Meine rosafarbene Daunenjacke

von Lena Monshausen / kontinente

Der Alltagsstress hält uns alle gefangen. Jeder kennt das Gefühl, nur noch zu funktionieren und von A nach B zu hasten. Auf der Suche nach sich selbst in den Straßen von Berlin – ein Selbstversuch.

Meine Welt gleicht sozusagen einer Hängematte. Ich stehe jeden Morgen auf, gehe zur Arbeit, gehe danach vielleicht einkaufen, treffe Freunde. Ich esse, ich schlafe. Jeden Tag das gleiche. Ich funktioniere in meinem Alltag, aber ist es wirklich das, was mich als Person ausmacht? Irgendwann kommt der Punkt, an dem sich die Alltagsroutine wie eine Kette um den Hals legt, Glied für Glied. Wie schaffe ich es bloß, diese Fessel loszuwerden? Mich wieder selbst zu spüren?

Die Katholiken kennen die Tradition der Exerzitien schon lange – seit dem 16. Jahrhundert geben sie nach Ignatius von Loyola Anleitungen für Gebete, Meditationen und Besinnung. Ich wage stattdessen einen Selbstversuch: Straßenexerzitien im Herzen Berlins. Das Angebot ist in den 90-er Jahren von dem Jesuiten und Arbeiterpriester Christian Herwartz geprägt worden, eine wachsende bundesweite ökumenische Gemeinschaft bietet seitdem Straßenexerzitien an. Mit einem geistlichen Impuls und emotionaler Begleitung werden die Teilnehmer auf die Straße geschickt – um schließlich sich selbst, und vielleicht auch Gott, im Alltag zu begegnen. „Ich bemerke seit einigen Jahren eine vermehrte Sehnsucht der Menschen, sich wieder selbst begegnen zu wollen“, sagt Marita Lersner. Die evangelische Pfarrerin ist heute meine Begleiterin. Im Vorgespräch in ihrer Gemeindekirche sagt sie: „Das wichtigste ist die Zwecklosigkeit.“ Mittlerweile gibt es im deutschsprachigen Raum etwa 100 solcher Begleiter für Straßenexerzitien.

Nichts
Als ich losgehen soll, sträubt sich in mir alles. Ich habe nichts bei mir, kein Handy, kein Geld, keinen Plan. Was mache ich denn in den nächsten zwei Stunden? Ich stehe auf der Straße, eine große Kreuzung, die Ampel gerade auf grün strömen die Menschen links und rechts an mir vorbei. Ich gehe mit. Bin langsam. Setze Fuß vor Fuß, die Hände in den Taschen, der Schal fest um meinen Hals gewickelt. An der Seestraße entlang, Richtung Leopoldplatz. Sie sind alle schneller als ich. Die Fassade zu meiner rechten wird gerade neu gebaut: ein hölzerner Fußgängertunnel verengt den Gehweg. Ich merke, wie ich den vorbeihastenden Passanten ein Hindernis bin. Ich hole tief Luft.

Andere wahrnehmen
Eine Frau ist damit beschäftigt, sich eine rosafarbene Daunenjacke überzustreifen. Der rechte Arm ist schon in der Jacke, während sie Mühe hat, den linken ebenfalls in den engen Ärmel zu schieben. Ihre strähnigen blonden Haare werden von einer roten Strickmütze mit Ohren bedeckt. Eine große Plastiktüte trägt sie bei sich, aus der Tasche ihres Fleecepullis ragt eine Packung Zigaretten. Gleich fallen die Zigaretten. In einem Hauseingang verharrt sie, bemüht sich, den Pullover unter der Jacke auszuziehen, denn die rosafarbene Jacke wird sie besser warmhalten. Die Zigaretten fallen. Ich friere. Der eisige Wind zieht beißend meine Beine hoch und unter die Jacke. Eine Passantin sieht die Zigarettenpackung auf dem Boden liegen, hebt sie auf – und nimmt sie mit. Am liebsten würde ich ihr hinterhereilen, ‚Das sind doch gar nicht Ihre Zigaretten!‘
Ich gehe weiter. Gehe zur U-Bahn-Station am Leopoldplatz, die Stufen runter. Erleichtert lasse ich die Schultern wieder fallen und entspanne meinen Kiefer. Mein Herz pocht noch, ich hätte was machen müssen, die Welt ist doch ungerecht.

Normalerweise finden die Angebote der Straßenexerzitien über mehrere, bis zu zehn Tage statt. Die Teilnehmer sind auf der Straße zwar alleine, bilden aber eine Gruppe und treffen sich abends nach ihren Erlebnissen wieder im gemeinsamen Kreis. Im Austausch mit den geistlichen Begleitern und der Gruppe begreifen sie häufig erst, was sie am Tag erlebt haben und lassen auch die anderen an ihren Erfahrungen teilhaben. Gemeinsam wird außerdem während dieser Zeit gekocht und gewohnt, meist in einfachen Unterkünften in Schlafsäcken. Jeder gibt so viel zum Unterhalt, wie er bezahlen kann.

Spüren die mich überhaupt?
Am Gleis der U6 nach Alt-Tegel sitze ich auf einer Bank. Links und rechts sind die Sitze frei.  Zwei Männer lassen sich rechts von mir nieder. Sie sind ins Gespräch vertieft, beachten mich gar nicht. Ich bleibe sitzen. Der eine nippt an seiner Bierflasche, sein Blick verwirrt, er lallt schon morgens. Der andere gestikuliert und stellt auf seiner linken Hand eine zerlaufene Tätowierung zur Schau. Links neben mich setzt sich plötzlich ein Mann im Handwerkeranzug. Ich rutsche auf meinem Sitz hin und her. Die Hände im Schoß. Putze mir die Nase. Rücke mein Stirnband zurecht. Ich spüre die anderen viel zu nah an mir, aber sie spüren mich nicht. Die U6 rattert regelmäßig von links in den Bahnhof, die Türen quietschen, Menschen hasten aus dem Wagen und andere hasten hinein. Der Mann zu meiner Linken muss niesen, ich biete ihm ein Taschentuch an. Er will es nicht. Jeder ist für sich alleine hier.

Ich bin mein eigener Halt
Ich halte die Nähe nicht mehr aus und stürze die Treppe zum Leopoldplatz hinauf. Ich atme tief durch und lasse das Sonnenlicht in mein Gesicht scheinen. Gehe mit großen Schritten über den Platz, muss weg von den Menschen. Um bei mir zu sein. Ich folge der Sonne, durch den Schatten muss ich rennen. Weg von der Kälte. Auf einem Spielplatz sehe ich eine Schaukel – eine Schaukel in der Sonne. Ich schaukle in die Sonne und jauchze wie ein Kind ob der wieder gewonnenen Freiheit. Am höchsten Punkt habe ich das Gefühl, die weißen Wölkchen im strahlend blauen Himmel berühren zu können. Meine Arme halten mich in der Waagerechten. Ich bin mein eigener Halt im Hier und Jetzt – und muss lächeln. Vielleicht ist es auch Gott, der mir Halt gibt. Aber das will ich jetzt nicht entscheiden.

Marita Lersner sprach von dem Mut, die Kontrolle abzugeben. Die Kontrolle über seine Zeit, seine Wege und Ziele. Für eine kurze Zeit bin ich aus meinem eigenen Leben herausgetreten und in das Leben auf der Straße eingetaucht. Meine Sorge galt den anderen, das Erlebte lässt mich erkennen, dass auch ich mich selbst darum kümmern muss, mir eine warme Daunenjacke anzuziehen.

Zeit zum Nachdenken
Das wird mir allerdings erst klar, als ich wieder mit meiner Begleiterin spreche, die mich nach meinem Spaziergang auf der Straße im Warmen empfängt. Es brauchte eine Zeit des Nachdenkens und des Darübersprechens, um seine eigenen Sorgen wahrzunehmen. Menschen aus allen sozialen Schichten und jeden Alters nehmen an den regelmäßigen Angeboten für Straßenexerzitien teil. „Gerade diejenigen Menschen, die in ihrem Stress oft versinken, kommen manchmal gar nicht auf die Idee, dass eine spirituelle Suche nach sich selbst durchaus im Alltag stattfinden kann“, sagt sie. „An den Orten, die man sonst auch besucht – aber mit Menschen, die man sonst nicht wahrnimmt.“ Ich freue mich auf meine Hängematte.