Gott in der Stadt – Erfahrungen mit Exerzitien auf der Straße

Im Sommer 2018 gab es einen Kurs Straßenexerzitien bei den Maltesern in Berlin.  Marc Möres hat hier einige wesentlichen Erfahrungen gemacht, die er uns erzählen möchte:

Da stehe ich nun, mitten in Berlin, ohne Geld, Handy, Fahrkarte oder Stadtplan, dafür mit mir und viel Zeit, und will Gott suchen, hier in der Stadt. Im Lärm, auf der Straße, im Dreck. Du bist verrückt, spricht es in mir.

Dabei habe ich das selbst angezettelt. Exerzitien auf der Straße für Malteser, die mit Feldbett und Schlafsack in der Diözesangeschäftsstelle in Berlin untergekommen sind, einfache Gebetszeiten halten, abends die Erfahrungen des Tages gemeinsam reflektieren und ansonsten alleine in der Stadt unterwegs ist. Das passt gut zu uns Maltesern, hatte ich gedacht. Gott im anderen suchen, in den Menschen, die mir begegnen. Aufmerksamkeit und Einfachheit üben. Und einmal nicht als der zu den Bedürftigen gehen, der was hat (und hilft), sondern als der, der etwas braucht (nämlich Jesus) und so seine eigene Bedürftigkeit erkennt.

So die Theorie. In der Praxis muss ich auf die Toilette. Normalerweise gehe ich in ein Restaurant, bestelle einen Espresso und erkaufe mir das Recht, die Sanitäranlagen zu besuchen. Das bemerke ich gerade. Doch heute habe ich kein Geld. Ich muss fragen, bitten. In einem Restaurant bekomme ich eine Abfuhr. Im zweiten darf ich. Mir steht vor Augen: So ist das, wenn man kein Geld hat.

Wieder draußen beginne ich, durch die Straßen zu ziehen. Mich beschäftigt der Auftrag, den wir mit auf den Weg bekommen haben. Durch die Stadt gehen, wahrnehmen und nicht werten. Das bekomme ich schon hin, hatte ich gedacht. Ich bin ja ein erfahrener Moderator, gewohnt, Meinungen und Menschen nicht zu bewerten. So gehe ich und schaue.

Plötzlich muss ich innehalten. Gerade ist ein Mann an mir vorbeigegangen, den ich gar nicht recht wahrgenommen habe. Ich bleibe stehen und blicke mich um. Woran lag das? Ich beginne mich selbst zu beobachten – und mache eine Erfahrung, die mich erschüttert. Ich meine, nicht zu bewerten, was Menschen tun. Doch ich werte ununterbrochen. Viel früher als gedacht. Nach und nach entdecke ich die Kategorien, die mein Unterbewusstsein anlegt, um zu entscheiden, wen von den vielen Menschen ich wirklich wahrnehme und wen nicht, wer von mir gesehen wird und wer nicht. Ist jemand dick oder dünn, mir ähnlich oder unähnlich, attraktiv oder nicht? Wie steht es um Kleidung, vermuteten Bildungsstand, Herkunft, Religion? Woran mache ich Sympathie oder Antipathie fest? Wem wende ich mich zu und wem nicht? Ich entdecke Seiten an mir, die mir nicht gefallen. Lange beschäftigt mich das und ich spüre eine heilsame Scham.

Ich gehe. Mal links, mal rechts, irgendwie Richtung Kreuzberg. Im Laufe der Stunden drängt sich ein Gedanke auf. Ich bin hier, um Gott zu suchen und um mich herum sind tausende Menschen, die doch alle nach seinem Bild geschaffen sind. Wie wäre es, wenn ich einen fragte, ob er mir bei der Suche helfen kann? Der Impuls wird immer stärker, gleichzeitig habe ich Angst davor. Gedanken schießen durch meinen Kopf: Du machst Dich lächerlich. Oder: Du bist Leiter des Geistlichen Zentrums und traust Dich eine solche Frage nicht?

Verzweifelt lasse ich mich in einer Bushaltestelle nieder. Neben mich setzt sich ein Mann mit einer Armschiene, offenbar gerade vom Arzt gekommen. Soll ich den fragen? Ich grüble, formuliere innerlich. Der Bus kommt. Der Mann ist weg. Ich habe verloren. Dann kommt eine junge Schwangere. Ich grüble. Der Bus kommt. Wieder nicht. Ich gehe weiter, halte an einer anderen Bushaltestelle – das Gleiche. Frustriert gehe ich weiter und strande in einem Park. Dort lungere ich herum. Ich bin mir peinlich.

Dann sehe ich einen Mann, der ein Buch liest. Ein Buch! Vielleicht liest er ja was Frommes. Oder zumindest was Tiefgehendes. Das ist mein Mann! Ich stehe in seiner Nähe und traue mich wieder nicht. Bestimmt 10 Minuten. Dann bete ich plötzlich – und gehe zu ihm. Entschuldigen Sie, ich bin auf der Suche nach Gott und wollte Sie fragen, wo ich da am besten schauen soll. Der Mann blickt mich an, verdutzt, und sagt: Nein, keine Idee. Ich bedanke mich, gehe weg und komme mir blöd vor. Da kreuzt ein anderer Mann, den ich vorher auch gesehen hatte, meinen Weg. Vielleicht obdachlos, er hat gerade seine leeren Bierflaschen in einen Mülleimer gebracht. Ohne nachzudenken spreche ich ihn an: Können Sie mir sagen, wo ich Gott finden kann? Er schaut mich an und antwortet mir. Was er sagt,trifft mich so ins Herz, dass ich mich nur kurz bedanken kann, weitergehe und mir die Tränen kommen. Ich gehe und weine und gehe und weine. Eine halbe Stunde brauche ich, um mich zu beruhigen. Irgendwann fragt mich eine Passantin nach dem Weg. Ich helfe, so gut ich kann. Dann gehe ich froh, betend und dankend durch den Tiergarten nach Hause.

Da warst Du, Jesus. Ganz sicher hast Du mich angeschaut in diesem Mann am Mülleimer. Ganz sicher gehst Du mit mir durch diese Stadt und durch dieses Leben.

Die nächsten Malteser Straßenexerzitien finden statt vom 30.4.-3.5.2019 in Berlin. Informationen unter geistliches.zentrum@malteser.org