Aus der Impulsreihe für Begleiter*innen von Straßenexerzitien von Nadine Sylla, Josef Freise, Maria Jans-Wenstrup, Dorothee Steif und Elisabeth Kämmerling
„Vergiss, dass ich schwarz bin. Vergiss nie, dass ich schwarz bin“
So beginnt die afroamerikanische Dichterin Pat Parker ihr Gedicht mit dem Titel
„Für die Weiße, die wissen wollte, wie sie meine Freundin sein kann“.
In diesen zwei Zeilen verdichtet sich das Geschenk und die Herausforderung jeder menschlichen Begegnung: Vergiss, welche Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht, Beeinträchtigung, sexuelle Identität, Religion oder sozialen Status ich habe, weil ich von dir einfach als Mensch angeschaut werden möchte, als der
einzigartige, vielschichtige Mensch, der ich bin; ich möchte nicht primär als Vertreterin einer Gruppe wahrgenommen und einsortiert werden. Aber vergiss zugleich nie, welche Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht, Beeinträchtigung, sexuelle Identität, Religion oder sozialen Status ich habe, denn das gehört zu meinem Leben, das macht meine Identität aus und hat Auswirkungen darauf, welchen Status und welche Teilhabemöglichkeiten ich in der Gesellschaft habe, wie privilegiert oder nicht-privilegiert ich bin, ob ich selbstverständlich dazu gehöre oder wieviel Diskriminierung ich erlebe… Beide Sätze sind wahr. Wir brauchen beide Sätze. Vielfaltssensibel Menschen zu begegnen bedeutet, keinen der beiden Sätze absolut zu setzen, sondern immer wieder zwischen beiden hin und her zu schwingen in unseren Begegnungen – im Alltag und in den Straßenexerzitien. Wie zwei Punkte einer Ellipse in unserem Herzen – aufmerksam für Prägungen, Bilder, manchmal Stereotype und Botschaften, z.B. über „Andere“ und „Fremde“, die uns persönlich, aber auch gesellschaftlich vermittelt wurden. Diskriminierung bedeutet, Menschen aufgrund eines Merkmals und den damit verbundenen Zuschreibungen bewusst oder unbewusst zu benachteiligen, abzuwerten oder auszugrenzen. Der Boden von Diskriminierung bildet nicht das reale Merkmal an sich wie z.B.: die Hautfarbe oder das Geschlecht, sondern die Konstruktionen, die wir damit verbinden. Manche Merkmale machen eben einen „Unterschied“ z.B. was Ansehen und Macht bedeutet. Diese haben reale Auswirkungen auf Zugänge und Teilhabe an zum Beispiel Bildung, Arbeitsmarkt oder bei der Wohnungssuche. Die Unterscheidungen sind aber kein „Naturgesetz“, sondern Ergebnis eines gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses. Fredi Saal bringt es auf den Punkt: „Ich bin nämlich ein gelernter Behinderter. Die Rede vom ‚gelernten Behinderten‘ bitte ich wortwörtlich zu nehmen. Denn ich bin zwar mit einer spastischen Lähmung geboren worden, ich bin aber nicht mit dem Sozialstatus eines Behinderten auf die Welt gekommen. Mich als Behinderten anzusehen, habe ich gelernt – und zwar gründlich.“ (Fredi Saal, 1996, Warum sollte ich jemand anders sein wollen? Erfahrungen eines Behinderten – biographischer Essay, S. 87) Straßenexerzitien sind nicht losgelöst von diesen gelernten Bildern in Selbst- und Fremdzuschreibungen. Auch in der Gruppe, bei den Begleiterinnen und unter den Teilnehmenden nehmen wir kontinuierlich diese Kategorisierungen vor und verknüpfen sie mit bestimmten Zuschreibungen. So kann es hilfreich sein, einen Schritt zurückzutreten und sich zu fragen: Sehe ich den Menschen, den ich begleite,
oder nehme ich ein Merkmal so dominant wahr, dass es vor allem meine Bilder im Kopf sind, die ich reproduziere, und ich gar nicht mehr in Begegnung komme? Nehme ich aber auch wahr, dass dieses Merkmal den Menschen geprägt hat, seine Sicht auf die Welt, seine Möglichkeiten sich auszudrücken, sich einzubringen und sich Dinge zuzutrauen?
Unabhängig von der konkreten Begleitung können wir uns auch fragen: wen erreichen wir mit unseren Angeboten? Wie viel Vielfalt gibt es in den Straßenexerzitien? Wer fühlt sich hier wohl und zugehörig, wer wird als „anders“ wahrgenommen?