Auf den Spuren der „Mystikerin der Straße“ (II)

Plakat das an Madeleine Delbrêl erinnert, an einer Mauer in Ivry

Teil 2 des Reiseberichts von Dorothee Steiof auf den Spuren der Schriftstellerin Madeleine Delbrêl, der Mystikerin der Straße (zuerst veröffentlicht auf Feinschwarz.de)

Dazwischen sein – „sans étiquette“

Ich breche am ersten Morgen auf und lasse mich treiben. So entdecke ich zufällig eine etwas in die Jahre gekommen Kirche aus Beton in einer kleinen Gasse, die nach Madeleine Delbrêl benannt ist („ALLÉE Madeleine Delbrêl“). In dieser Gasse befindet sich das oben abgebildete Graffiti an einer Mauer. Die Mauer bildet die Grenze zum „Leninstadion“, einem Fußballplatz. Genau gegenüber steht ein ebenfalls nach Madeleine Delbrêl benanntes soziales Zentrum, auf das sie „schaut“. Heiligenikonografie à la banlieue – mit dem dreimaligen: „Ich liebe dich“! Es hätte wohl keinen besseren Platz geben können. Die Mystikerin der Straße befindet sich wie zu ihren Lebzeiten zwischen Kommunismus und Kirche, in der Mitte das soziale Handeln – hier geht ihr Blick hin.

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Auf den Spuren der „Mystikerin der Straße“ (I)

Plakat das an Madeleine Delbrêl erinnert, an einer Mauer in Ivry

Dorothee Steiof reist auf der Suche nach pastoraler Inspiration nach Frankreich. Daraus wird eine Begegnung von Präsenzpastoral und mit Madeleine Delbrêl in Ivry-sur-Seine. Auf der Webseite Feinschwarz.de berichtet sie in zwei Texten über diese Begegnungen und bringt diese auch in Verbindung mit ihren Erfahrungen auf der Straße und mit Straßenexerzitien. Teil 1:

Es ist ein schöner Sommertag und ich sitze im TGV in Richtung Paris. Ich habe in der Banlieue, genauer in Ivry-sur-Seine, dem Lebens- und Wirkort von Madeleine Delbrêl (1904-1964) für vier Tage ein kleines Hotel gebucht. In meiner Promotion zum Thema einer doxologischen Spiritualität hatte ich mich intensiv mit Madeleine Delbrêl beschäftigt und dabei auch eine Woche im „Maison de Madeleine Delbrêl“ in Ivry gewohnt und geforscht.[1] Nach der Promotion (2012) war dann erst einmal „Schluss“ mit unserer „Beziehung“ – ich brauchte eindeutig Abstand!

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VIELFALT#9: Konsequenzen für die Begleitung

Aus der Impulsreihe für Begleiter*innen von Straßenexerzitien von Nadine Sylla, Josef Freise, Maria Jans-Wenstrup, Dorothee Steif und Elisabeth Kämmerling

Fast drei Monate sind wir mit euch einen Weg durch verschiedene Aspekte und Anregungen unter der Überschrift VIELFALT gegangen. Jetzt zum Abschluss wollen wir noch mal ganz konkret darauf schauen, wie sich dieses Themenspektrum konkret in den Straßenexerzitien ausprägen könnte, vielleicht sollte.

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VIELFALT #8: Missbrauch in Begleitung vorbeugen

Aus der Impulsreihe für Begleiter*innen von Straßenexerzitien von Nadine Sylla, Josef Freise, Maria Jans-Wenstrup, Dorothee Steif und Elisabeth Kämmerling

Beginnen wir mit einer kleinen Übung:

Ich hole mir ein paar gute Erinnerungen an Straßenexerzitien vors innere Auge.

Angesichts dessen frage ich mich: Worin liegt für mich der Reiz des Begleitens,
was macht mir daran Lust, was motiviert mich?

Evtl. schreibe ich einige Stichworte, die mir spontan kommen, auf.

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VIELFALT #7: Formen geistlichen Missbrauchs

Aus der Impulsreihe für Begleiter*innen von Straßenexerzitien von Nadine Sylla, Josef Freise, Maria Jans-Wenstrup, Dorothee Steif und Elisabeth Kämmerling

Mit der Begleitung von Menschen, die sich übend auf die Straße begeben, übernehmen wir eine einflussreiche, gestalterische Aufgabe. Spirituelle Verantwortung ist immer auch eine Form von Machtausübung, die behutsam und angemessen erfolgen sollte, damit die Menschen, die wir begleiten, ihren eigenen Weg gut suchen und finden können. Um hilfreich die eigene Macht einzusetzen, hilft der Blick auf die drei Formen schädlicher Machtausübung, wie sie Doris Wagner herausgearbeitet hat.

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VIELFALT #6: Macht und Privilegien

Aus der Impulsreihe für Begleiter*innen von Straßenexerzitien von Nadine Sylla, Josef Freise, Maria Jans-Wenstrup, Dorothee Steif und Elisabeth Kämmerling

Wenn wir von „Randgruppen“ und den „Ausgegrenzten“ sprechen und von der „Mitte der Gesellschaft“ –wen meinen wir da eigentlich? Und wer definiert, wer Mitte und wer Rand ist? Und wie ist gesellschaftliche Macht damit verknüpft?

Unsere Bilder von Norm und „Normalität“ sind nicht naturgegeben, sondern werden gesell-schaftlich ausgehandelt. Dabei profitieren Gruppen, die der Norm entsprechen,von dieser Einteilung und brauchen einen „Rand“, um sich als „Mitte“ verorten zu können. Diese anonyme, sehr subtile Art der Macht kann bewusst ausgeübt werden, aber auch unbewusst reproduziert werden.

Die Vielschichtigkeit und Einzigartigkeit von Menschen hat in solchen „Normalitätskonstruktionen“ keinen Platz. Privilegierte Menschen sind viel mehr repräsentiert in Gesellschaft, Medien, Politik und Kirche. Wo dominieren Weiße, nicht-beeinträchtigte, heterosexuelle Akademiker unsere Gesellschaft und entscheiden aus ihrer Erfahrungswelt über Menschen, die viel diverser sind und mit unterschiedlichen Erfahrungen und Bezugspunkten unsere Gesellschaft ausmachen?

Diskriminierung stellt daher ein gesellschaftliches Verhältnis dar, bei dem niemand außen steht. Einer Gruppe, die Diskriminierung erfährt, steht immer auch eine Gruppe gegenüber, die daher Vorteile genießt. Diese werden auch als Privilegien bezeichnet. Privilegien ermöglichen leichtere Zugänge und Teilhabe aufgrund bestimmter, nicht frei wählbarer Zugehörigkeiten wie etwa Geschlecht, Herkunft, sozialer Status oder sexueller Identität. Somit profitieren z.B. Männer davon, dass andere Geschlechtszugehörigkeiten abgewertet werden, oder Weiße Menschen, dass People of Color und Schwarze Menschen benachteiligt werden.

Privilegien werden jedoch oft als so selbstverständlich erlebt, dass sie nicht bewusst wahrgenommen werden: If you can’t feel it, it is a privilege. (Dt.: Wenn du es nicht spürst, ist es ein Privileg.)

Mit einem Bild gesprochen: Privilegien zu haben ist wie mit Rückenwind fahren: Es geht irgendwie leichter und ich komme schneller voran als andere und ich bin mir oft nicht bewusst, warum. Wer immer mit Gegenwind fahren muss, spürt dies sofort.

Diese Privilegien können jedoch nicht nur für den eigenen Vorteil und das eigene Vorankommen genutzt werden, sondern auch, um Ungleichheiten abzubauen und anderen Menschen Zugänge zu ermöglichen („power-sharing“). Dafür ist es zunächst nötig, sich der eigenen Privilegien bewusst zu werden.

Übung: Nimm dir kurz Zeit! Welche Vielfalts-Aspekte machen dich aus? Welche soziale Gruppenzugehörigkeiten haben dich geprägt? Schreibe spontan 4-5 Aspekte auf, die dir als erstes kommen. Wenn du jetzt auf deine Liste schaust: Welche Aspekte fehlen? Hast du z.B.: Besitzer*in eines deutschen Passes, heterosexuell oder körperlich gesund bzw. nicht beeinträchtigt geschrieben? Warum ist uns dies vermutlich weniger präsent? Strukturelle Diskriminierung geschieht anhand von Geschlecht, Herkunft/Hautfarbe, sozialer Herkunft/Status, sexueller Identität, Religionszugehörigkeit, Alter und Beeinträchtigung/Behinderung. Welche deiner Aspekte würdest du unter „nicht-privilegiert –nicht der Norm entsprechend“ und welche unter „privilegiert –der Norm entsprechend“ einordnen? Welche Aspekte sind besonders wichtig für Teilhabe und Anerkennung in der Gesellschaft? Welche eher nicht? Und wie wird es sein, wenn sich jemand in mehreren Kategorien als nicht-privilegiert und nicht der Norm entsprechend einordnen muss? Welche Macht ist mit Deinen Privilegien verbunden?

In Gruppen und somit auch bei Straßenexerzitien beeinflussen die sozialen Gruppenzugehörigkeiten, wie viel Raum und Redezeit jemand einnimmt, ob der Person zugehört und Aufmerksamkeit geschenkt wird und welche Rolle sie in der Gruppe einnimmt. Als Begleiter*innen sind wir bereits durch unsere Rolle mit mehr Macht ausgestattet und tragen auch eine Verantwortung für unser Miteinander. Gleichzeitig wiegen unsere Be-Wertungen schwer und können Menschen verunsichern oder sie von ihrem persönlichen spirituellen Weg abbringen. Wir sind eingeladen, auch in der Begleitung von Straßenexerzitien unsere eigene Machtposition zu erkennen, zu reflektieren und so zu nutzen, dass sich alle auf gute Weise beteiligen können.

Das Wirken Gottes in den Exerzitien auf der Straße und in anderen Exerzitien

Diejenigen, die Exerzitien auf der Straße machen, glauben an ein Handeln Gottes während dieser Tage, denn die Begegnungen, Erfahrungen und Erlebnisse solcher Tage verstehen sie als ebensolche mit Gott, meist dem verborgenen Gott. Dies möchte ich entfalten und anschließend vergleichen mit den klassischen Exerzitien mit Schriftbetrachtung sowie den Kontemplationsexerzitien.

  1. Die Exerzitien auf der Straße

Gründung

Seit dem Jahr 1998 werden vom Arbeiterpriester P. Christian Herwartz SJ die Exerzitien auf der Straße durchgeführt. Aus kleinen Anfängen wächst eine Bewegung, die sich auch nach Frankreich und in andere Länder hinein ausdehnt.

Äußere Struktur

Es gibt kein Exerzitienhaus, sondern die Teilnehmenden werden in der Regel gratis in einer Kirchengemeinde einer Großstadt untergebracht, meist in einem Gemeindezentrum, wo man Isomatte und Schlafsack mitbringt. Manchmal stehen Matratzen oder Liegen zur Verfügung. Da die Gemeinde diese Räume (inklusive Küche, Bad, Aufenthaltsraum) unentgeltlich zur Verfügung stellt, sind STREX (Abkürzung für Straßenexerzitien) im Vergleich äußerst preiswert. Von der Teilnehmendengruppe werden die Unkosten für die gemeinsamen Frühstücke und Abendessen finanziert. Je nach Lebensstil und Schwerpunktsetzung der Gruppe beim Einkauf fallen so zwischen € 25 und € 75 für 7 Tage an. Honorare gibt es nicht, weil das Begleitungsteam gratis arbeitet.

Die Teilnehmenden sprechen sich ab zur Vorbereitung von Frühstück und Abendessen. Das Mittagessen, sofern es stattfindet, ist selbständig organisiert in der Stadt. Zusätzlich kommen individuell oft (Wochen)Tickets für den öffentlichen Nahverkehr dazu.

Biblische Grundlagen

  1. Hinführungstage: Kontakt mit der eigenen Sehnsucht (Gen 16 Vertreibung Hagars in der Wüste und ihre Rückkehr; Lk 10 Aussendungsrede; Ex 3 Dornbuscherfahrung des Mose)
  2. Unterwegs im Alltäglichen: Jes 55, Ez 36, Dtn 30, … Joh 13 Fußwaschung
  3. Relecture: Lk 24 Emmausjünger

Der Name der STREX ist Programm. Die Exerzitant:innen gehen einzeln auf die Straße und begegnen Menschen, mit denen sie versuchen, Kontakt aufnehmen. Ihre Intuition, der Heilige Geist, ihr momentanes Gespür bringen sie zur Initiative. Sie orientieren sich an der Erfahrung des Mose am brennenden Dornbusch. Dieser für die STREX zentrale Text zeigt einen Mose, der

  1. über die Steppe hinausgeht,
  2. einen brennenden und nicht verbrennenden Dornbusch sieht,
  3. neugierig wird und dort hin geht;
  4. mit seinem Namen angesprochen wird,
  5. aufgefordert wird, seine Schuhe auszuziehen,
  6. auf heiligem Boden steht.
  7. seinen Lebensauftrag hört,
  8. nicht sofort darin einwilligt, sondern sich mehrfach verweigert;
  9. auf Nachfrage den Namen Gottes hört: „Ich bin da und ich werde da sein.“

Mit Mose als Leitmotiv gehen die Teilnehmenden auf die Straßen der Großstadt auf ihre Weisen: Sie gehen über vertraute Gebiete oder Grenzen hinaus; sie sehen metaphorisch einen Dornbusch, also einen ungewohnten, ungewöhnlichen, unansehnlichen, nicht anziehenden Ort; sie werden neugierig und nähern sich diesem Ort oder dieser Person; dort können sie ihre Schuhe ausziehen und die Erfahrung eines heiligen Ortes machen; vielleicht hören sie einen konkreten Ruf oder einen ganz persönlichen Namen Gottes.

Die Überschreitung einer solchen Grenze ist ein individueller Ruf. Um ihn zu hören, braucht der/die Exerzitant:in eine innere Stille, eine Aufmerksamkeit. Wann nun was dran ist, finden alle selbst verantwortlich heraus. Schweigen als innere Haltung ermöglicht das Hören. Allerdings gilt es situativ, denn STREX brauchen Kommunikation.

Vorgehensweise

Es gibt keinen Leitfaden, wer wann wo hingeht. Alle Teilnehmenden kommen mit ihrer Sehnsucht in Kontakt und lassen sich von ihr leiten. Das ist

anspruchsvoll, aber weder Teilnehmende noch Begleitende können wissen, was Gott mit den Exerzitant:innen vorhat. Das Team kann Orte der Bedürftigkeit vorschlagen. Es geht um die Begegnung mit Menschen am Rand, jenseits der Grenze, aber wie bei allen Exerzitien gilt: Es muss nichts passieren, sondern Gott leitet diese Tage.

Ebenso entscheiden die Teilnehmenden über ihre Mittel zur Fortbewegung: zu Fuß als Pilger der Straße, mit der Straßenbahn, mit dem Rad, oder wie auch immer. Jede Metropole bietet hier Vielfältiges.

Die Aussendungsrede Jesu bietet eine Grundlage zur Ausrüstung während des Weges. Genauso wie Jesus von Stock, Schuhen, Reservehemd und Vorräten abrät, so wird den Teilnehmenden empfohlen, Handy, Portemonnaie und Karten wegzulassen und sich abhängig zu machen von den aktuellen Begegnungen am Tag – soweit sie dies aushalten.

Das Erspüren der eigenen Sehnsucht, das Klären des eigenen Themas der STREX kann über negative Gefühle erfolgen: Was ärgert mich, wenn ich in der Stadt unterwegs bin? Worüber rege ich mich auf? Was macht mich wütend? Viele Menschen haben leicht Zugang zu ihren negativen Gefühlen. Die Reaktion auf die Verhältnisse in der Urbanität kann zielführend werden.

Der „heilige Ort“ kann vieles sein: eine Kirche, Moschee oder Synagoge; eine Brücke über einen Fluss, ein Friedhof, ein Gefängnistor; ein Stadtpark, eine Straßenkreuzung, der HBF; eine Suppenküche, ein Obdachlosentreff, ein Sozialamt; ein Krankenhaus, eine Babyklappe, ein Marktplatz; …

Die Begegnungen am heiligen Ort können auch vieles sein: eine Begegnung mit mir selbst, mit vertrauten Menschen, mit Fremden, mit komplexen Situationen.

Das „Ausziehen der Schuhe“ geschieht meist innerlich. Es geht darum, die Schuhe der Distanz, der Überheblichkeit, des Besserwissens, der vermeintlichen Kompetenz, des Bessergestelltseins usw. abzulegen, so dass einen Begegnung auf Augenhöhe stattfinden kann. Alle Teilnehmenden müssen im Laufe der Tage ihre eigene Rolle klären: Als wer bin ich auf der Straße unterwegs zu den Menschen? Was suche ich? Wie viel Neues traue ich mir zu? Was mache ich hier eigentlich? Welche Sicherheiten brauche ich? Wie trete ich auf? Wie teile ich mit, dass ich Gott suche?

Die abendliche Begleitung ist anders organisiert als bei anderen Exerzitienformen: Eine Frau und ein Mann begleiten im Team zusammen eine kleine Gruppe von Teilnehmenden, etwa 4-6 Leute. Im Zeitalter des geschärften Bewusstseins für (Gesprächs)Situationen, die potentiell Machtgefälle verstärken, ist diese Begleitung durch ein Team in Gegenwart mehrerer Teilnehmender sicher präventiv wirksam und wertvoll.

Es geht darum, die eigenen Erfahrungen auf der Straße zu sehen, zu benennen, zu würdigen, zu befragen – im Licht der biblischen Lesungen und im Licht der bisherigen Lebenserfahrungen. Ein gemeinsamer Vertiefungsprozess beleuchtet persönliche Anliegen, die unterwegs auftauchen. Das Wort Jesu: „Ich bin der Weg (die Straße), die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6) kann Deutungen ermöglichen. Die abendliche Runde ist der Platz für die Betrachtung der Straße, wo sich heute der biblische Faden fortsetzt.

Meist gibt es abendlich eine Eucharistiefeier, es kann aber auch ein Wortgottesdienst sein.

Gott wirkt in den Exerzitien auf der Straße durch die Begegnungen, die Gespräche, die Umstände des Unterwegseins auf der Straße. In der abendlichen Austauschrunde gewinnt manche Erfahrung an Gewicht und Bedeutung. Im Rückblick können Worte, Gesten, Blicke, ein gemeinsames Schweigen den Teilnehmenden Zeichen von Gottes erlebter Gegenwart erschließen.

Und es kann viele verschiedene Formen annehmen: Das Teilen eines Brotes, das Gelingen von Kommunikation über Sprachgrenzen hinaus, das Entstehen von Vertrauen über unterschiedliche Lebenserfahrungen hinweg, ein Miteinander trotz verschiedener Lebensstile, etwas Gemeinsames über Süchte und Hindernisse hinaus, …

Vieles hat Christian Herwartz in seinen Publikationen beschrieben.

STREX sind ein Neuentwurf. Sie treffen auf traditionelle Formen:

  • Die traditionellen ignatianischen Exerzitien

Gründung

Obwohl es diese ignatianischen Exerzitien seit Mitte des 16. Jahrhunderts gibt, werden sie im deutschsprachigen Raum in den 1970er Jahren neu entdeckt und wieder belebt. Nach dem Konzil brechen viele Jesuiten und andere auf und eignen sich eine revitalisierte Form fruchtbringend an.

Äußere Struktur

Ignatianische Exerzitien mit Schriftbetrachtung finden in einem Exerzitienhaus, einem Kloster oder einem Bildungshaus statt. Da solche Häuser meist hotelähnliche Standards haben, sind entsprechende Kosten damit verbunden. Ziele dieser Art der Unterbringung sind ein geschützter Raum, Stille und Abgeschiedenheit, Rückzug, Verpflegung und Versorgung. Die Reise nach innen hat absoluten Vorrang. Jegliche Alltagsbeschäftigung und äußere Ablenkung soll wegfallen. Also weder Telefonate, Arbeit, Aufsicht über andere, berufliche Korrespondenzen, noch Freizeitaktivitäten wie Hobbies, Musik, Radio, TV, Lektüre, aber auch keine Haushaltstätigkeiten wie Kochen, Aufräumen, Verwalten, Einkaufen, Waschen o.ä. sind vorgesehen. Exerzitien werden spürbar, durch einen Schnitt mit dem normalen Alltag. Es entsteht ein Raum fürs Gebet. Verabschiedung vom Alltag und Entschleunigung greifen.

Biblische Grundlagen

Der/die Exerzitant:in betet vier Stunden mit der Bibel nach der ignatianischen Schriftbetrachtung. Beim Beten anhand der vorgelegten Schriftabschnitte wird der/die Betende angeleitet, sich jeweils ganz in diese mental hineinzubegeben, so dass sie sich vorstellt, neben den biblischen Gestalten die Szene mitzuerleben. Er wird Teil der biblischen Geschichte, indem er sich in sie hineinversetzt und seine Gefühle, Gedanken, Lebenserfahrungen mitbringt. Die Begegnung findet statt zwischen der biblischen Heilserzählung und der Teilnehmerin, ihrer Biographie und Identität.

Die Schriftbetrachtung ist strukturiert in vorbereitende Lesung, Einfindungs- phase (leiblich und geistig), Vorbereitungsgebet, Bitte um den Heiligen Geist, die eigentliche Betrachtung des Textes, eine Abschlussphase, bestehend aus Dank und Rekapitulation der gemachten Erfahrungen. Nach diesen 60 Minuten beendet ein Eintrag ins eigene Geistliche Tagebuch die Betrachtung.

Meist werden (traditionell) pro Tag je zwei (bis drei) Bibelstellen vorgelegt mit je einer Wiederholung. Der Ort dafür ist eine Kapelle, Meditationsraum, Kirche, das eigene Zimmer o.ä. Folgende Phasen gehören zu ignatianischen Exerzitien:

  1. Prinzip und Fundament (grundlegendes Leben vor und mit Gott)
  2. Erste Woche (Umkehr, Hinwendung zu Gott, Bekehrung zu Jesus)
  3. Zweite Woche (die Person Jesus Christus, sein Leben, sein Programm, die Nachfolge)
  4. Dritte Woche (Ereignisse der Karwoche: der Leidensweg Jesu in Jerusalem, Kreuzigung und Tod)
  5. Vierte Woche (Auferstehung an Ostern, Leben in der Liebe)

Dies sind die täglichen Elemente:

  1. Rückzug in ein Exerzitienhaus
  2. Zwei mal zwei Stunden Beten mit der Hl. Schrift
  3. Strenges Schweigen
  4. Eucharistiefeier
  5. Begleitgespräch unter vier Augen mit 30-50 Minuten Dauer
  6. Angeleitete Leibübungen (z.B. Eutonie, Yoga, Tai Chi, usw.) in der Gruppe und individuelle Spaziergänge
  7. Morgen- und Abend- oder Nachtgebet
  8. Gebet der liebenden Aufmerksamkeit mit einer Reflexion des Tages

Die Aufgabe der Begleitung besteht darin, den/die Betende/n anzuleiten, zu stärken, trösten, unterstützen, dranbleiben, sich nicht ablenken zu lassen. Die Begleitung assistiert beim Schauen auf die Regungen und Bewegungen des Herzens. Sie kümmert sich um die Rahmenbedingungen und schützt den/die Betende/n vor Einflüssen von außen. Seine/ihre Hauptfunktion besteht in der Hilfe zur Unterscheidung der Geister, damit der/die Exerzitant:in deutlicher erkennt, was Gottes Geist sein kann. Das „Exerzitienbuch“ des Ignatius von  Loyola stellt den Begleitenden Methoden zur Verfügung, es ist nicht ein Buch für die Teilnehmenden.

In der ignatianischen Tradition sind die Exerzitien Grundlegung und Fortführung, Vertiefung und Vergewisserung des geistlichen Lebens, sowie Vorbereitung und Prüfung von Lebensentscheidungen.

  • Die kontemplativen Exerzitien

Gründung

Eine eigene Variante bilden die kontemplativen Exerzitien, wie sie vor allem von P. Franz Jalics SJ seit den 1980er Jahren und vielen anderen seitdem vorgelegt werden. Sie knüpfen an die klassischen ignatianischen Exerzitien an, indem sie gewissermaßen Phase 6 (siehe oben) als alleinige Etappe, verstanden als Verstetigung der Vierten Woche, einführen: die Kontemplation im engeren Sinn.

Äußere Struktur

Die Vorbedingungen sind meist identisch mit den ignatianischen Exerzitien. Es geht um:

  1. Rückzug in ein Exerzitienhaus
  2. Strenges Schweigen
  3. Stunden der Meditation
  4. Eucharistiefeier
  5. Begleitgespräch unter vier Augen mit 10-30 Minuten Dauer
  6. Angeleitete Leibübungen in der Gruppe und individuelle Spaziergänge
  7. Gemeinsame Austauschrunden

Biblische Grundlagen

Die Begegnung mit Gott findet in der Stille statt. Die langen Meditationen (meist vier bis sieben Stunden pro Tag) bewirken, dass Themen aus der Lebens- und Glaubensgeschichte aus der Tiefe emporsteigen. Sie werden bewusst, finden körperliche Ausdrucksformen und werden ins Wort gebracht.  Die Erfahrungen in der Meditation werden verortet in der Frohbotschaft Jesu. Durch die Ansprachen in der Messe werden sie mit der Jesusgeschichte verbunden.

Der zentrale Vollzug ist das Eintauchen in die Stille. An die Stelle der vier täglichen Schriftbetrachtungen (siehe oben) treten Stunden stillen Betens im Sinne des Herzens- oder Jesusgebets. Dementsprechend gibt es weder vorformulierte Gebete, Texte, Bilder oder ähnliches als Gebetshilfen, insbesondere keine geistliche Lektüre, auch nicht aus der Bibel. Es geht um die Wahrnehmung der Gegenwart, des Atems, des Leibes und die Ausrichtung auf den Namen Jesu. Wichtig ist der gemeinschaftliche Vollzug im Meditationsraum, der von fast allen als Stärkung auf dem Weg empfunden wird.

Die Inhalte gibt es konzentriert in der abendlichen Messe mit Lesungen, Liedern und Predigt. Es werden klassische Themen der Kontemplation eingeführt:

  1. Die Identität der Beziehungen zu Gott, Nächstem, Selbst
  2. Ich-Bezogenheit versus Du-Bezogenheit
  3. Die Leere
  4. Die Erlösung
  5. Das Leiden
  6. Die Ausrichtung
  7. Die Versöhnung

VIII.Der Name Jesu

Vorgehensweise

Das Begleitgespräch ist optional. Es dient sowohl der Vergewisserung, dass die/der Exerzitant:in auf dem Weg ist, als auch der Leitung. Hinzu kommt das Ringen um die richtigen Worte. Erfahrungen der Kontemplation zu beschreiben ist mühsam, da sich Körperwahrnehmungen, Gefühle und Lebensthemen zu einem Gesamt vereinen.

Hingegen dienen an den ersten fünf Tagen abendliche Austauschrunden im Plenum der Orientierung für alle. Die Begleitenden fragen nach den Erfahrungen mit den Anleitungen in der Methode (Wahrnehmung der Natur, Aufmerksamkeit auf Atmung, richtiges Sitzen, Spüren der Hände, Umgang mit Körperschmerzen, Wachheit, Umgang mit Ablenkungen usw). Die angeschnittenen Fragen betreffen meist alle und können daher gut im Plenum bearbeitet werden.

Als Literaturempfehlung sei auf das Standardwerk von Franz Jalics verwiesen: „Kontemplative Exerzitien. Eine Einführung in die kontemplative Lebenshaltung und das Jesusgebet“.

Lutz Müller SJ

VIELFALT #5: Diskriminierung

Aus der Impulsreihe für Begleiter*innen von Straßenexerzitien von Nadine Sylla, Josef Freise, Maria Jans-Wenstrup, Dorothee Steif und Elisabeth Kämmerling

„Vergiss, dass ich schwarz bin. Vergiss nie, dass ich schwarz bin“

So beginnt die afroamerikanische Dichterin Pat Parker ihr Gedicht mit dem Titel
„Für die Weiße, die wissen wollte, wie sie meine Freundin sein kann“.
In diesen zwei Zeilen verdichtet sich das Geschenk und die Herausforderung jeder menschlichen Begegnung: Vergiss, welche Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht, Beeinträchtigung, sexuelle Identität, Religion oder sozialen Status ich habe, weil ich von dir einfach als Mensch angeschaut werden möchte, als der
einzigartige, vielschichtige Mensch, der ich bin; ich möchte nicht primär als Vertreterin einer Gruppe wahrgenommen und einsortiert werden. Aber vergiss zugleich nie, welche Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht, Beeinträchtigung, sexuelle Identität, Religion oder sozialen Status ich habe, denn das gehört zu meinem Leben, das macht meine Identität aus und hat Auswirkungen darauf, welchen Status und welche Teilhabemöglichkeiten ich in der Gesellschaft habe, wie privilegiert oder nicht-privilegiert ich bin, ob ich selbstverständlich dazu gehöre oder wieviel Diskriminierung ich erlebe… Beide Sätze sind wahr. Wir brauchen beide Sätze. Vielfaltssensibel Menschen zu begegnen bedeutet, keinen der beiden Sätze absolut zu setzen, sondern immer wieder zwischen beiden hin und her zu schwingen in unseren Begegnungen – im Alltag und in den Straßenexerzitien. Wie zwei Punkte einer Ellipse in unserem Herzen – aufmerksam für Prägungen, Bilder, manchmal Stereotype und Botschaften, z.B. über „Andere“ und „Fremde“, die uns persönlich, aber auch gesellschaftlich vermittelt wurden. Diskriminierung bedeutet, Menschen aufgrund eines Merkmals und den damit verbundenen Zuschreibungen bewusst oder unbewusst zu benachteiligen, abzuwerten oder auszugrenzen. Der Boden von Diskriminierung bildet nicht das reale Merkmal an sich wie z.B.: die Hautfarbe oder das Geschlecht, sondern die Konstruktionen, die wir damit verbinden. Manche Merkmale machen eben einen „Unterschied“ z.B. was Ansehen und Macht bedeutet. Diese haben reale Auswirkungen auf Zugänge und Teilhabe an zum Beispiel Bildung, Arbeitsmarkt oder bei der Wohnungssuche. Die Unterscheidungen sind aber kein „Naturgesetz“, sondern Ergebnis eines gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses. Fredi Saal bringt es auf den Punkt: „Ich bin nämlich ein gelernter Behinderter. Die Rede vom ‚gelernten Behinderten‘ bitte ich wortwörtlich zu nehmen. Denn ich bin zwar mit einer spastischen Lähmung geboren worden, ich bin aber nicht mit dem Sozialstatus eines Behinderten auf die Welt gekommen. Mich als Behinderten anzusehen, habe ich gelernt – und zwar gründlich.“ (Fredi Saal, 1996, Warum sollte ich jemand anders sein wollen? Erfahrungen eines Behinderten – biographischer Essay, S. 87) Straßenexerzitien sind nicht losgelöst von diesen gelernten Bildern in Selbst- und Fremdzuschreibungen. Auch in der Gruppe, bei den Begleiterinnen und unter den Teilnehmenden nehmen wir kontinuierlich diese Kategorisierungen vor und verknüpfen sie mit bestimmten Zuschreibungen. So kann es hilfreich sein, einen Schritt zurückzutreten und sich zu fragen: Sehe ich den Menschen, den ich begleite,
oder nehme ich ein Merkmal so dominant wahr, dass es vor allem meine Bilder im Kopf sind, die ich reproduziere, und ich gar nicht mehr in Begegnung komme? Nehme ich aber auch wahr, dass dieses Merkmal den Menschen geprägt hat, seine Sicht auf die Welt, seine Möglichkeiten sich auszudrücken, sich einzubringen und sich Dinge zuzutrauen?
Unabhängig von der konkreten Begleitung können wir uns auch fragen: wen erreichen wir mit unseren Angeboten? Wie viel Vielfalt gibt es in den Straßenexerzitien? Wer fühlt sich hier wohl und zugehörig, wer wird als „anders“ wahrgenommen?

Von den „Straßenexerzitien“ zu den „Großstadtmeditationen“

Straßenexerzitien sind als neue Form der ignatianischen Exerzitien entstanden…und inzwischen ist es so weit, dass auch diese neue Form weiter verändert und verwandelt wird…und dass sie das auch aushält! Der folgende Artikel von Lutz Müller SJ macht eine solche „Metamorphose“ nachvollziehbar.

In letzter Zeit sind neue Formate in den Straßenexerzitien aufgetaucht. Da kommt beispielsweise Misereor Aachen auf uns Begleitende von Straßenexerzitien zu und fragt, ob wir wohl einen Besinnungstag für ihre Mitarbeitenden gestalten könnten. Ein ausgedehnter geistlicher Impuls für einen Besinnungstag im Advent. Eine Art Schnuppertag, wie er schon von Katholikentagen, Kirchentagen u.ä. bekannt ist. Der dauert sechs Stunden und ist offen für alle Eingeladenen. Bei den Eingeladenen geht es um die Angestellten von Misereor. Sie werden quasi vom Arbeitgeber angemeldet. Da stellt sich sofort die Frage: Geht das überhaupt? Exerzitien auf Anweisung? Straßenexerzitien unfreiwillig??

So ein Tag strukturiert sich in mehrere Phasen: Ankommen, Aussenden, Einsammeln, Gottesdienst.

  • Ankommen: Begrüßung, Erklärung der Exerzitien auf der Straße, Einführung spirituell, biblisch, methodisch;
  • Aussendung auf die Straße, Zeit auf der Straße;
  • Rückkehr zum Ausgangspunkt, Einteilen in Gruppen, Teilen der gemachten Erfahrungen; jeweils ein/e Begleiter/in für etwa 10 Teilnehmende;
  • Eucharistiefeier zum Abschluss für alle.

Jede dieser vier Phasen hatte eine eigene Teilnehmendenzahl, d.h. die Zahl war in jeder Phase verschieden groß. Alle hatten die Freiheit, jeweils am Besinnungstag mitzumachen oder aber – falls sie das so nicht wollten – in ihrem Büro zu arbeiten. Dabei war klar: die Teilnahme wurde erwartet, aber wie das genau aussah, entschied jede Person selbst. Das trug der Tatsache Rechnung, dass kein Arbeitgeber seine Angestellte zu einem Besinnungstag verpflichten kann. Auf diese Weise wurde die Freiheit gegeben, sich etwas aus dem „Programmangebot“ auszusuchen. Da taten die Menschen dann auch. Ganz viele (über 100) kamen zur Einführung und zum Gottesdienst. Auf die Zeit auf der Straße liessen sich weniger ein, ebenso auf die Austauschrunde.

Inhaltlich möchte ich nur erwähnen, dass eine Reihe der Teilnehmenden authentische Erfahrungen auf der Straße machten. Damit meine ich, dass sie Begegnungen und Gefühle, Wahrnehmungen und Verhaltensweisen erlebten, wie ich sie normalerweise selbst bei Straßenexerzitien kenne.

Formal bestand die Austauschrunde aus einem Teilen über 60 Minuten, angeleitet von einem oder zwei Begleiter:in. D.h. das ergab sehr wenig Zeit pro Teilnehmenden, es haben auch einige nichts gesagt, was anders auch nicht gegangen wäre.

Beim Abschluß des Tages im Gottesdienst war eine rege Beteiligung vorhanden.

Formate dieser Art mehren sich. Eine Institution erkennt, dass Straßenexerzitien eine positive Erfahrung sein könnte für die eigenen Mitarbeitenden. Jedenfalls hält sie diese „Aktivität“ für eine Bereicherung und sucht sie daher aus. Sie „schickt“ ihre Leute dahin. Damit gilt: Die Teilnehmenden sind nicht richtig freiwillig da, sondern eben mit Einschränkung. Im Fall von Misereor bestand eine Wahlfreiheit. Das machte das Projekt frei: Wer sich nicht oder nur teilweise auf das Abenteuer einlassen konnte oder wollte, hatte sein Büro als Alternative.

Es gibt inzwischen auch andere Stile. Die Organisation der Malteser hat mehrere Curricula der Fortbildung. Eine Art davon – dasjenige für vermutete, potentielle Führungskräfte – ist eine Reihe mit vier Modulen, zu je drei Tagen, wobei ein Modul „Spiritualität“ heißt. Die Fortbildungsabteilung suchte sich dafür die Exerzitien auf der Straße aus. Eingeteilt in Regionalgruppen mit je etwa 10 Teilnehmenden durchläuft dasselbe Team alle vier Module, so eben auch das Modul „Spiritualität“. Damit sind wichtige Parameter verändert, es sind nicht mehr Straßenexerzitien im üblichen Sinn. Die sind die hauptsächlichen Unterschiede:

  1. Es gibt keine offizielle Alternative zum Programm. Die Teilnehmenden sind mit der Gruppe vor Ort zur Fortbildung. Das Büro in der Herkunftsstadt ist weit weg. Die Teilnahme ist nicht richtig freiwillig, sondern wird wirklich erwartet.
  2. Die Unterbringung erfolgt in einfachen Hotels, die die Fortbildungsabteilung bucht. Es gibt keine Verbindung zu irgendeiner Kirchengemeinde.
  3. Die Gruppe kennt sich; wenn nicht schon aus der alltäglichen Arbeit, dann immer aus den (meist) zwei vorherigen Modulen.
  4. Gerade weil sich die Leute von vorher kennen und sie sich auch nach dem Kurs wieder treffen werden (zum vierten Modul und meist auch im folgenden Arbeitsalltag) besteht ein großes Bedürfnis zum geselligen Treff abends.
  5. Das Innenleben der Firma ist als unsichtbarer, aber spürbarer Gast mit dabei: interne Hierarchien, persönliche Sympathien, geteilte Vorlieben, gemeinsame Feindbilder, Atmosphäre von Fortbildungen, die Philosophie des Unternehmens usw.
  6. Der Trainer aus der Fortbildungsabteilung ist dabei. Er leitet die Veranstaltung und liefert Inhalte (dazu gleich mehr), macht aber nicht als Begleiter der Austauschrunden mit.
  7. Niemand kennt in diesen Kontexten „geistliche Begleiter:innen“. Die Menschen sind vertraut mit Trainer:innen, Supervisor:innen, Moderator:innen, Referent:innen, Anleiter:innen, Expert:innen usw. Geistliche Begleitung ist völlig neu.
  8. Kaum jemand kennt Exerzitien aus eigener Erfahrung, dementsprechend ist die Vertrautheit mit religiöser oder spiritueller Sprache sehr unterschiedlich.

Das Setting ist so verschieden, dass wir den Titel änderten. Die Straßenexerzitien in diesem Format heißen hier Großstadtmeditation. Die Namensänderung ist nicht nur formell, sondern wirkt sich inhaltlich aus. Die Vorgehensweise ist nämlich verschieden:

  1. Es gibt eine Reflexion über den Wertekatalog der Malteser.
  2. Es gibt eine Einführung in unterschiedliche Dimensionen von Glauben: Existenzglaube, Transzendenzglaube, Konfessionsglaube. Das sind drei grundlegende Formen des Zugehens auf die Wirklichkeit, das sich im Vertrauen auf Natur, Schöpfung, Universum, oder im Glauben an ein höheres Wesen, oder in der Identifikation mit einer religiösen Konfession und ihren Traditionen zeigt.
  3. Es gibt eine Sensibilisierung mit Aufmerksamkeits- und Atemübungen.
  4. Gottesdienstformen sind Meditation, Wortgottesdienst und Eucharistiefeier.
  5. Es ist ausführlich Raum für Stellungnahmen zu Glaubensformen, Gottesbildern und Kirche; und für die Meta-Ebene des Kurses (Umstände, Organisatoren, Rollen usw).

Das sind alles Punkte, die in normalen STREX so gebündelt nicht vorkommen. Entsprechend werden die Großstadtmeditationen mit Methoden der Erwachsenenbildung ergänzt, weil es nicht sofort auf die Straße geht, sondern eine Art Anwärmphase braucht, damit sich möglichst viele auf den Prozess einlassen. Am Anfang des Prozesses steht das gewinnende Einladen der Anwesenden – etwas, das bei normalen STREX vorausgesetzt werden kann. Wenn ich solche Exerzitien begleiten will, muss ich derlei Ambivalenzen aushalten.

Die Großstadtmeditationen sind aus den STREX erwachsen. Sie sind nicht mehr die ursprüngliche Form. Eine Stärke der ignatianischen Exerzitien ist ihre Fähigkeit, an verschiedene Umstände angepasst werden zu können. Ignatius von Loyola, der Begründer von Exerzitien, schreibt: „Diese Übungen müssen je nach der Eignung derjenigen angewandt werden, die geistliche Übungen nehmen wollen.“ (Geistliche Übungen 18a) Die Großstadtmeditationen sind für mich ein Beispiel dafür.

VIELFALT #3: Gewaltfreie Kommunikation

Aus der Impulsreihe für Begleiter*innen von Straßenexerzitien von Nadine Sylla, Josef Freise, Maria Jans-Wenstrup, Dorothee Steiof und Elisabeth Kämmerling

Marshall Rosenberg (1934-2015) war ein amerikanischer Psychologe, der mit der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) die Verbindung zwischen Menschen stärken wollte, ein Mitschwingen mit dem Gegenüber – fernab von der in unserer Sozialisation erlernten Unart, Menschen und ihr Verhalten zu bewerten, zu kategorisieren oder gar mit Vorwürfen und Schuldzuweisungen zu belegen. Um gewaltfrei kommunizieren zu können, bedarf es der Selbstwahrnehmung mit dem Ziel eines Ruhens in sich selbst. Wenn ich spüre, dass ich gerade nicht in mir ruhe, geht es darum, genau diese Unruhe in mir wahrzunehmen – und anzunehmen! Wenn ich meine Gefühle und Bedürfnisse spüre und ebenfalls annehme, ist das eine gute Voraussetzung dafür, dass ich – auch als Begleiter*in in Straßenexerzitien – von mir absehen und im Gespräch ganz beim Gegenüber und bei der Gruppe sein kann. Mein Gegenüber ist eine Person, die für mich geheimnisvoll bleibt und eine Würde hat – in jeder Person spiegelt sich die absolute, göttliche Transzendenz wider.

Eine große Bedeutung in der Gewaltfreien Kommunikation kommt dem aufmerksamen Zuhören zu. Es geht darum, ganz beim Gegenüber zu sein und die eigenen Gedanken und Gefühle zurückzustellen. Fragen an mein Gegenüber sollen ehrlich offene Fragen und sensible Fragen sein, die Bewertungen und erst recht ein Bloßstellen und ein Etikettieren vermeiden.

Anstelle eines Ausfragens ist es gut, offene Fragen zu stellen („Mich interessiert, was Dir wichtig ist im Leben. Was möchtest Du erzählen?“). Es liegt dann an meinem Gegenüber, was er/sie mitteilen will.

Empathische gewaltfreie Kommunikation kennt verschiedene Methoden, ist in erster Linie aber eine Haltung. Sie erfordert Achtsamkeit, inneres Gewahrsein und ein Freisein von emotionalen Blockaden.

Wenn ich von einer inneren Unruhe getrieben mit mir selbst beschäftigt bin, kann ich innerlich nicht bei meinem Gegenüber sein. Achtsamkeit führt zu Empathie und auch zu Authentizität. Wenn ich im Gespräch Äußerungen, Einstellungen oder Verhaltensweisen bei Gesprächspartner*innen wahrnehme, die verletzen, diskriminieren und das Leben beeinträchtigen, kann ich meine Irritation, mein Gefühl, mein Bedürfnis dazu ehrlich benennen. Liebevolle Zugewandtheit und Ehrlichkeit mit sich selber und mit Gesprächspartner*innen sind die Basis von Kommunikation.

Wer mehr über die Gewaltfreie Kommunikation erfahren will, findet im Internet ausführliche Erläuterungen, auch Videos mit Marshall Rosenberg selber. Sehr hilfreich ist es, irgendwann mal an Gesprächskursen zur Gewaltfreien Kommunikation teilzunehmen. Die Kurse geben Hilfen – üben kann ich dann mein Leben lang.

Hier kommen noch einige Links:

Infoportal Gewaltfreie Kommunikation mit Trainer*innen und Seminaren: https://www.gfk-info.de; Eine Sendung des Deutschlandfunks: https://www.deutschlandfunkkultur.de/lange-nacht-ueber-gewaltfreie-kommunikation-eine-sprache.1024.de.html?dram:article_id=385322 Video mit Marshall Rosenberg auf youtube: https://www.youtube.com/watch?v=1cskKfGxurM Artikel zur Gewaltfreien Kommunikation als Ansatz gegen Vorurteile und Diskriminierung: https://www.paxchristi.de/artikel/view/5216505297895424/Gewaltfreie%20Kommunikation