Von Andrea Tafferner, Katholische Hochschule NRW, Münster
Für ein Buchprojekt wurde ich gebeten, ein Fallbeispiel aus der Sozialen Arbeit aus Sicht der Theologie zu kommentieren. Eine theologische Perspektive einzubringen heißt für mich auch, zu beschreiben, wie spirituelle Grundhaltungen in der Sozialen Arbeit einen selber verändern und dadurch auch die Beziehung zu den Menschen prägen, die aus unterschiedlichsten Gründen professionelle Unterstützungsleistungen erhalten. Ein Kernthema der Beziehungsgestaltung in professionellen Kontexten ist die Balance von Nähe und Distanz. Durch die Straßenexerzitien ist mir deutlich geworden, dass es „Schuhe der Distanz“ gibt, die eine offene Begegnung mit anderen Menschen beeinträchtigen. Oder noch viel mehr: die auch die Freude, die von innen kommt, hemmen können.
Spiritualität ist in der Sozialen Arbeit immer noch ein zartes Pflänzchen. Aber es gibt Ansätze, in denen die Haltung der „Achtsamkeit“ als Basis einer spirituell sensiblen sozialen Praxis gesehen wird, die zu einer aufmerksamen Präsenz führt[1]. „At all times, avoid being carried away by inner mental chatter … Our inner chatter labels, analyzes, categorizes, and judges ourselves and our clients, and misses what is really happening.”[2] Achtsamkeit lehrt also zunächst eine Form der Zurückhaltung, auch eine Zurückhaltung mit sogenanntem „Erklärungswissen“. „Kaum nehmen wir etwas wahr, fallen wir sofort ins Denken, Überlegen, Erwägen, Beurteilen und oft ins Grübeln. Das Ende dieser Überlegungen ist meistens, dass wir mit vielem nicht einverstanden sind und alles verändern wollen. Damit taucht in uns der ‚große Macher‘ auf, der in hektische Überaktivität fällt. Die Wahrnehmung kommt zu kurz.“[3] Wahrnehmung und Achtsamkeit zeigen sich daher als erstes in der Form des Sich-Zurücknehmens und des Zuhörens. Aber Achtsamkeit ist auch Wachsamkeit! Wachsamkeit für das in der jeweiligen Situation angemessene Handeln. Achtsamkeit, so der buddhistische Mönch Thich Nhat Hanh, meint, wach und bereit zu sein, „mit jeder Situation, die entsteht, geschickt und intelligent umzugehen“[4]. Es geht um die Bereitschaft, „nach besten Kräften zu handeln“[5].
Die Schuhe der Distanz ablegen
An dieser Stelle ist der Ort für die Straßenexerzitien, die eine Form der ignatianischen Spiritualität sind, Achtsamkeit einzuüben. Ausgehend von der biblischen Erzählung von Mose und dem brennenden Dornbusch, der brennt und doch nicht verbrennt (vgl. Exodus 3), werden die Teilnehmer/innen aufgefordert, sich wie Mose voller Neugier dem brennenden Dornbusch zuzuwenden und sich (zumindest bildlich) die Schuhe auszuziehen. Mit der Begründung „Das ist heiliger Boden“ hört Mose, wie er sich dem Dornbusch nähert, die Aufforderung, sich die Schuhe auszuziehen. Dadurch entledigt sich Mose der Distanz zum Boden, des „alltäglichen Abstands zur Realität“[6] und „hört nun neu von der Versklavung seines Volkes und damit auch von seiner eigenen verdrängten Not und wie ihm eine wichtige Rolle auf dem Weg der Befreiung zugedacht ist.“[7]
Zu einem brennenden Dornbusch kann im Prinzip jede Begegnung werden; in den Exerzitien sind es Orte in einer Stadt, zu denen es die Teilnehmer/innen hinzieht, weil sie merken, „dass ihre Interessen, ihre Gefühle, ihre Sehnsüchte angesprochen werden. Dort bleiben sie stehen und ziehen zumindest innerlich ihre Schuhe aus und üben sich in Aufmerksamkeit: Sie meditieren, beten, versuchen vor ihren Ängsten nicht zu fliehen, werden ansprechbar.“[8] Das Ausziehen der Schuhe ist ein Bild dafür, respektvoll sehen und hören zu wollen. Es geht darum, die „Schuhe des Herzens aus(zu)ziehen und ganz konkret die Schuhe des Weglaufens, der Distanz, des Größerseins, des Vergleichens, des Urteilens und des verletzenden Zutretens ab(zu)legen. Das Leben, ja Gott selbst will mit uns sprechen, an welchem Ort und aus welchem stacheligen Dornbusch heraus dies auch immer geschehen soll. Dann stehen wir plötzlich auf heiligem Boden, mitten auf den Straßen des Lebens. Wir sind zum Hören und Fragen eingeladen.“[9]
Heiligung des Lebens
„Die Schuhe der Distanz ausziehen“ bezieht sich auf die Distanz, die durch fehlende Wertschätzung anderen gegenüber einen Graben zwischen mir und der anderen Person zieht. Die „Distanz“, die in der Sozialen Arbeit mit der richtigen „Balance zwischen Nähe und Distanz“ angesprochen wird, nimmt Distanz noch in anderer Weise in den Blick. Zum einen geht es darum, eine Achtung vor dem anderen zu haben, die dafür sorgt, nicht übergriffig zu werden. Und zum anderen darum, sich nicht mit den Problemen des anderen zu identifizieren. Diese Form der angemessenen Distanz bei gleichzeitiger Nähe ist auch im biblischen Gebot der Nächstenliebe gemeint. Denn dieses Gebot verbindet eine Haltung des Wohlwollens, die dem anderen Gutes will, mit der Achtung vor dem Eigensein des anderen. Drei Beobachtungen zu diesem Gebot machen das deutlich:
Erstens: Bei dem Gebot, den Nächsten zu lieben wie sich selbst, das sich im Alten Testament im Buch Levitikus 19,18 findet[10], fällt auf, dass das Verbum „lieben“ nicht wie sonst üblich mit einem Akkusativ verbunden ist („jemanden lieben“), sondern mit einem Dativ. Die richtige Übersetzung wäre daher „jemandem Liebe erweisen, liebevoll handeln gegenüber jemandem, jemandem Gutes tun“[11].
Zweitens: Das Gebot der Nächstenliebe ist Teil eines sorgfältig komponierten Textes, der im 19. Kapitel des Buches Levitikus 37 Verse umfasst und von der Aufforderung gerahmt wird, „heilig“ zu sein, wie Gott heilig ist (vgl. Lev 19,2). Die Heiligung des eigenen Lebens wird in den einzelnen Versen durch einen heiligenden Umgang mit dem Leben insbesondere von Personen, Pflanzen und Tieren näher beschrieben. Das Leben zu heiligen bedeutet: Alles Leben verlangt Achtung seines „Eigenseins, Eigensinns und Eigenwertes“[12]. Oder anders gesagt: Heiligung bedeutet den Schutz und die „Absicherung“ von Personen, Tieren, Pflanzen und Dingen „vor meinen Übergriffen“[13]. Levitikus 19 verlangt die Einhaltung von Grenzen dort, wo die Würde und die Rechte anderer ins Spiel kommen. „Das gilt insbesondere dann, wenn sie ihre Rechte uns gegenüber nicht selber behaupten können oder wenn eine Verletzung ihrer Rechte nicht geahndet werden kann, so dass sie ihre Sache ganz auf Gott stellen müssen. … ‚Heiligkeit’ bedeutet … Absicherung der Dinge vor meinen Übergriffen, denen sie sonst wehr- und schutzlos ausgeliefert sind – der Reihe nach: die Eltern, die Alten und die Feiertage, Gott selber und seine Opfer; die Armen, die Betrogenen, die Tagelöhner, die Blinden, die Tauben, die Benachteiligten, die Verleumdeten, die Gehassten, die Sklaven, die Fremden, die Tiere, die Pflanzen und Früchte – und nicht zuletzt unser eigener Leib.“[14] „Lieben“, jemandem wohlwollend begegnen, heißt vor allem die Würde des anderen zu achten und seine Rechte zu respektieren. Gerade dort, wo man mit der Lebenswelt auch die Privatsphäre eines Menschen betritt, ist die Haltung der Achtung unabdingbar. Auch Liebe kann übergriffig werden.
Drittens: Die Begründung, warum ich „Taten der Liebe erweisen“[15] soll, steckt in der zweiten Hälfte des Gebotes. Der Text gewinnt an Klarheit, wenn das „im Judentum breit bezeugte andere Verständnis“[16] herangezogen wird, das anstelle des „wie dich selbst“ übersetzt: „Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du“ – will sagen: „Er ist ein Mensch wie du!“[17]. „’Sei liebend zu deinem Genossen als zu einem der wie du ist’, heißt es in der Schrift . . . Ich soll, buchstäblich übersetzt, ‚ihm lieben’: mich ihm liebend zuwenden, ihm Liebe erzeigen, Liebe antun; und zwar als einem, der ‚wie ich’ ist: liebesbedürftig wie ich, der Liebestat eines Rea [hebräisch: Nächster] bedürftig wie ich, – wie ich es eben von meiner eigenen Seele her weiß.“[18] In der Liebe zum Nächsten entdecken wir unser gemeinsames Menschsein mit all seinen Abgründen, seinen Verletzungen, seinem Wunsch nach Anerkennung und Liebe. Aus dieser Erfahrung gemeinsamen Menschseins erwächst das Gefühl der Verbundenheit mit allen Menschen und die Fähigkeit zu Mitgefühl und Solidarität.
Das „Ausziehen der Schuhe“ als Herausforderung für die Soziale Arbeit
Straßenexerzitien sind für alle, die in sozialen Feldern tätig sind, eine große Chance, der eigenen Sehnsucht auf die Spur zu kommen. Ich lege ja in meinem eigenen Herzen die Schuhe ab, ich nähere mich dem brennenden Dornbusch, mache mich verwundbar – aber auch zugänglicher für Gottes Wort. Wo der berufliche Auftrag heißt, sich in das Leben anderer einzumischen, da sind nicht nur ethische Standards gefragt[19], sondern auch die Fähigkeit des achtsamen Hörens: den anderen hören und Gott hören.
Zum Weiterlesen:
Andrea Tafferner: „Keiner weiß, wie er wirklich ist.“ Der Zugang zum „Fall“ aus theologischer Perspektive, in: Brigitta Michel-Schwartze (Hg.): Der Zugang zum Fall. Beobachtungen, Deutungen, Interventionsansätze, Wiesbaden: Springer VS 2016, 153-174.
Anmerkungen:
[1] Von „spiritually sensitive social work” sprechen Edward R. Canda und Leola Dyrud Furman in ihrem Buch “Spiritual Diversity in Social Work Practice. The Heart of Helping”, New York 1999. Vgl. Andrea Tafferner: „Hört mir denn keiner zu?“ Aufmerksame Präsenz als Zentrum einer spirituell sensiblen Sozialen Arbeit, in: Krockauer, Rainer; Bohlen, Stephanie; Lehner, Markus (Hrsg.), Theologie und Soziale Arbeit. Handbuch für Studium, Weiterbildung und Beruf, München 2006 , S. 116-124.
[2] Canda, Furman 1999, 188.
[3] Franz Jalics: Kontemplative Exerzitien. Eine Einführung in die kontemplative Lebenshaltung und in das Jesusgebet, 8. Aufl., Würzburg 2003, 36.
[4] Thich Nhat Hanh: Das Wunder der Achtsamkeit. Einführung in die Meditation, 11., überarb. Aufl., Berlin 2002, 26.
[5] Ebd.
[6] Christian Herwartz: Auf nackten Sohlen. Exerzitien auf der Straße, (Ignatianische Impulse Bd. 18), Würzburg 2006, 53.
[7] Christian Herwartz (Hrsg.): Gastfreundschaft. Der ständige Wechsel vom Gast zum Gastgeber und wieder zum Gast. Textsammlung aus Anlaß des 25jährigen Bestehens der Wohngemeinschaft Naunynstraße und darin der Jesuitenkommunität Kreuzberg, Berlin 2004, 295.
[8] Ebd. 294.
[9] Herwartz 2006, 53. „Sehen, Hören, Wertschätzen des Anderen sind an solchen Orten die vorrangigen Tätigkeiten.“ (Ebd. 32)
[10] Im Neuen Testament findet sich das Gebot in Mk 12,28-31; Mt 22, 34-40; Lk 10,25-28; Röm 13,8-10; Gal 5,14.
[11] Erich Zenger: Am Fuß des Sinai. Gottesbilder des Ersten Testaments, Düsseldorf 1993, 165.
[12] Daniel Krochmalnik: Schriftauslegung. Die Bücher Levitikus, Numeri, Deuteronomium im Judentum, (Neuer Stuttgarter Kommentar – Altes Testament 33/5), Stuttgart 2003, 64.
[13] Ebd.
[14] Ebd.
[15] Vgl. Zenger 1993, 165.
[16] Ebd. 166.
[17] Ebd. 167.
[18] Martin Buber: Vorbemerkung, in: Cohen, Hermann, Der Nächste. Vier Abhandlungen über das Verhalten von Mensch zu Mensch nach der Lehre des Judentums. Mit einer Vorbemerkung von Martin Buber, Berlin 1935, 6.
[19] Die gibt es selbstverständlich: Vgl. „Ethics in Social Work, Statement of Principles“ (auch “Statement of ethical Principles”) der International Association of Schools of Social Work (IASSW) und der International Federation of Social Workers (IFSW) von 2004: http://ifsw.org/policies/statement-of-ethical-principles/
Deutsche Übersetzung auf der Homepage des Deutschen Berufsverbandes für Soziale Arbeit e.V.: http://www.dbsh.de/fileadmin/downloads/grundlagenheft_-PDF-klein_01.pdf