Aus der Impulsreihe für Begleiter*innen von Straßenexerzitien von Nadine Sylla, Josef Freise, Maria Jans-Wenstrup, Dorothee Steif und Elisabeth Kämmerling
Wenn wir von „Randgruppen“ und den „Ausgegrenzten“ sprechen und von der „Mitte der Gesellschaft“ –wen meinen wir da eigentlich? Und wer definiert, wer Mitte und wer Rand ist? Und wie ist gesellschaftliche Macht damit verknüpft?
Unsere Bilder von Norm und „Normalität“ sind nicht naturgegeben, sondern werden gesell-schaftlich ausgehandelt. Dabei profitieren Gruppen, die der Norm entsprechen,von dieser Einteilung und brauchen einen „Rand“, um sich als „Mitte“ verorten zu können. Diese anonyme, sehr subtile Art der Macht kann bewusst ausgeübt werden, aber auch unbewusst reproduziert werden.
Die Vielschichtigkeit und Einzigartigkeit von Menschen hat in solchen „Normalitätskonstruktionen“ keinen Platz. Privilegierte Menschen sind viel mehr repräsentiert in Gesellschaft, Medien, Politik und Kirche. Wo dominieren Weiße, nicht-beeinträchtigte, heterosexuelle Akademiker unsere Gesellschaft und entscheiden aus ihrer Erfahrungswelt über Menschen, die viel diverser sind und mit unterschiedlichen Erfahrungen und Bezugspunkten unsere Gesellschaft ausmachen?
Diskriminierung stellt daher ein gesellschaftliches Verhältnis dar, bei dem niemand außen steht. Einer Gruppe, die Diskriminierung erfährt, steht immer auch eine Gruppe gegenüber, die daher Vorteile genießt. Diese werden auch als Privilegien bezeichnet. Privilegien ermöglichen leichtere Zugänge und Teilhabe aufgrund bestimmter, nicht frei wählbarer Zugehörigkeiten wie etwa Geschlecht, Herkunft, sozialer Status oder sexueller Identität. Somit profitieren z.B. Männer davon, dass andere Geschlechtszugehörigkeiten abgewertet werden, oder Weiße Menschen, dass People of Color und Schwarze Menschen benachteiligt werden.
Privilegien werden jedoch oft als so selbstverständlich erlebt, dass sie nicht bewusst wahrgenommen werden: If you can’t feel it, it is a privilege. (Dt.: Wenn du es nicht spürst, ist es ein Privileg.)
Mit einem Bild gesprochen: Privilegien zu haben ist wie mit Rückenwind fahren: Es geht irgendwie leichter und ich komme schneller voran als andere und ich bin mir oft nicht bewusst, warum. Wer immer mit Gegenwind fahren muss, spürt dies sofort.
Diese Privilegien können jedoch nicht nur für den eigenen Vorteil und das eigene Vorankommen genutzt werden, sondern auch, um Ungleichheiten abzubauen und anderen Menschen Zugänge zu ermöglichen („power-sharing“). Dafür ist es zunächst nötig, sich der eigenen Privilegien bewusst zu werden.
Übung: Nimm dir kurz Zeit! Welche Vielfalts-Aspekte machen dich aus? Welche soziale Gruppenzugehörigkeiten haben dich geprägt? Schreibe spontan 4-5 Aspekte auf, die dir als erstes kommen. Wenn du jetzt auf deine Liste schaust: Welche Aspekte fehlen? Hast du z.B.: Besitzer*in eines deutschen Passes, heterosexuell oder körperlich gesund bzw. nicht beeinträchtigt geschrieben? Warum ist uns dies vermutlich weniger präsent? Strukturelle Diskriminierung geschieht anhand von Geschlecht, Herkunft/Hautfarbe, sozialer Herkunft/Status, sexueller Identität, Religionszugehörigkeit, Alter und Beeinträchtigung/Behinderung. Welche deiner Aspekte würdest du unter „nicht-privilegiert –nicht der Norm entsprechend“ und welche unter „privilegiert –der Norm entsprechend“ einordnen? Welche Aspekte sind besonders wichtig für Teilhabe und Anerkennung in der Gesellschaft? Welche eher nicht? Und wie wird es sein, wenn sich jemand in mehreren Kategorien als nicht-privilegiert und nicht der Norm entsprechend einordnen muss? Welche Macht ist mit Deinen Privilegien verbunden?
In Gruppen und somit auch bei Straßenexerzitien beeinflussen die sozialen Gruppenzugehörigkeiten, wie viel Raum und Redezeit jemand einnimmt, ob der Person zugehört und Aufmerksamkeit geschenkt wird und welche Rolle sie in der Gruppe einnimmt. Als Begleiter*innen sind wir bereits durch unsere Rolle mit mehr Macht ausgestattet und tragen auch eine Verantwortung für unser Miteinander. Gleichzeitig wiegen unsere Be-Wertungen schwer und können Menschen verunsichern oder sie von ihrem persönlichen spirituellen Weg abbringen. Wir sind eingeladen, auch in der Begleitung von Straßenexerzitien unsere eigene Machtposition zu erkennen, zu reflektieren und so zu nutzen, dass sich alle auf gute Weise beteiligen können.