Das Heilige auf der Straße

Ein Porträt von Philipp Gessler zum 73. Geburtstag von Christian Herwartz (taz, 16. April 2016)

Auf seinem Unterarm prangt ein Tattoo: Moses brennender Dornbusch. Für Christian Herwartz steht er dafür, sich ungeschützt auf Fremdes einzulassen. Das praktizierte der Jesuit über Jahre

Christian Herwartz in Berlin-Kreuzberg, 2015 (Foto: Wolfgang Borrs)
Christian Herwartz in Berlin-Kreuzberg, 2015 (Foto: Wolfgang Borrs)

Ist das etwa der liebe Gott? Jedenfalls sieht der Obdachlose so aus – lange weiße Haare, Vollbart, wallendes Hemd und eine weite Hose. Etwas irritierend ist der zackige Spiegel, der an einer Schnur um seinen Hals baumelt, die nackten Füße stecken in Badeschlappen. Er drückt auf die Klingel der „WG Herwartz“ am Eingang des Hauses Naunynstraße 60, gleich neben der Kneipe Der Trinkteufel in Berlin-Kreuzberg. Die Tür öffnet sich, ohne Nachfrage. Im dritten Stock steht die Wohnungstür auf, verschiedene, meist nicht mehr ganz junge Menschen, tragen Tassen und Teller in das WG-Wohnzimmer. Es ist Samstagmorgen, und wie immer samstags zwischen halb zehn und halb zwölf, ist jeder, der mag, zu einem offenen Frühstück eingeladen. An der langen Holztafel, an der etwa 15 Leute sitzen, ist noch ein Platz frei, neben Christian Herwartz. Der liebe Gott neben dem Heiligen von Kreuzberg.

Dass Herwartz ein Heiliger von heute sein könnte, das hat Pater Klaus Mertes mal angedeutet, ebenfalls ein mutiger Jesuit, der als Rektor des Canisius-­Kollegs vor sechs Jahren den Missbrauchsskandal in seinem Gymnasium aufdeckte – und damit die katholische Kirche im Innersten erschütterte. Aber was ist schon heilig?

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Spiritualität in der Sozialen Arbeit und der Weg der Straßenexerzitien

Von Andrea Tafferner, Katholische Hochschule NRW, Münster

Für ein Buchprojekt wurde ich gebeten, ein Fallbeispiel aus der Sozialen Arbeit aus Sicht der Theologie zu kommentieren. Eine theologische Perspektive einzubringen heißt für mich auch, zu beschreiben, wie spirituelle Grundhaltungen in der Sozialen Arbeit einen selber verändern und dadurch auch die Beziehung zu den Menschen prägen, die aus unterschiedlichsten Gründen professionelle Unterstützungsleistungen erhalten. Ein Kernthema der Beziehungsgestaltung in professionellen Kontexten ist die Balance von Nähe und Distanz. Durch die Straßenexerzitien ist mir deutlich geworden, dass es „Schuhe der Distanz“ gibt, die eine offene Begegnung mit anderen Menschen beeinträchtigen. Oder noch viel mehr: die auch die Freude, die von innen kommt, hemmen können.

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Lass ihn kreuzigen! – in Clausnitz, Bautzen und anderswo

Am vergangenen Sonntag habe ich die Matthäuspassion live gehört. Gleichzeitig wurde in drei Bundesländern gewählt. In der Pause des Konzerts kamen die ersten Hochrechnungen herein. Und während in meinen Gedanken die Nachricht von den erschreckend hohen Wahlergebnisse der AfD ihre Kreise zog, hörte ich das „Lasst ihn kreuzigen!“ in der Matthäus Passion.

Da wurde mir klar, was die damalige Menge vor dem Palast der Pilatus mit den heutigen AfD- und Pegida-Anhängern verbindet. Der Schlüssel zum Verständnis ist Jesus als die Verkörperung der Nächstenliebe. Nicht obwohl, sondern weil Jesus die reine Liebe war, musste er in den Augen der Menge sterben.

Ein Blick auf Pegida-Anhänger macht das deutlich: Ihr größtes Feindbild sind die „Gutmenschen“. Ihr Bedürfnis: „Man wird ja noch mal sagen dürfen…“. Nichts ist ihnen wichtiger, als auch mal „politisch unkorrekt“ Menschenfeindlichkeit und Hass in die Welt hinausposaunen zu können. Nichts macht sie rasender als die tätige Nächstenliebe der vielen Menschen, die Geflüchteten helfen. Und AfD-Chef Alexander Gauland meint gar, man dürfe sich von Kinderaugen (der Flüchtlingskinder) nicht erpressen lassen.

Auf der Balkanroute

Wessen Herz voller Hass ist, der kann Kinderaugen nur noch als Erpressung wahrnehmen – und nicht als Anruf an das eigene Herz, mit Liebe zu antworten.

Jesus musste sterben, weil er die Liebe war – und weil seine Liebe uns Menschen angerufen hat, mit Liebe zu antworten.

Liebesunfähigkeit ist die menschliche Sünde, derentwegen Jesus sterben musste. Weil die Menschen damals Jesu Liebe nicht aushielten, schrien sie ihr „Kreuzige!“. Und aus Liebesunfähigkeit ziehen sie heute vor die Flüchtlingsunterkünfte, in Clausnitz, Bautzen und anderswo.

Wo stehen wir in diesem Geschehen?

Einfach helfen

Ein berührende Geschichte aus einer Stadt, in der auch schon öfters Straßenexerzitien stattfanden: Der griechischstämmige Gastwirt Giorgos Flourakis lässt Bedürftige kostenlos in seinem Lokal zu Mittag essen – und sein Nachbar, ein Metzger, lässt sich davon anstecken und liefert ihm das Fleisch.

Buchvorstellungen: Im Alltag der Straße Gottes Spuren suchen

Im Februar erscheint das neue Buch über Straßenexerzitien, herausgegeben von Christian Herwartz, Elisabeth Tollkötter, Josef Freise, Katharina Prinz und Maria Jans-Wenstrup, mit einem Nachwort von Klaus Mertes

Christian Herwartz (Hg.)
Im Alltag der Straße Gottes Spuren suchen
Persönliche Begegnungen in Straßenexerzitien

kartoniert / 12,3×19,0 cm /
176 Seiten

ISBN 978-3-7615-6270-3

Neukirchener Aussaat

Lieferung ab 15. Februar 2016

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unterwegs in Afrika …… Heilige Orte entdecken

Durch seine Wunden sind wir geheilt

Von Marlies Reulecke

Abb.: aus der Fotoserie Marienzyklus, Jens Reulecke – Digital Print bemalt mit Retuschierfarbe, 70 x 100 cm, 2015.

„Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten, um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.“ (2 Kor 12,10)

Bei meinen Aufenthalten in Afrika fasziniert es mich immer wieder, selbst in den schwächsten und vom Leid geplagtesten Frauen eine ungeahnte Stärke zu entdecken, eine Würde, die ihnen keiner nehmen kann. Eine dieser Frauen ist Salome.

Sie lebt als Witwe in einem kleinen Ort im Niger, eines der ärmsten Länder dieser Erde. Sie gehört zur Minderheit der Christen in diesem islamischen Land.

Salome ist unendlich stolz darauf, dass ihre fünf Kinder alle das Abitur gemacht haben und einige nun studieren bzw. ihre Ausbildung abgeschlossen haben.

In der HIV-Abteilung des örtlichen Krankenhauses verwaltet sie die Krankenakten, aber nebenbei berät sie auch die Patienten und steht ihnen in ihrer Krankheit bei. Sie ist der Mittelpunkt der Abteilung, die „Mutter“, die eine Atmosphäre der Geborgenheit vermittelt. Sie ist dazu bestens qualifiziert, nicht weil sie eine langjährige Ausbildung vorzuweisen hat, sondern weil sie selbst durch Leid gegangen ist, ohne dabei bitter zu werden. Von ihrem Mann mit HIV infiziert, empfing sie zu einem Zeitpunkt, als im Niger noch nicht an eine Therapie zu denken war, das Todesurteil, als man ihr mitteilte, dass auch sie das Virus in sich trägt.

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München: Treffen der Begleiter/innen von Straßenexerzitien

Jeder Kurs von Straßenexerzitien wird begleitet von meist vier oder mehr ehrenamtlichen Begleiterinnen und Begleitern. Ihre Aufgabe ist es, die Teilnehmer in ihren Erfahrungen geistlich zu begleiten.

Jedes Jahr trifft sich der Kreis ehrenamtlicher Begleiter von Straßenexerzitien zu einem Jahrestreffen, um sich auszutauschen. Vom diesjährigen Treffen in München berichtet Iris Weiss (zuerst auf dem Naunynblog veröffentlicht):

Für mich war es das erste Treffen der Begleiterinnen und Begleiter von Straßenexerzitien, an dem ich am letzten Januarwochenende im spirituellen Zentrum St. Martin in München teilgenommen habe. Vierzig Menschen aus Deutschland, der Schweiz (2) und Frankreich (2) hatten sich angemeldet.

Einige bekannte Gesichter würde ich dort wohl treffen, aber großenteils würde ich auf Unbekannte stoßen – so meine Vorstellung. Einige Begleitende kenne ich, weil sie in der Naunynstraße zu Besuch waren, dort Straßenexerzitien in der Form von Einzelexerzitien machten oder als Begleitende von Straßen-exerzitien dort wohnten. Ich war nicht schlecht erstaunt, als ich feststellte, daß ich fast drei Viertel der Anwesenden bereits kannte. Ich traf sozusagen auf unbekannte Bekannte – oder andersrum, wie man es nimmt 😉 Bei der Vorstellungsrunde sollten wir uns mit einer (noch) unbekannten Person zusammentun und uns zu einer Impulsfrage austauschen (z.B. wann und in welcher Situation hast du zum ersten Mal von Exerzitien auf der Straße erfahren). Es gab mehrere Durchgänge mit unterschiedlichen Fragen und mit wechselnden Unbekannten. Ich hatte richtig Schwierigkeiten unter den bis zu diesem Zeitpunkt Anwesenden so viele Unbekannte zu finden. Von einigen Leuten, die im letzten Jahr seit ich dazugekommenbin in der Naunynstraße waren, hatte ich gar nicht gewußt, daß sie zum Kreis der Begleiterinnen und Begleiter gehören.

Das Vorbereitungsteam hatte Lebensmittel gekauft, die Räume und das Abendessen vorbereitet. Alles andere lag in der Verantwortung der gesamten Gruppe. Wir sammelten die Fragestellungen, die uns auf dem Herzen lagen und entwickelten daraus, welche Themen bedacht werden sollten.

So wurde etwa der Stellenwert einzelner “Basics” in den Blick genommen und daraufhin befragt, was diese aus der Sicht von Teilnehmenden und aus der Sicht von Begleitenden bedeuten. Welchen Stellenwert hat die abendliche Erzählrunde, in der Erfahrungen des Tages benannt werden können? Wie ist das mit den abendlichen Gottesdienst als freiwilligem oder verbindlichem Angebot? Mit großer Offenheit und großem Respekt konnten die unterschiedlichen Sichtweisen thematisiert werden.

Christian wies darauf hin, daß in Zukunft der Anteil der Priester, die Straßenexerzitien begleiten werden, kleiner werden wird. Von daher werden die Begleitenden vor der Herausforderung stehen, in der jeweiligen Situation kreativ Gottesdienstformen zu entwickeln und andere Arten von Impulsen auszuprobieren. Diese Realität war mir bis dahin noch gar nicht in den Blick gekommen, weil bei den Straßenexerzitien, die ich bis jetzt begleitet habe, immer mindestens ein katholischer Prieser und eine evangelische Pfarrerin begleitet haben.

Ein besonderes Highlight am Samstagabend war die Lesung aus dem Buch über Straßenexerzitien (Im Alltag der Straße Gottes Spuren suchen), das im Februar 2016 erscheinen wird. Erst beim Begleitertreffen im letzten Jahr war die Idee zu diesem Buch entstanden. Sechs Interessierte haben sich zusammengefunden und innerhalb eines Jahres das Buch auf den Weg gebracht. Dreißig Teilnehmende haben ihnen dabei geholfen indem sie eigene Erfahrungen mit Exerzitien auf der Straße aufgeschrieben haben. So ist eine gute Mischung aus Theorie und praktischen Erfahrungen entstanden. Und aus diesem Erfahrungsschatz wurde vorgelesen. Bei einem solchen Vorhaben finde ich es eine anspruchsvolle Aufgabe, die Balance zu finden, an Persönlichem Anteil zu geben und doch die Distanz so zu wählen, daß die spirituelle Intimsphäre des Einzelnen gewahrt bleibt. Das fand ich bei den Erfahrungsberichten, die ich gehört habe, sehr gelungen.

Die Anteilnahme und das Interesse wie es in der Naunynstraße nach dem Weggang von Christian weitergehen wird, war sehr groß. Deshalb machten wir dazu am Sonntagmorgen eine Runde, in der Christian, Michael und ich unsere unterschiedlichen Sichtweisen und auch die Prozesse, in denen wir sind, zur Sprache bringen konnten. Ich fragte am Anfang meines Beitrages, wer noch nicht in der Naunynstraße gewesen ist. Es meldeten sich gerade mal zwei Leute. Mir hat das nochmals deutlich gemacht, daß die Gruppe der Begleitenden eine Verbindung zur Naunynstraße hat ohne daß mir das vorher so bewußt gewesen wäre. Auch nach einzelnen Mitbewohnern wurde gefragt. Und als noch viele Lebensmittel übrig waren, hieß es: “Das kann doch die Naunynstraße brauchen”.

Den Abschluß des Treffens bildete ein Gottesdienst, in dem wir die Texte, die in der evangelischen Kirche an diesem Sonntag dran waren, zu uns sprechen ließen und im gemeinsamen Austausch (deutsch und französisch) auf die Straßenexerzitien bezogen.

In der Lesung aus Jesaja 55 hieß es:

Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser! Und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und esst! Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch!Warum zählt ihr Geld dar für das, was kein Brot ist, und sauren Verdienst für das, was nicht satt macht? Hört doch auf mich, so werdet ihr Gutes essen und euch am Köstlichen laben…”

Im Gleichnis vom Sämann (Lukas Kapitel 8,4 ff) ging es um die Saat, die auf ganz unterschiedlichen Boden fällt und was mit ihr passiert:

Als wieder einmal eine große Menschenmenge aus allen Städten zusammengekommen war, erzählte Jesus dieses Gleichnis: “Ein Bauer säte Getreide aus. Dabei fielen ein paar Saatkörner auf den Weg. Sie wurden zertreten und von den Vögeln aufgepickt. Andere Körner fielen auf felsigen Boden. Sie gingen auf, aber weil es nicht feucht genug war, vertrockneten sie. Einige Körner fielen zwischen die Disteln, in denen die junge Saat bald erstickte. Die übrige Saat aber fiel auf fruchtbaren Boden. Das Getreide wuchs heran und brachte das Hundertfache der Aussaat als Ertrag.”

Gottesdienst 3
Gottesdienst mit einer senegalesischen Trommlergruppe

Ein besonderes Geschenk waren einige geflüchtete junge Männer aus dem Senegal, die regelmäßig im spirituellen Zentrum St. Martin trommeln. Sie brachten sich als Muslime mit einem Gebet und später mit ihren Trommeln ein. Christian ermutigte sie – soweit sie das wollten – auch zu den Texten etwas zu sagen. Dann teilten wir Wasser und Brot miteinander. Mich hat berührt, daß die Senegalesen sich als Glaubende an verschiedenen Stellen im Gottesdienst einbringen konnten und nicht auf die exotische Sonderrolle derer reduziert wurden, die etwas Musikalisches “beitragen” durften wie ich das leider schon erlebt habe.

Auch wenn ich danach müde war, so hatte dieses Wochenende für mich etwas Ermutigendes und Stärkendes. Wer von den Teilnehmenden mag, kann gerne in den Kommentaren noch ergänzen, was hier noch nicht oder zu wenig benannt ist.

Exerzitien im Alltag in Berlin

Einfach ohne – 5 Impulse über das Loslassen

  • 17.02. Du, Gott, hörst mir zu
  • 24.02. Du, Gott, redest gut über mich
  • 02.03. Du, Gott, besuchst mich
  • 09.03. Du, Gott, gehst ein Stück mit mir
  • 16.03. Du, Gott, betest für mich

Der Austausch bei diesen Exerzitien findet jeweils mittwochs um 19.30 Uhr in St. Michael (Kreuzberg) im Gemeindehaus Waldemarstr. 8 mit Unterstützung von Christian Herwartz, Schwester Hilmtud, Jutta Becker und Reinhard Herholte

(U Kottbusser Tor, U Moritzplatz, Bus M 29 – Oranienplatz).