Christian Herwartz ist dafür bekannt, dass er vieles auf sich zukommen lässt, vieles spontan tut und entscheidet. Er selber würde wohl dazu sagen: „sich von Gott in jeder Situation beschenken“ lässt. Von diesem Geist sind auch die Straßenexerzitien sehr geprägt. Da stellt es natürlich eine besondere Herausforderung dar, wenn es Gruppen gibt, die klare Formen und Strukturen einfordern. Ein Erfahrungsbericht:
Erfahrungsbericht 30.6.-2.7.2017, Haus Salem, Bielefeld
Gott läßt sich nicht verstrukturieren
oder:
Es braucht kein Chaos, um einen tanzenden Stern zu gebären
(in freier Anlehnung an Nietzsches Satz:
„Man muss noch Chaos in sich tragen, um einen tanzenden Stern zu gebären“)
Elf Menschen kamen in Bielefeld-Bethel zusammen, um sich im Rahmen ihres üblichen WE-Treffen als Weggemeinschaft von Freitagabend bis Sonntagmittag auf die Straße einzulassen. Klara-Maria, Christian und ich wurden vorher durch einen detailliert ausgearbeiteten Ablaufplan der drei Tage eingestimmt, den der Leiter mit Christian besprochen hatte. Um genau zu sein: Die Mahlzeiten wurden uns bereitet, waren zeitlich festgelegt und begannen und endeten gemeinsam mit einem gemeinsamen Gebet, die Unterbringung erfolgte in wohnlichen Doppelzimmern, die Gruppenräume waren wunderschön, die Zeiten für den thematischen Input waren genauso festgelegt wie die Besinnungszeiten, die Gottesdienstzeiten waren gesetzt und vorbereitet incl. Lieder, Gestaltung der Mitte und Text- bzw. Gebets-rufen, es gab Vorschläge, wann und wie lange geschwiegen werden sollte, die Zeit auf der Straße war genau festgelegt incl. wie man dorthin kommt (Samstagnachmittag von 14.15 bis 17.15 Uhr, 2 Autos)….. – dieses Straßenexerzitien-WE begann so ganz anders als sonst.
Erst machte mich das so eng Gestrickte dieses Wochenendes hilflos, dann sauer: wieso laden „die“ uns ein, wenn sie selbst alles planen?! Aber dann: es reizte mich zum Lachen: Wie können in so etwas Festgezurrtem, Straßenexerzitien möglich sein?! Was gehen Christian seine Äußerungen von gestern an?! Und es amüsierte mich, weil ich nicht im Ansatz glaubte, dass Christian das mit sich machen ließ (– tat er aber: in großer Gemütsruhe, nur mit gelegentlichen provokanten Aufforderungen an Einzelne und mit einigen sanft penetranten Zwischenrufen). Ich selbst beschloss, die so eindeutig kommunizierten Strukturwünsche und das Festhalten der Weggemeinschaftsgruppe an ihren üblichen Abläufen ernst zu nehmen und wertschätzend zu achten und Gott zuzutrauen, dass er sich seine Zugänge zu den Menschen bahnen wird. Dann ging es ganz leicht – Chaos über dem Wasser der Urflut ist halt nicht immer die Voraussetzung für das Aufbrechen von Leben!
Und so lief es dann ab: Am ersten Abend lernten wir einander kennen, indem wir über die Straßenexerzitien sprachen, Fragen beantworteten und erste Orientierungen gaben. Auch bekamen die Teil-nehmenden ein Gespür dafür, wen sie mit uns vor sich hatten – sehr wichtig, denn sie vertrauen uns ihre Erlebnisse der Straße an! Und aus „Die da!“ wurden Menschen mit ganz eigenen Geschichten, Gedanken und Glaubenssuchwegen – schon jetzt beeindruckend! Und während Christian in seiner unnachahmlichen Art fröhlich all sein Wissen und seine Erfahrungen heraussprudelte, verdeutlichte Klara-Maria manches ruhig und gesammelt anhand eigener Erfahrungen und zerlegte ich hin und wieder seine komplexen Inhalte und übersetzte so manches für manche in die herkömmlichere Sprache. So bekamen die Elf ein erstes theoretisches Gespür für Erfahrungsfelder der Straßenerfahrungen – es wurde dichter, stiller und nachdenklicher in der Gruppe: da war etwas angekommen, v.a., dass es ganz und gar um sie selbst ging und um ihren je eigenen Gott.
Die inhouse-Zeit am Samstagvormittag gestalteten wir mit dem klassischen Impuls: Was ärgert dich, macht dich traurig, läßt dich erstarren? Was ist deine Sehnsucht dahinter? Welcher Aspekt Gottes verleiblicht sich darin in dir? Wie kannst du deinen Gott heute ansprechen? Nach einigen Beispielen entließen wir die Gruppe ins Schweigen und Besinnen und boten eine Austauschrunde vor dem Mittagessen an – und wie ehrlich, dicht und klar sprachen die Teilnehmenden von ihren Nachspür-Gedanken!
Nach einem wunderbaren Mittagessen und einer Mittagsruhezeit fuhr die Gruppe mit 2 Autos in die Stadt, um dort 3h auf der Straße zu verbringen.
Nach dem Abendessen ging es in die Gruppen. Wie schon mehrfach durfte ich erleben, dass meine Angst vor dem erstmals alleinigem Begleiten von 5 Menschen wich, als ich mich der Gruppe und Gottes gutem Geist anvertraute. Diese Angst kommt halt immer wieder – im Nachhinein immer Kopfschütteln auslösend („Elisabeth, kapierst du es denn nie?!“), weil ich doch weiß, dass Gott der Boss ist und mehr tut, als ich tun kann …. Und wie unglaublich intensiv haben die Exerzitant*innen diese Straßenzeit erlebt – es zog mir und uns wirklich die Schuhe aus! Wir hoffen sehr, dass sie ihre Erfahrungen auf Papier bringen!
Nach den Austauschrunden haben wir auf Hinweis der Leitung ausdrücklich zum Schweigen ermutigt – tja, da zeigte sich, dass Erwachsene mit Erwachsenen unterwegs sind: das schlug fehl: fast vollständig trafen wir uns zum abendlichen Ausklang bei Chips, Bier, Wein und Süßigkeiten. Und der intensive Austausch aus den Kleingruppen setzte sich fort – allen auditiven und oralen Genüssen zum Trotz.
Sonntag: dem vorbereiteten Gebet folgte das reichhaltige Frühstücksbuffett. Über die schmutzigen Teller baten wir die Gruppe, sich trotz dem plötzlichen Druck, die Zimmer zu räumen, auf gestern zu besinnen und die Erfahrungen nachklingen zu lassen. Dann der Abschlussgottesdienst, 1,5h geplant, mit vielen Vorab- Rückfragen, wie das denn jetzt vonstatten geht, wann der persönliche Segensteil dran sei, wie das mit den Lieder gehen sollte – wir blieben recht locker, bauten alles ein und begannen einfach. Die Zeit reichte nicht, wir kürzten etwas ab, machten noch eine Feedback-runde und waren früh genug vor dem Mittagessen fertig – ohne Hast, ohne Druck, einwilligend in die Wünsche der Weggemeinschaft. Und über uns selbst lächelnd, wie unkompliziert wir miteinander gestalten konnten und wie frei und leichtgängig wir die Strukturbedürfnisse achten und darin Gottes Wirken Raum geben konnten – er gab uns diese Freiheit und er gab den Menschen von Sich-Selbst für ihr Leben!
In dem wie noch nie erlebten hoch strukturierten Rahmen entstanden Räume des Interesses, des ehr-lichen Nachfragens, der feinen Begegnung untereinander und des gläubigen Ausschauhaltens nach Gott. Die sonst übliche quirlig-lebendige Spontanität, die die Straßenexerztien kennzeichnet, die mir so lieb ist, die ganz wenige Fixpunkte hat, diese Spontanität hatte keine Mühe, sich auf ganz erstaunliche Art und Weise gegenüber diesen so hoch strukturierten Tagesabläufen durchzusetzen. Und so lernte ich:
- Solch klar und eng getacktete Zeiten sind für manche Menschen ein wunderbares Hilfs- und Lebensmittel, sich auf die unberechenbaren Impulse unseres Gottesgeistes einzulassen
- Gott läßt sich weder durch enge Struktur noch durch viel Freiräume in seinem Wirken beeinflussen oder beeinträchtigen
- Wenn wir als Begleiter*innenteam frei und wohlwollend miteinander umgehen, wirkt das so unmittelbar auf eine Gruppe, als ob Gott spricht
- Nimmt man Strukturfreaks genauso ernst wie sich selbst und die Grundidee der größtenteils offenen Straßenexerzitien, entsteht ein heiliger Ort, an dem das Brausen unseres Gottesgeistes nicht zu überhören ist
Elisabeth aus Duisburg