von Marcus Rasche
Die vier Adventssonntage des Lukasjahres ließen sich als eine Blaupause des Projektes lesen, die Welt radikal zu erneuern: (1) Das Alte muss vergehen! (2) Es wird vom Rande und vom Kleinsten her unterwandert! (3) Dafür braucht es die ungeteilte, radikale Hingabe für das Neue! (4) Und dieses Neue beginnt im Hier und Jetzt.
(1) Die Bewegung, die Jesus aus Nazareth ins Leben rief, entstand in aufgeheizter Atmosphäre. Um im Angesicht eines ausbeuterischen, übermächtigen Imperiums (Rom) und seiner regionalen Helfeshelfer (die Herodesse) zu überleben, sich irgendwie zu behaupten, gab es verschiedene Strategien: Kollaboration (Sadduzäer und ihre Hohepriester), innere Immigration (Pharisäer), bewaffneter Widerstand (Zeloten, Sikarier), Auswanderung (Essener). Aber für viele Menschen wurde auch dies immer klarer: Gott werde das unselige Treiben und die vielen Sünden dieser Welt nicht länger mit ansehen. Weil diese Welt grausam ist und verdorben, unrettbar verloren: deshalb wird Gott ihr ein radikales, furchtbare Ende bereiten. Dann wird er eine neue Welt schaffen, ein neues Zeitalter. Dahinein gelangen aus der alten Welt nur sehr wenige: ein Rinnsal, ein kleiner, heiliger Rest, die wenigen Aufrechten, die ausgeharrt haben. Man nennt diese Weltanschauung „Apokalyptik“ (gr. apokalypsis: Enthüllung, Offenbarung), weil dieses geheime „Wissen vom Ende der Welt“ nun, am Ende der Welt, den Auserwählten offenbar werden sollte.
Und die Jesusbewegung? Versuchte etwas ganz Anderes, etwas ganz Neues! Keine Flucht, weder nach Innen noch nach Außen, keine Kollaboration, kein gewaltsamer Widerstand. Sondern: Die Welt mit dem einzigen Sauerteig zu durchdringen, der echte Veränderung bringt: die Liebe! Tatkräftig und voller Leidenschaft! Apokalyptisch waren Jeus und die seinen also nicht: denn sie liebten diese Welt! Und feierten sie ausgiebig! Auch für sie war zwar klar, dass es „so“ nicht weitergeht; und dass das „Alte“ verschwinden und „Neues“ kommen muss. Nicht aber die Welt muss vergehen – sondern der „kosmos“, d.i. die Welt i.S. einer von Menschen gemachten, kranken, pervertierten Wirklichkeit, mit ihren Logiken der Macht, des Mammons, der Spaltung, des Krieges. Hier allerdings bedient sich auch die Jesusbewegung ausgesprochen apokalyptischer Motivik: Das Evangelium vom Ersten Advent schöpft da sozusagen aus dem Vollen, wenn es von erschreckenden „Zeichen an Sonne, Mond und Sternen“ spricht, vom „Toben und Donnern des Meeres“, der „Erschütterung der Kräfte des Himmels“, welche die Menschen „bestürzen“, „ratlos machen“, „vor Angst vergehen“ lassen. Das alte Denken muss mit Pauken und Trompeten untergehen! „Wendet euren Geist“, „denkt um“, ist Jesu erste Forderung an uns (Mk1).
(2) Nicht Jesus also, wohl aber Jesu größtes Vorbild und enger Freund Johannes: den kann man getrost als in der Tradition der Apokalyptik stehend bezeichnen. Aber was hat Jesus dann so sehr an Johannes gefesselt? Das Evangelium vom Zweiten Advent gibt Hinweise. Es zeigt die typisch lukanische Vorliebe für die historische Kontextuierung seiner Erzählungen – und hier, in der Erzählung vom Täufer, greift Lukas wirklich sehr weit aus: „Es war im 15. Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius, Pontius Pilatus war Statthalter von Judäa, Herodes Tetrarch von Galiläa“ usw.; „Hohepriester waren Hannas und Kajaphas…“ Diese großartige Einleitung der Täufererzählung ist allerdings nicht bloße chronikalische Information für ein historisch interessiertes Publikum – das wäre ein naives Verständnis des Textes; was sich uns sofort offenbart, wenn wir genau hinsehen, wen Lukas da aufzählt: Die Genannten sind samt und sonders ausgemachte Feinde des Johannes und der Jesusbewegung, sie begegnen uns im weiteren Verlauf des LkEv als die, welche Johannes und Jesus verfolgen, zu Fall bringen und ermorden werden – Exponenten, Kollaborateure, Liebchen des grausamen, finsteren Imperiums. Genau dies aber ist der Rahmen, innerhalb dessen nun eine ganz neue Geschichte anhebt, die das ewig-gleiche Narrativ aufbricht, es sprengt und alt aussehen lässt: dass es immer schon Herrscher und Beherrschte gegeben hat, dass die Mächtigen ihre Völker ausbeuten, dass es nun einmal keine Gerechtigkeit auf Erden gibt, dass es eben Arm und Reich immer schon gegeben habe usw., usw. Johannes setzt am Zweiten Adventssonntag seine sozialethischen Vorstellungen dagegen. Und Lk zeigt im weiteren Verlauf seiner „Frohen Botschaft“ und später, in der Apostelgeschichte ganz konkret auf, dass und wie es in der Jesusbewegung auch ganz anders, nämlich liebevoll und gerecht, zugehen kann (Apg. 2 und 4).
Aber hier, am Zweiten Adventssonntag, zeigt er eben vor allem, dass dieses „Andere“, dieses „Neue“, die Gegenerzählung – eine echte Gegenwirklichkeit – aus kleinsten Anfängen entsteht, an einem unbedeutenden Flusslauf in der Ödnis einer nicht allzu wichtigen Provinz, ganz am Rande des riesigen Imperiums: Von dort aus soll die Welt verändert werden! Der Kontrast könnte größer nicht sein: Hier der purpurgekleidete „erhabene Caesar“ Tiberius in seinen prächtigen Palästen, dort der in einem Kamelhaarkleid gewandete Johannes, der an einen unbekannten jungen Mann aus der galiläischen Provinz am Rande der Welt einen eigentümlichen Ritus vollzieht… Verstehen wird dies nur, wer dem Gleichnis vom Senfkorn wirklich vertraut! Mut schöpfen wird daraus nur, wer überzeugt ist von der Wirkung des Sauerteigs: wer erfüllt ist von dem Glauben an die göttliche Schöpferkraft, die Liebe, die alles durchdringt, alles im Dasein hält und aus kleinsten Anfängen die Welt verwandeln kann! Wagemutig – aber durchaus nicht einzigartig: Denn ob abgelegene Ödnis im Niemandsland (Mose), ob verlassene Grabkammer (Antonios der Ägypter), die Ruine von St. Damiano (Franziskus), die Höhle bei Manresa (Ignatius), das winzige Dorf Taizé (Frère Roger): aus fernsten Gegenden und aus unbedeutendsten Stätten heraus kann Großes entstehen.
(3) Das Evangelium des Dritten Adventssonntags weist auf die Bedingung hin, unter der allein dieser Wagemut Frucht bringen wird. Im letzten Abschnitt vollzieht Johannes eine scharfe Trennung von Spreu und Weizen, die im Feuer verbrannt bzw. als Ernte eingefahren werden. Dieses Schwarz-Weiß-Denken missfällt heute so manchem: unfein, undifferenziert. Aber wo es ans Eingemachte geht, um Grundsätzliches, da ist alles, was nicht heiß oder kalt ist, sondern lau, völlig unangebracht (Offb 3). Wo es um Leben und Tod geht, um Freiheit oder Unterdrükkung, um reich und arm, satt und hungrig, wo es um den Menschen und seine Würde, seine Freiheit, seine Gleichheit geht: Da gibt es keine Kompromisse! Jesus ist klar, dass seine Botschaft von einer anderen Welt ganze Familien entzweit (Mt 10), wie sie auch seine Familie entzweit hat (Mk 3), und wer nicht für ihn ist, ist gegen ihn (Mt 12): Wo es um das Eigentliche geht, gibt es kein lau; die Lauen enden im Nirgendwo; denn, folgen wir Dante: „Der Himmel will sich nicht mit ihnen schänden – und auch die tiefe Hölle schließt sich ihnen“; weil die, „die nie lebendig waren“ Gott und seinen Feinden ein Greuel sind.
Von daher erklärt sich auch jene eigentümliche Vorliebe Jesu für „unmoralische Helden“, wie uns einige seiner Gleichnisse lehren. Und er hätte mit Sicherheit, wie den schlitzohrigen Verwalter (Lk 16), den gottlosen Richter (Lk 18), den listigen Finder (Mt 13) und manche mehr, so auch einen frauenverachtenden, xenophoben, selbstverliebten, volksverhetzenden und lügenhaften Straftäter, der Präsident werden möchte anstelle des Präsidenten, uns als Vorbild vor Augen gehalten, wie er, schon blutüberströmt, noch die Faust reckt zu einem unbeugsamen „fight, fight, fight!“ oder, um die Niederlage abzuwenden, das Kapitol stürmen lässt: Nicht, was solche Männer wollen, bewundert Jesus; sondern ihre ungeteilte, radikale, restlose Hingabe an die Sache (die bei ihnen allerdings in der Regel nur „Ich“ heißt). Warum? Weil er sich eine solche Leidenschaftliche auch für die wünscht, die die Welt zu einem besseren Ort machen wollen und sollen! Mit letzter Rücksichtslosigkeit! Denn die einzige verzeihliche Rücksichtslosigkeit ist die der Liebe! Wer ist dazu bereit? Sind wir es nicht, so überlassen wir die Welt ihren leidenschaftlichen Zerstörern! Aber vielleicht schämen wir uns eher für eine solche Radikalität?
Jesus aber (Lk 12): „Ich bin gekommen, um auf der Erde ein Feuer anzuzünden; ich wünschte, es würde schon brennen!“ Diese Leidenschaft beinhaltet einen weiteren, für uns Heutige oft ebenso befremdlichen Aspekt: Dass das Neue hier und heute beginnen kann. Wir Christ:innen sahen hingegen jahrhundertlang diese Welt lediglich als das zu durchschreitende Jammertal an, bevor wir, dann erst und nur bei guter Führung, in einen fernen „Himmel“ kämen. Jesus glaubt zwar mit einigen seiner jüdischen Zeitgenossen (so die Pharisäer) an ein Leben nach dem Tod; aber für ihn beginnt der „Himmel“ schon hier auf Erden! Die neue Welt Gottes, sein Reich – das Reich der Liebe, weil Gott selbst ja die Liebe ist –, beginnt „mitten unter euch“ (Lk 17), das Reich ist schon „angekommen“ (Mk 1), ist schon zu euch gekommen (Mt 12). Denn die Welt ist und bleibt: Gottes gute Schöpfung; deshalb haben wir die Aufgabe, vom Urbeginn an (Gen 1-2!), sie wieder zu einem Ort zu machen, an dem alle, Menschen, Tiere, Pflanzen, gut leben und gerne leben können. Das Feuer der Liebe, von dem Jesus so sehr wünscht, dass es hier brennen soll, bewirkt, worauf die Liebe zielt: die Metamorphose dieser Welt.
(4) Der Vierte Adventssonntag bietet eine intime, rührende Szene: Maria und Elisabeth begegnen sich. Es ist wohl die große Freude, die Johannes im Bauch seiner Mutter hüpfen lässt: Freude darüber nämlich, dass da, im Bauch der Maria, jemand im Gleichklang mit dem künftigen Täufer ist; Freude darüber, dass die beiden versuchen werden, hier und jetzt, die Welt aus den Angeln zu heben. Theologisch ist es aber auch die Begegnung zweier unterschiedlicher Auffassungen, welche jedoch in entscheidenden Punkten übereinkommen. Die Szene ist wie eine Bestätigung dessen, was die ersten Drei Sonntage gefrohbotschaftet haben: Das Dringlich-Drängende des Täufers, sein Insistieren darauf, hier und jetzt umzukehren, das Nahe des Neuen und das Radikal-Entschiedene, das nötig ist, um sich vom Neuen ergreifen zu lassen: Das ist, was die Jesusbewegung mit der Täuferbewegung gemein hat, was Jesus von Johannes übernommen und verinnerlicht hat. Und dies verbindet sich nun mit der tiefen Liebe zu Gottes Schöpfung und zu den Menschen, was v.a. die Jesusbewegung kennzeichnet: mit dem tiefen Vertrauen darauf, dass Gottes Schöpfung wirklich eine gute Schöpfung ist und bleiben wird. Und dass wir den Auftrag haben, sie wieder zu verwandeln in eine gute Welt für alle. Dass Gott selbst dieses Tun dann vollenden werde – das steht für Jesus sicher außer Frage. Aber für ihn steht nicht im Mittelpunkt, dass irgendwann einmal ein „Himmel“ anbrechen wird für uns, sondern dass der Himmel der Liebe, eben weil wir alle und die Welt ja ohnehin und allein aus Liebe geboren sind, selbstverständlich schon hier und jetzt anbrechen kann, soll und muss.
Die Frage die sich aus den vier Adventssonntagen ergibt, ist daher sehr einfach: Sind wir bereit für den Kampf? Denn ein Kampf ist es: Wir müssten den Mut aufbringen, wirklich hinzusehen: dass es so, wie es läuft, nicht weitergehen kann – gegen unsere Versuche, uns in einer unheilvollen Wirklichkeit gemütlich einzurichten. Wir müssten den Wagemut aufbringen, vom Kleinsten, scheinbar Aussichtslosen aus, diesen Kampf aufzunehmen für ein befreites Hier und Jetzt, – entgegen unserer üblichen Einschätzung dessen, was „man“ für „realistisch“ halten kann. Wir müssten möglicherweise auch die Scham überwinden, uns ungeteilt und radikal einer Sache zu verschreiben – entgegen unserer bürgerlichen Attitüde der Ausgewogenheit in allen Urteilen. Wir müssten also, zusammengefasst, das Vertrauen aufbringen, dass die Welt Gottes gute Schöpfung ist, die es schon hier, schon jetzt ermöglicht, sie zu feiern mit einem guten Leben – Hoffnung gegen alle Hoffnung.
Das alles ist natürlich in erster Linie ein Kampf mit uns selbst, oft ein Kriechen auf allen Vieren. Wir sollten ihn gewinnen! Wir werden ihn aber nicht allein gewinnen können, sondern nur miteinander: indem wir uns gegenseitig stärken, verbinden, vernetzen, Mut zusprechen, Hoffnung machen. Wie sonst sollte Gott heute Mensch werden mitten unter uns? Wenn wir wenigstens versuchen, den Kampf aufzunehmen: Dann wird Gott in uns selbst ankommen! Dann werden wir selbst neu geboren – und feiern nicht nur die Geburt des Christkindes in der Krippe (in der Heilige Nacht), nicht nur die Inkarnation des Logos in Jesus, dem Christus (am Weihnachtstag): sondern dann kann Gott auch in uns selbst Menschen werden. Was wäre das für ein Weihnachten: „Wir feiern die Geburt unseres Herrn Jesus Christus in unserm armen Fleisch…“.