus sagt: Ich bin der Weg. Ich übersetze es: Ich bin die Straße.

Straßenexerzitien praktisch

Auf der Internetseite finde ich verschiedene Angebote in diversen deutschen Städten. Nur zwei oder bis zu zehn Tage lang kann man sich auf dieses Experiment einlassen. Auf dem Kirchentag in Dortmund gibt es ein dreistündiges Angebot zum Kennenlernen.

Das Zusammenleben in der Gruppe in einer spartanischen Unterkunft gehört zum Programm. Nach einem gemeinsamen Tagesbeginn geht man seiner eigenen Wege und lässt sich inneren oder äußeren Impulsen folgend durch die Stadt treiben.

Ganz wesentlicher Bestandteil ist der abendliche Austausch mit den anderen Teilnehmern und den Kursleitern. Das in Worte fassen der Erlebnisse und die Resonanz der anderen hilft, das Erlebte einzuordnen, oft wird erst hier die Bedeutung klar. Im Zuhören und Wahrnehmen, im Schweigen und ganz da sein lebt man auch hier die Grundhaltung der Straßenexerzitien weiter.

Ich bin fest entschlossen, bei nächster Gelegenheit an Straßenexerzitien teilzunehmen. Und ich erhoffe mir davon, eine neue Grundhaltung für meinen Alltag zu erlernen. Ich stelle mir vor, dass ich lernen kann, das Heilige in jedem Augenblick zu erkennen.