Franziska Passek: Exerzitienbericht 19. Juli 2003 (Quelle)
Von verschiedenen Seiten wurde ich gebeten, etwas über meine letzten Exerzitien zu Papier zu bringen.
Im Herbst 2002 las ich einen Artikel mit der Überschrift „Exerzitien auf der Strasse“. Es wurde gleich zu Anfang erklärt, dass im vergangenen Sommer zwölf Frauen und Männer der unterschiedlichsten Berufe, Lebensformen und Alters zehn Tage Exerzitien in Köln gemacht hatten. Meine spontane Reaktion dazu äusserte ich mit lauter Empörung: „ Na die müssen doch verrückt sein, Exerzitien in der Grosstadt, in Lärm und Verkehr und tausenden von Menschen. Das ist das Letzte was mir passieren könnte. Für meine Exerzitien brauche ich Stille, eine ruhige Kapelle und möglichst viel Natur!“
Aus lauter Neugier habe ich allerdings den Artikel zu Ende gelesen. Obwohl er wirklich nicht lang war, wusste ich plötzlich, nach dieser kurzen Zeitspanne, dass ausgerechnet ich, die dies so abwegig fand, genau dies tun sollte: Gott dort suchen, wo ich zwar nie geleugnet hätte, dass Er dort nicht auch ist, aber wo ich Ihn normalerweise nie ausdrücklich suchen würde.
Und so habe ich mich nach einigen Ausreden und Zögern meinerseits angemeldet. Im Vorfeld erfuhr ich nur, dass die Teilnehmer sehr einfach leben, in Mehrbettzimmern schlafen, das Essen abwechselnd kochen, am Tag in die Stadt an besondere Brennpunkte geschickt werden und am Abend nach der gemeinsamen Eucharistiefeier und dem warmen Essen über ihre Erfahrungen in der Runde berichten.
In diesem Jahr hatten sich weniger Teilnehmer angemeldet. So wurde unsere Fünfergruppe von Pater Christian (einem Jesuit) und Schwester Alexa (eine Franziskanerin) begleitet.
In unserem provisorisch eingerichteten Gebetsraum hatte Schwester Alexa in der Mitte einen grossen Dornbusch aufgebaut.
Als Einstieg in unsere Exerzitien dachte Pater Christian mit uns, über die allen vertraute Stelle vom brennenden Dornbusch nach. Die für mich wichtigsten Impulse waren, dass Mose bei seiner täglichen Arbeit etwas Aussergewöhnliches sieht, neugierig wird und hingeht. Daraufhin wird ihm gesagt, dass er seine Schuhe ausziehen soll, d.h. alles ablegen , was einen grösser und irgendwie wichtig macht, um sich dann schutzlos und vorsichtig dem Geheimnis zu nähern und dabei schliesslich Gott zu begegnen.
Diese Geschichte sollte jedem von uns helfen, seine ureigenen „Dornbuscherfahrungen“ zu machen, sich gleichsam Menschen zu nähern, mit denen man im normalen Alltag keine Berührungspunkte oder seine persönlichen Schwierigkeiten hatte. In Köln gab es dafür mehr als genug Anlaufpunkte, wie z.B. Plätze, an denen sich Obdachlose häufig aufhalten, Treffpunkte für Drogenabhängige oder Prostituierte, das Sozialamt, Hospize, Gefängnisse, die Babyklappe, der Strassenstrich usw.
Mein Weg führte mich fast alle Tage in das Zentrum von Köln, zum Dom und zum Bahnhof. Dort versuchte ich mit Wohnungslosen und Prostituierten ins Gespräch zu kommen. Ich fand relativ schnell Kontakt und habe so manches Detail aus ihrem Leben erfahren. Dabei wurde mir bewusst, dass ich im Vergleich zu diesen Menschen „im Himmel“ aufgewachsen bin und ein sorgloses Leben führen konnte, ohne den täglichen Kampf ums Überleben. Erschreckend fand ich, dass die meiste Armut wirklich nicht gleich zu sehen ist und sich einem erst nach näheren Kontakten zu den Betroffenen und längerem Hinsehen erschliesst.
Ausserdem erfuhr ich, dass es noch viel Schlimmeres gibt, als Prostitution aus einer finanziellen Notlage heraus. Ich lernte eine junge Frau kennen, deren Mutter in der frühen Kindheit starb und deren Vater einer geheimen Sekte angehört, in der sexueller Missbrauch von Kleinstkindern bis hin zu Babys normal ist. Das derartige Praktiken diese Frau psychisch kaputt gemacht und dadurch auch finanziell und sozial an den Rand ihrer Existenz gebracht haben, ist wahrscheinlich auch für Aussenstehende nachvollziehbar.
Wir haben uns sehr lange über „Gott und die Welt“ unterhalten. Ohne dass ich danach gefragt hätte, erklärte sie mir, dass sie Atheistin sei, denn wie sollte sie an einen Gott glauben, wo sie doch noch nicht einmal an sich selber glauben könne. Dieser Satz hat mich sehr betroffen gemacht und lässt mir heute noch keine Ruhe. Er steht jetzt auf der Tasse, die wir Exerzitienteilnehmer im Abschlussgottesdienst als Erinnerung bekamen und auf welche wir etwas schreiben sollten, was wir aus dieser Woche mitnehmen wollten.
In den unterschiedlichsten Begegnungen der Exerzietien habe ich es für mich als sehr schwer empfunden, vielen Menschen völlig ohnmächtig gegenüber stehen zu müssen, ohne irgendwie helfen zu können. Getragen hat mich in den Augenblicken der Ohnmacht, die Hoffnung und Zuversicht, dass der Gott, der sich im brennenden Dornbusch Mose als der „Ich bin da“ offenbart, auch hier in diesen Menschen und für diese Menschen da ist.
Wenn ich auf all meine Begegnungen mit den im Schatten lebenden Menschen von Köln zurückblicke, kann ich nur dankbar sein für die erlebte Offenheit, durch die ich mich reich beschenkt fühle. Ich denke mit Hochachtung an Menschen zurück, die trotz der widerlichsten Lebensumstände nicht den Mut zum Leben verloren haben, sondern sich an den bescheidensten Dingen erfreuen und wenn es nur ein einfaches Pokerspiel ist.
Es waren kostbare Stunden mit ihnen, in denen ich lernen musste, die Schuhe vorher auszuziehen und mich möglichst auf Zehspitzen zu nähern, um nicht durch plumpes Interesse noch mehr kaputt zu machen, als es sowieso schon ist.
Heute, eine Woche nach dem Ende meiner Exerzitien, denke ich noch täglich an all die Menschen, die mir in Köln wichtig und fast zu Freunden geworden sind.