„Dahin wage ich mich nicht“
Von Christian Herwartz
Leseprobe Seite 69/70 aus Herwartz, Christian (2006) Auf nackten Sohlen. Exerzitien auf der Straße. Ignatianische Impulse, Band 18. Echter Verlag, Würzburg.
Im Sommer 2003 fragte eine kleine Gruppe aus der Emmausbewegung an, ob sie zu Exerzitien nach Berlin kommen könnten. Sie wurde vom schon verstorbenen Bruder Jan gegründet, der regelmäßig in Gefängnisse ging, dort Bibelgesprächsgruppen gründete und der auch Land, auf Land ab die Treffpunkte von Drogenabhängigen kannte. Er ging vielen Menschen nach und lud sie zu Treffen ein. „Die Menschen in unserer Gruppe sind alle aus bedrückenden Lebensumständen umgekehrt. Sie wurden oft mit ihren Hoffnungen, mit ihren Fragen nach erfülltem Leben, nach Gott nicht ernst genommen,“ sagte er mir einmal. „Und sie sind mit ihrem Hunger nach Antworten und Liebe aus den herrschenden Anpassungsdruck ausgestiegen.“
Nachdem diese Exerzitiengruppe die Geschichte vom brennenden Dornbusch gehört hatte, entgegnete einer: „Ich weiß genau, wohin ich gehen soll, wo Gott auf mich wartet. Aber ich wage mich nicht, dorthin zu gehen.“ Da sagte sein Nachbar: „Dann komme ich mit.“ Am nächsten Tag gingen sie zusammen zum Bahnhof Zoo und setzten sich auf den Busparkplatz. Sie zogen ihre Schuhe aus und ihr Hund legte sich zu ihnen. Auf der anderen Seite der kleinen Straße warteten die Stricher auf Kunden. Nach 90 Minuten beendeten sie ihre Meditation und kamen nach einem Gebet in der Kirche gegenüber zurück nach Kreuzberg. Abends erzählten sie voll Freude: „Mit der Geschichte vom brennenden und nicht verbrennenden Dornbusch war es möglich, an diesem Ort ohne Angst zu verweilen. Morgen gehen wir nochmals dort hin.“ So taten sie es auch und kamen am nächsten Tag wieder zufrieden zurück. Am dritten Tag konnte der Kollege nicht mitgehen. So zog der vorher Ängstliche mit seinem Hund alleine los. Er setzte sich wieder auf den Busparkplatz und meditierte. Nach einer dreiviertel Stunde kam einer der Stricher in seine Nähe und rollte sich eine Haschzigarette. Er hatte Verständnis für die Pause seines Nachbarn: „Anders kannst Du wohl Deine Arbeit nicht durchhalten.“ Sie schwiegen. Eine halbe Stunde später kam ein Stricher nach dem anderen zu ihm. Zum Schluss waren sie zu siebt und erzählten sich gegenseitig ihre Lebensgeschichten. Auch der Übende erzählte von den zehn Jahren, die er als Stricher und später als Kunde hier war. Dann hatte er vier Jahre im Gefängnis verbracht.
Abends erzählte er von dem Geschenk der Gemeinschaft auf dem Busparkplatz, dem Austausch und seinem Angebot, dorthin zurückzukehren. Er machte den Jungen deutlich, dass ein Ausstieg aus dem Leben als Stricher möglich ist. Davon wollten sie jetzt noch nichts hören. Im Gottesdienst sagte er: „Ich hatte vor drei Tagen große Angst dorthin zu gehen. Doch jetzt bin ich bereit, mich von Gott dorthin schicken zu lassen. Dann kann ich ihnen von seiner Liebe zu uns Menschen berichten und einen Weg zeigen, mit dieser Liebe anderswo weiterzuleben. Noch höre ich Gottes Ruf nicht, aber ich bin bereit, mich von ihm schicken zu lassen.“ Er war in der großzügigen Offenheit Gott gegenüber angekommen und antwortete damit auf das Geschenk seines Lebens und der Liebe Gottes zu allen Menschen.
Gott ist kein kleinkrämerisch Rechnender, sondern ein überschwänglich großzügiger Gott. Wir dürfen in unserem Leben immer deutlicher sein Verhalten in uns nachahmen und offener für sein Handeln durch uns werden.
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