Aus der Impulsreihe für Begleiter*innen von Straßenexerzitien von Nadine Sylla, Josef Freise, Maria Jans-Wenstrup, Dorothee Steif und Elisabeth Kämmerling
Mit der Begleitung von Menschen, die sich übend auf die Straße begeben, übernehmen wir eine einflussreiche, gestalterische Aufgabe. Spirituelle Verantwortung ist immer auch eine Form von Machtausübung, die behutsam und angemessen erfolgen sollte, damit die Menschen, die wir begleiten, ihren eigenen Weg gut suchen und finden können. Um hilfreich die eigene Macht einzusetzen, hilft der Blick auf die drei Formen schädlicher Machtausübung, wie sie Doris Wagner herausgearbeitet hat.
Spirituelle Vernachlässigung
(…) Wer als Kind, als junger Mensch oder als Erwachsener in einer neuen Lebensphase keine angemessene Unterstützung dabei erhalten hat, den eigenen Erfahrungen Bedeutungen zu geben, mit denen er oder sie gut leben kann, wer nicht gelernt hat, sich und seine Umwelt spirituell zu erfassen, oder wer in einer Umgebung aufgewachsen ist, die stark von einer Spiritualität der Unterordnung und der Verbote geprägt war, wird es sehr schwer finden, selbst zu einer anderen, vielschichtigen und beglückenden Spiritualität zu finden. Spirituelle Vernachlässigung geschieht überall dort, wo Menschen die Aufgabe haben, die spirituelle Handlungsfähigkeit anderer Menschen zu unterstützen, das aber nicht tun.
(…) Spirituelle Vernachlässigung kann verschiedene Gesichter haben. Nur sehr selten wird sie darin bestehen, dass ein Begleiter einer begleiteten Person gar nichts anbietet. In den meisten Fällen wird die Vernachlässigung darin bestehen, dass er ihr nicht das anbietet, was sie braucht: Er begleitet, ohne auf die Bedürfnisse der Menschen, die er begleitet, zu achten. Er lässt sich auf die Lebensrealität, die spirituellen Ressourcen und Bedürfnisse der Menschen, die er begleitet, nicht ein und bietet ihnen stattdessen spirituelle Ressourcen an, die diesen Menschen nicht helfen, weil sie für sie nicht passen oder weil sie sie gefährden oder ihnen direkt schaden. (…)
Spirituelle Manipulation
Spirituelle Manipulation liegt dann vor, wenn die spirituelle Freiheit der begleiteten Person (…) subtil mit Hilfe verschiedener Techniken untergraben wird. Wer jemand anderen spirituell manipuliert, macht ihn glauben, er habe selbst und aus freien Stücken auf bestimmte Weise gehandelt – beispielsweise einen bestimmten Blick auf sein eigenes Leben bekommen, eine bestimmte Lebensentscheidung getroffen, ein bestimmtes Gebet gesprochen, Geld gespendet -, während er in Wirklichkeit mit Hilfe bestimmter Techniken dazu gebracht worden ist. (…)
Die Täter haben in der Regel das Ziel, die begleitete Person zu einer bestimmten spirituellen Wahrnehmung oder zu bestimmten Entscheidungen und Handlungen zu drängen. (…) In einigen Fällen sind die Täter zwar wohlmeinend, folgen aber einer bei Licht besehen unhaltbaren Annahme. Sie meinen, sie selbst wüssten, im Unterschied zu den meisten anderen Menschen, was „richtig“ sei, und müssten die Menschen, die das von alleine nicht wissen könnten, mit Tricks dazu bewegen, das „Richtige“ zu glauben und zu tun.
Spirituelle Gewalt
(…) Ein Begleiter, der spirituelle Gewalt ausübt, gibt sich nicht damit zufrieden, den Willen des Begleiteten subtil zu beeinflussen, sondern er setzt sich offen und brutal über ihn hin-weg. Diese Form der spirituellen Gewalt ist nur möglich, weil das Opfer zuvor schon spirituell vernachlässigt und manipuliert worden ist: In dem Moment, in dem einer Person diese Form der Gewalt begegnet, weiß sie zwar, dass der Begleiter sich über ihren Willen, ihre Rechte und Bedürfnisse hinwegsetzt, sie leidet auch unter dieser Gewalt und spürt, dass ihr Unrecht angetan wird, aber weil sie zuvor glauben gemacht worden ist, der Begleiter hätte immer Recht und ihre eigenen Bedürfnisse wären nichts wert oder gar verdorben und schlecht, kann sie dieser Gewalt nichts entgegensetzen, im Gegenteil: Sie wird versuchen, die Taten zu rechtfertigen und den Täter gegenüber Außenstehenden zu verteidigen.
Auszug aus: D. Wagner, Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche, Freiburg 2019, S. 79ff.