Kanada: Wenn der Bischof um einen Groschen bettelt

Bischof Bolen als Obdachloser in einer Mensa (Foto: Radio Vatikan)

(aus einer Meldung von Radio Vatikan)

Ein Bischof als Bettler: Der kanadische Bischof Donald Bolen wollte es wissen. Anderthalb Tage lang hat er in seiner Bischofsstadt Saskatoon unter Obdachlosen verbracht. Hat mit ihnen in einem Park übernachtet, hat Passanten um Geld angebettelt. Wie es dazu kam, erzählte uns der frühere Mitarbeiter des vatikanischen Einheitsrats in einem Interview.

„Ich gehöre zum Aufsichtsrat einer schönen neuen Einrichtung für Obdachlose mit HIV. Ein Gesundheitszentrum mit angeschlossenem Hospiz. Als wir eine Fundraising-Kampagne machten und die Leute auf das Zentrum aufmerksam machen wollten, habe ich selbst 36 Stunden lang wie ein Obdachloser gelebt. Natürlich bin ich damit nur eingetaucht in den Ozean der Obdachlosigkeit – aber es hat mir die Augen geöffnet. Es war eine wichtige Lern-Erfahrung. Ich sehe meine Umgebung seitdem mit anderen Augen. Welche Verwundungen und Probleme Menschen haben. Aber auch, wie viele Menschen auf verborgene, aber wirklich hoffnungsvolle Weise anderen helfen.“

Bolen, der Obdachlose, tarnte sich mit Jeans, Sweatshirt, kariertem Hemd und Baseball-Kappe. Dass das der Bischof war, der da am Straßenrand stand und um eine Münze bat, hat offenbar niemand gemerkt. „Es war interessant, dass uns fast niemand angeguckt hat. Wir waren praktisch unsichtbar. Ich glaube, das ist es, was wir in der Regel mit Menschen tun, die uns auf der Straße um Hilfe oder Geld angehen: Wir machen sie unsichtbar. Für mich war das eine wichtige Erfahrung.“

Und als Kampagne hat das auch funktioniert mit dem bettelnden Bischof. „Es war sehr erfolgreich: Wir erhielten Aufmerksamkeit und auch genug Geld, um ein anderes Projekt zu starten, ein Haus für Schwangere mit HIV.“

Bolen wurde an diesem Montag versetzt, er wird Erzbischof von Regina in der Provinz Saskatchewan, einem ländlichen Gebiet, das so groß ist wie Italien, aber nur eine halbe Million Einwohner hat, darunter viele Indigene. Auf sie will er sich künftig besonders einlassen, sagt er im Radio Vatikan Interview.

Ausführlicher Bericht (englisch) auf den Seiten der Diözese Saskatoon.

Von der Inspiration biblischer Bilder

Der folgende Beitrag des Theologen Michael Schindler versucht die Idee der Straßenexerzitien mit ihrem zentralen Schrifttext der Gotteserscheinung im brennenden Dornbusch unter dem Fokus der Grenzerfahrung durchzubuchstabieren.

Als Mose als Flüchtling in Midian weilte und bei seinem Schwiegervater als Hirte arbeitete, trieb er eines Tages seine Tiere „über die Steppe hin hinaus.“[1] Der Beginn dieser dichten biblischen Erzählung von Gottes Selbstoffenbarung und Erscheinung wird mit einem Ortswechsel markiert: Mose überschreitet mit seiner Herde eine bisherige Grenze. Das ermöglicht ihm im Folgenden die Überwindung weiterer Grenzen. die Auch Begegnung mit Gott liest sich als eine Grenzerfahrung: Gott kommt Mose einerseits ganz nahe. Das gegenseitige Sehen wird in besonderer Weise betont und der Bote JHWH’s wird zu JHWH selbst.

Andererseits lässt sich Gott nicht (be-)greifen: Mose muss in gebührendem Abstand stehen bleiben, die Schuhe ausziehen und verhüllt sein Gesicht. Indem sich Mose auf Gottes Wort einlässt und sich für die ihm zugedachte Aufgabe berufen lässt, überschreitet er eine persönliche Grenze, vor der er zunächst zurückweicht, nämlich vom Ziegenhirten zum Hirten seines Volkes zu werden.

Die Dornbuscherzählung (Ex 3) als hermeneutischer Schlüssel

Die Dornbuscherzählung bildet das biblische Fundament einer noch jungen Exerzitienform, den so genannten „Exerzitien auf der Straße“. Der entscheidende Unterschied zu herkömmlichen Exerzitien ist der doppelte Ortswechsel. Man verlässt seinen Alltag und nimmt eine Auszeit, um Exerzitien zu machen. Man sucht aber auch keinen herkömmlichen Exerzitienort des Rückzugs in die Stille eines Klosters oder Exerzitienhauses auf, sondern übt stattdessen auf der Straße. Die Menschen machen sich auf, auf den Straßen einer (Groß-)Stadt den „brennenden Dornbusch“ zu suchen. Sie werden aufmerksam um zu entdecken, wo sich auf der Straße heiliger Boden für sie auftut und wo sie den Impuls bekommen, ihre Schuhe auszuziehen, d. h. inne zu halten und sich selbst zurückzunehmen, um wie Mose mit verhülltem Gesicht ins Hören zu kommen. Dieser „heilige Ort“ materialisiert sich in konkreten Orten: das kann eine Parkbank sein oder eine Bushaltestelle, ein Hinterhof oder ein historisches Denkmal. Der brennende Dornbusch kann in der Begegnung mit Menschen entdeckt werden, auch in der Begegnung mit sich selbst oder mit Dingen wie Papierschnipseln oder einem Kinderwagen.[2] Anders gesagt: Die biblische Erzählung vom brennenden Dornbusch wird zum hermeneutischen Schlüssel für die Erlebnisse auf der Straße. Sie erzählen diese jeweils am Abend in einer Kleingruppe und hören von den Straßengeschichten der anderen Übenden.

Grenzüberschreitungen auf der Straße

Im Grunde sind Exerzitien in der Tradition des Ignatius immer schon persönliche Grenzüberschreitungen. Die so genannten großen Exerzitien wollen zu einer grundlegenden Wahlentscheidung zurüsten. Sie waren nie nur als eine spirituelle Auszeit, als eine Art Wellness für die Seele, gedacht. Doch gibt es bei den Exerzitien auf der Straße eine spezifische Grenzerfahrung. Denn diese laden dazu ein, jenseits des geschützten Raums der eigenen Wohnung oder eines Bildungshauses sich auf einen geistlichen Übungsprozess einzulassen. Das beginnt schon damit, dass die Gruppe in der Regel in einer einfachen Unterkunft wohnt, die z. B. im Winter Obdachlosen als Notschlafplatz dient. Grenzen werden überschritten, wenn die Exerzitanten und Exerzitantinnen mit jemandem von der Straße in Kontakt kommen, der abgerissene Kleider trägt und nach Alkohol riecht. Grenzen werden überschritten, wenn bewusst Orte aufgesucht werden, die man normalerweise in seinem Leben meidet. Grenzen werden überschritten, wenn entdeckt wird, dass mitten im Lärm der Straße plötzlich eine Stille auftreten und jemand auf einer belebten Kreuzung ein Lied anstimmen und ins Beten kommen kann.[3]

Weiterknüpfen des biblischen Fadens

Die Geschichte von der Erscheinung Gottes im brennenden Dornbusch[4] wird in diesen Exerzitien in einer Weise verwendet, dass dieser biblische Faden gewissermaßen auf der Straße weitergeknüpft wird. Sie schärft den eigenen Blick und ermöglicht die angemessene innere Haltung für das eigene Üben auf der Straße. Und sie dient als hermeneutischer Schlüssel, um die abendlichen Erzählungen nachhallen zu lassen und zu deuten, gerade auch wenn es um die Erfahrung und Überwindung von Grenzen geht.

Lesetipps:

Christian Herwartz, Brennende Gegenwart. Exerzitien auf der Straße, Ignatianische Impulse 51, Würzburg 2011.

Michael Schindler, Gott auf der Straße. Studie zu theologischen Entdeckungen bei den Straßenexerzitien, Berlin u. a. 2016.

Christian Herwartz/Maria Jans-Wenstrup/Katharina Prinz/Elisabeth Tollkötter/Josef Freise (Hg.), Im Alltag der Straße Gottes Spuren suchen. Persönliche Begegnungen in Straßenexerzitien, Neukirchen 2016.

Dr. Michael Johannes Schindler ist Pastoralreferent in der Diözese Rottenburg-Stuttgart mit einem langjährigen Schwerpunkt in der Stadtpastoral. Ehrenamtlich ist er seit 2010 als Begleiter von Straßenexerzitien tätig, die er in einer Forschungsarbeit empirisch und theologisch untersuchte. Der Artikel wurde zuerst publiziert in Bibel und Kirche, 71. Jahrgang,  2. Heft 2016, S. 108-109

Fußnoten:
[1] So wird der hebräische Begriff „achar“ von den meisten Übersetzern wiedergegeben.
[2] Die genannten Beispiele sind einer empirischen Untersuchung zu den Straßenexerzitien entnommen (Schindler 2016). Viele weitere Beispiele von entsprechenden Erfahrungen finden sich auf der Website.
[3] Auch diese Beispiele entstammen den Interviews der empirischen Untersuchung (vgl. Schindler 2016).
[4] Ex 3,1-6 ist die grundlegende Erzählung für die Hauptphase der Exerzitien. Es gibt aber auch andere entsprechende Geschichten wie z. B. die Hagargeschichte in der Frage nach dem eigenen Gottesnamen zu Beginn der Exerzitien oder die Aussendung der Jünger und Jüngerinnen. Gegen Ende der Exerzitien steht die Emmauserzählung quasi als Relecture der Erfahrungen auf der Straße. Weitere biblische Geschichten werden in den Gottesdiensten verwendet.

Der eigenen Sehnsucht folgen

Im Herzen jedes Menschen liegt seine ganz eigene Sehnsucht. Sie zu entdecken ist in jedem Leben ein großer Schritt nach vorne. Niemand hat sich diese Sehnsucht selbst gemacht. Sie ist ein persönliches Geschenk, das unser Handeln von innen her bestimmt. Diese persönliche Sehnsucht können wir nicht durch Gedankenspiele ergründen, aber wollen uns doch von ihr leiten lassen. Kein Fremder kann sie mir wie ein Geheimwort zuflüstern. Besonders ist die Sehnsucht für gläubige Menschen die persönliche Richtungsweisung Gottes im Leben. Wie kann ich ihr auf die Spur kommen?

Gute Erfahrungen habe ich am Anfang von Exerzitien damit gemacht, nach dem Ärger der TeilnehmerInnen zu fragen oder, wenn jemand keinen Ärger kennt, darum zu bitten, auf die Auslöser ihrer Trauer zu schauen. In beiden Fällen sind sie von einer Situation betrübt, die ihrer Lebenssehnsucht widerspricht. So kann mit der Frage offen angesprochen werden: Wie sollte die Situation sein, mit der Sie zufrieden wären?

Auf die erste wie auf die zweite Frage kann jeweils ein Bündel Antworten kommen. Gute Zuhörer und Zuhörerinnen helfen nach zentralen Schlüsselwörtern zu suchen, mit denen der Ärger oder die Traurigkeit und dann die Sehnsucht ausgedrückt wurden. Die Begleiterinnen und Begleiter spüren sofort, wenn die Übenden bei den vorgeschlagenen Schlüsselwörtern innerliche Widerstände spüren. Im nächsten Schritt werden sie aufgefordert, die vorläufigen Aussagen mitzunehmen und auf ihre Stimmigkeit zu prüfen.

Die eigene Sehnsucht führt oft mehrere Aspekte zusammen. So können pauschale Aussagen vermieden werden und die Übenden können auch später an der Feinabstimmung arbeiten.

Auch im Exerzitienbuch nutzt der Ignatius einen ähnlichen Einstieg in die Übungen. Er formuliert ihn in einem einfachen Ge- bet, was nicht jedem Übenden heute sofort möglich ist. Doch er ist noch einen Schritt weiter gegangen, der auch für uns sinnvoll ist. Versuchen wir einmal von der gefundenen Sehnsucht her nach dem Namen des Gottes zu fragen, der oder die uns unsere Sehnsucht mit auf den Weg gab.

Hagar ist in der Bibel die erste Person, deren persönlichen Namen Gott ausspricht (Gen 16,8). Mitten im heftigen Ärger mit Sarei floh Hagar – verzweifelt und hochschwanger – in die für sie besonders lebensbedrohliche Wüste. Dort spricht sie Gott an: „Du, der Du nach mir schaust.“ Die Frau Abrahams hatte sich sehr abweisend ihr gegenüber verhalten, die den Kinderlosen einen Nachkommen schenken sollte. Mit diesem Namen Gottes und mit einer Verheißung konnte sie sogar wieder an ihren alten Platz zurückkehren und einen vitalen Sohn gebären, der der Vater des arabischen Volkes werden sollte.

Auch Mose lebt mit einer herausfordernden Sehnsucht. Er sucht sein Volk. Mose wurde als kleines Kind inmitten einer Vernichtungsaktion des Pharaos von einer von dessen Töchtern gerettet. Mit 40 Jahren fand er dieses Volk bei harter Fronarbeit, durch die es klein gehalten werden sollte. Vor Wut erschlug Mose einen der Peiniger. Ihm gelang die Flucht in die Steppe. Dort heiratete er und hütete das Vieh seines Schwiegervaters. Seinen Sohn nannte er Gerschom, Gast in der Fremde. Doch mit 80 Jahren machte er sich nochmals auf die Suche und ging über die Steppe hinaus (Ex 3) und bekam von Gott den atemberaubenden Auftrag, sein Volk aus der Knechtschaft zu befreien. Da fragte er ihn in seiner Not: „Wie heißt Du?“ Und er hörte: „Ich bin da und werde da sein. Das ist mein Name.“ Nun hatte er in ihm eine mitziehende Heimat gefunden.

Diese Heimat ist jedem Menschen mit dem eigenen persönlichen Namen verheißen, mit dem wir uns auf den Weg machen.

Eine junge Frau fand nach Ausgrenzungserfahrungen ihren Gottesnamen in den Straßenexerzitien: „Du, der (und später die) Du mich schön ansiehst.“ – Ich selber fand über meinen Wunsch nach Solidarität seinen Namen: „Du, der Du mit uns Menschen solidarisch bist“ – mitten in einer Gesellschaft, die so stark am Kapital orientiert und damit oft zutiefst unsolidarisch ist.

(zuerst erschienen in: Jesuiten 2016, 2)

Aufmerksam werden

Weglassen: Geldbeutel, Handy, iPod, .... (Foto: Martin Strattner CC-BY-ND 2.0)

In den letzten zehn Jahren wurde bei Kirchen­ und Katholikentagen eine Aufmerk­samkeitsübung angeboten. Jeweils etwa 50 Menschen gingen zwei oder drei Stunden auf die Straßen der Stadt. Als Hilfestel­lung bekamen sie zwei Sätze aus dem Lukasevangelium (10,3+4) mit auf den Weg. In diesem Bibeltext bereitet Jesus 72 Jünger und Jüngerinnen darauf vor, in die Städte und Ortschaften zu gehen, in die er noch kommen will. Anschließend erzählten die Teilnehmenden in kleinen Gruppen von ihren überraschenden Erfahrungen. Ähn­lich nahm Jesus sich die Zeit, den Jüngern zuzuhören. Bei uns hörten jeweils einige Begleiterinnen und Begleiter mit Erfah­rungen aus Straßenexerzitien zu. Jetzt möchte ich Sie an dieser Stelle einladen, sich auf solch eine Zeit der Aufmerksam­keit einzulassen.

In der biblischen Vorlage weist Jesus zu­erst auf die Situation hin, die die Jünger vorfinden werden. Ähnliches gilt auch für uns. Die Jünger gingen aus dem geschütz­ten Kreis hinaus in ein oft feindlich ge­sinntes Umfeld. Im eigenen Kreis hatten sie sich unter dem Schutz von Jesus, der wohl jeden zu Wort kommen ließ, eine Stellung erarbeitet. Doch das wird sich auf der Reise ändern: „Ihr überschreitet eine Grenze. Legt deshalb alle Besserwis­serei ab. Hört aufmerksam zu. Nun geht! Ich sende euch wie Lämmer mitten unter Wölfe“, lauten die Worte Jesu.

Dann gibt Jesus noch vier Anweisungen:

1. Lasst das Futter für die Wölfe weg. „Nehmt keinen Geldbeutel mit.“ Ohne Geld seht ihr eure Geschwister besser, die auch ohne Geld auf der Stra­ße sind, und könnt ihre Bedürfnisse besser spüren: Durst, Hunger, den Zu­ gang zu einer Toilette, Regenkleidung. Dann seid ihr keine Kunden mehr, de­ren Bedürfnisse auf Zuruf befriedigt werden. Auch andere Abhängigkeiten, die uns zur Beute von Wölfen werden lassen, können wir wenigstens für einige Zeit weglegen: die Uhr, Handy, Online­präsenz …

2. Kauft kein Überlebenspaket ein. „Lasst auch den Rucksack weg.“ Die Jünger dürfen jede Absicherung vermeiden, außer der, sich ganz auf die Frohe Bot­schaft Jesu zu verlassen.

3. Geht in die Haltung der Achtung vor euren Gastgebern. „Zieht eure Schu­he sofort aus“, nicht erst beim Betre­ten der Häuser, sondern schon hier. Vertagt eure Geste der Achtung nicht! Legt die Schuhe der Distanz weg: Die Schuhe mit hohen Hacken, durch die wir auf andere hinabsehen können; die Turnschuhe, mit denen wir oft bei Konflikten schnell weglaufen; die Schuhe mit Stahlkappen, mit denen wir zutreten können …. Jeder von uns trägt andere „Schuhe“, die eine Distanz zum Boden und zur Wirklichkeit vor Ort herstellen.

4. „Und grüßt nicht unterwegs.“ Wie können wir diese Anweisung verstehen? Als ich in einer überschaubaren Runde den Text aus dem Lukasevangelium vorlas, sprang eine ältere Ordensfrau auf und schrie gerade­ zu: „Ich will doch nicht unhöflich sein!“ Doch auch diesen Ratschlag müssen wir in unseren Alltag übersetzen. Ich schlage vor: Lasst euch von einengenden Regeln nicht aufhalten und grüßt vielleicht mal diejenigen, die ihr sonst nicht grüßt. Mit manchen Höflichkeitsregeln können wir den Ruf Gottes in den Hintergrund drü­cken. Er wird in vielen Alltagskonventio­nen beiseitegeschoben.

Soweit einige Erläuterungen zu dem Bibel­text. Nun lade ich die Sie ein, sich auf eine Zeit der Aufmerksamkeit mit diesen Anweisungen Jesu einzulassen. Was sehen wir alles – auch in gewohnter Umgebung – neu, wenn wir einige vertraute Dinge weglegen? An­schließend hilft ein Gespräch mit Freundin­nen und Freunden, um die Erfahrungen zu sichten. Manchmal weitet das Lesen der Er­fahrungsberichte auf dieser Webseite unseren Blick, oder im Buch: „Im Alltag der Straße Gottes Spuren suchen – Persönliche Begegnungen in Stra­ßenexerzitien“ (Neukirchener Verlage 2016).

Ein Psalm für Straßenexerzitien

„Respektvolles Sehen und Hören“ ist ein Leitmotiv der Straßenexerzitien. Um das Langsamwerden geht es dort, um Gottes Spuren auf den Straßen zu sehen, um seine Stimme zu hören.

Um das Sehen und Hören geht es auch in diesem schönen Psalm, den wir heute  im Gottesdienst beteten:

Herr, deine Güte reicht, so weit der Himmel ist,
und deine Wahrheit, so weit die Wolken gehen.

Deine Gerechtigkeit steht wie die Berge,
und dein Gericht ist tief wie das Meer.
Menschen und Tieren willst du, Herr,
ein Helfer sein.

Was deine Güte ist, lehr mich begreifen,
und deine Wahrheit mach mir bekannt;
denn ich verstehe nichts, wenn du es mir nicht sagst.

Täglich umgeben mich Worte und Stimmen,
aber ich höre gar nicht mehr hin;
denn deine Stimme höre ich nicht mehr heraus.

Wenn ich nichts hören kann, hilf mir dich rufen;
hilf mir dich hören, wenn du mich rufst;
hilf mir gehorchen, wenn du mich berufen willst.

Dein Wort der Wahrheit ist unsere Bewahrung;
aus deinem Leben leben wir auch;
und wir erkennen erst in deinem Licht das Licht.

Psalmlied vom Jahr 1965 aus dem Evangelischen Gesangbuch (EG 277) basierend auf dem Psalm 36, 6-10. Der Kehrvers und die 1. Strophe sind die deutsche Übertragung des Psalmes 36, 6-7. Die Strophen 2-5 in Anlehnung an den Psalm stammen von Gerhard Valentin.

Straßenexerzitien auf dem Katholikentag 2016

Rucksackberge_klein (Foto: Gabriele Hesse)

Rucksackberge (Foto: Gabriele Hesse)

Auf dem Katholikentag 2016 in Leipzig haben sich an zwei Tagen jeweils gut 50 Menschen für 2 Stunden auf die Straße begeben mit Lk 10, 1-9 als Impuls. Darin gibt Jesus uns folgendes mit auf den Weg:

Geht!
Ich sende euch wie Schafe mitten unter die W
Nehmt keinen Geldbeutel mit,
keine Vorratstasche und keine Schuhe!
Grüßt niemand unterwegs! (k 10, 3-4)

 

Viele haben ihre Taschen und Geldbeutel weggelassen.

Verein für Liebesübungen

Heute ging ich recht spontan in Halle (Saale) eine Stunde auf die Straße – ohne große Erwartungen und Vorsätze. Und doch wurde ich mit einer überraschenden Einsicht beschenkt.

Auf meinem Weg kam ich an einen Laternenpfosten. Dort sah ich einen kleinen Aufkleber: Verein für Liebesübungen stand drauf, unter einem Foto, auf dem ein Mann eine Schimpansin küsst.

Das Wortspiel mit dem Vereinsnamen des VfL Halle 96 ging mir in der Folge weiter durch den Kopf.

Eigentlich, so erschien es mir, sind wir mit den Straßenexerzitien nichts anderes: ein „Verein für Liebesübungen“.

Denn „Gott ist Liebe“ – und wenn wir auf die Straße gehen, um Gott zu begegnen, dann begegnen wir letztlich seiner Liebe.

Exerzitien sind „Übungen“, und bei Exerzitien auf der Straße üben wir ein, Gottes Liebe auf den Straßen zu sehen, und zu erwidern.

Auf meinem Weg durch Halle drangen dann Posaunenklänge an mein Ohr. „Am Brunnen vor dem Tore“ und andere Volkslieder, angestimmt im Garten des Gemeindehauses der evangelischen Paulusgemeinde, aus Anlass eines Frühlingsfestes für Einheimische und Flüchtlinge.

Eine bunte Runde saß da zusammen, über alle Nationen und Hautfarben vereint. Ganz unspektakulär und doch so schön.

„Verein für Liebesübungen“ – so kam es mir dann vor – das könnte auch eine gute Beschreibung für die Kirche sein. Denn „Da ist nicht mehr Grieche oder Jude, Beschnittener oder Unbeschnittener, Nichtgrieche, Skythe, Sklave oder Freier, sondern alles und in allen Christus“, so schreibt Paulus über die Urkirche. Und Christus, das ist Liebe.

Vielleicht ist das unser Auftrag in der heutigen Zeit mehr denn je: Verein für Liebesübungen zu werden. Was denkt ihr?

 

 

Gott auf der Straße

Die Doktorarbeit von Michael Schindler, Begleiter der Exerzitien auf der Straße, ist im Lit-Verlag erschienen:

Michael Johannes Schindler (2016): Gott auf der Straße. Studie zu theologischen Entdeckungen bei den Straßenexerzitien Reihe: Tübinger Perspektiven zur Pastoraltheologie und Religionspädagogik
Bd. 54, 464 S., 49.90 EUR, br., ISBN 978-3-643-13295-6

Diese Studie folgt einem neueren Ansatz, demzufolge Theologie als Kommentar zu gläubiger Praxis verstanden wird. Die kommentierte Praxis sind die Exerzitien auf der Straße. Diese junge Form von Exerzitien wird durch eine qualitativ-empirische Studie erhellt und durch eine soziologische Skizze zu einer Phänomenologie der Straße ergänzt. Es wird aufgedeckt, welche bibelhermeneutische, exegetische und spirituelle Qualität diese Praxis enthält, und inwiefern hier in dogmatischer Perspektive von einem „Sakrament der Straße“ gesprochen werden kann. Aus diesem Befund werden Optionen für die Pastoral getroffen.

Vom Autor sind hier zwei weitere Artikel publiziert:

Die barmherzige Straße – überraschende Gottesentdeckungen bei Straßenexerzitien

Wenn Straße heiliger Boden wird

Die barmherzige Straße – überraschende Gottesentdeckungen bei Straßenexerzitien

Durchblick auf der Straße (Foto: Kathrin Happe)

Von Michael Schindler, Friedrichshafen

Straße mit Barmherzigkeit in Verbindung zu bringen wirkt paradox. Menschen, die auf der Straße leben (müssen), kennen die Unbarmherzigkeit eines solchen Daseins, wo selbst die Schicksalsgenossen potentiell unbarmherzige Konkurrenten sind. Wer auf die Straße gesetzt wurde, hat die Unbarmherzigkeit der Arbeitswelt kennengelernt. Und eine Kindheit auf der Straße blendet bestenfalls in sozialromantischen Verklärungen die dieser zugrunde liegende Enge und Armut des Zuhauses aus.

„Die barmherzige Straße – überraschende Gottesentdeckungen bei Straßenexerzitien“ weiterlesen