von Anja Schmitz
„Exerzitien“ bedeutet „Übung“. Ich verbinde damit Tage der Stille und inneren Einkehr, abgelegen in einem Kloster. Doch „Straßenexerzitien“?
Auf der Internetseite lese ich: „Das wahrzunehmen und wahr sein zu lassen, was in mir und um mich herum ist. Das sind Regungen, Bewegungen, Situationen, meine Umwelt, meine Mitmenschen und die Beziehung zu ihnen – und darin die Spur des Geheimnisses, das wir Gott nennen.“ Gebannt lese ich weiter und mir wird klar: Das ist nicht nur eine geistige Übung. Das ist, wie ich leben möchte.
Gottessuche und Selbsterkenntnis
Wenn ich ohne bestimmtes Ziel in die Welt gehe, mir Zeit nehme, mit den neugierigen Augen eines Kindes die Welt betrachte und offen für Unerwartetes bin, kommt es vor, dass kleine Details mich ansprechen, dass sich Gespräche mit Fremden ergeben oder kurze Augenblicke zum Wendepunkt in meinem Leben werden. Es geht darum, Schweigen als innere Haltung zu erlernen, die es mir ermöglicht, Dinge um mich herum wirklich wahrzunehmen und nicht nur das Gewohnte zu sehen und zu denken.
Vorurteile kann ich nicht einfach abstellen, aber wenn ich aufmerksam nicht nur nach außen, sondern auch nach innen schaue, kann ich sie wahrnehmen und betrachten. Wenn ich spüre, dass sie mich einengen, kann ich mich bewusst entscheiden, sie abzulegen. Im bewussten Betrachten meiner inneren und der äußeren Welt, ohne im Hamsterrad des Alltags zu stecken, kann ich Gott begegnen. Er manifestiert sich in Menschen, in Worten, in Situationen, in mir. Das Heilige ist mittendrin in alltäglichen Situationen, wenn ich nur genau hinschaue.
Gott auf der Straße entdecken
Nicht das abgeschiedene Kloster, sondern „die Straße“ ist hier das ideale Umfeld. Unterschiedlichste Menschen, Szenen, die sich vor meinen Augen abspielen: banal und alltäglich, aber auch konfrontierend, irritierend, befremdend. Hier kann ich bis an die Grenzen meiner Toleranz kommen. Wenn der andere mir dann ein Stück entgegen kommt, kann eine Begegnung stattfinden, in der sich Gott offenbart. Jesus sagt: Ich bin der Weg. Ich übersetze es: Ich bin die Straße.
Straßenexerzitien praktisch
Auf der Internetseite finde ich verschiedene Angebote in diversen deutschen Städten. Nur zwei oder bis zu zehn Tage lang kann man sich auf dieses Experiment einlassen. Auf dem Kirchentag in Dortmund gibt es ein dreistündiges Angebot zum Kennenlernen.
Das Zusammenleben in der Gruppe in einer spartanischen Unterkunft gehört zum Programm. Nach einem gemeinsamen Tagesbeginn geht man seiner eigenen Wege und lässt sich inneren oder äußeren Impulsen folgend durch die Stadt treiben.
Ganz wesentlicher Bestandteil ist der abendliche Austausch mit den anderen Teilnehmern und den Kursleitern. Das in Worte fassen der Erlebnisse und die Resonanz der anderen hilft, das Erlebte einzuordnen, oft wird erst hier die Bedeutung klar. Im Zuhören und Wahrnehmen, im Schweigen und ganz da sein lebt man auch hier die Grundhaltung der Straßenexerzitien weiter.
Ich bin fest entschlossen, bei nächster Gelegenheit an Straßenexerzitien teilzunehmen. Und ich erhoffe mir davon, eine neue Grundhaltung für meinen Alltag zu erlernen. Ich stelle mir vor, dass ich lernen kann, das Heilige in jedem Augenblick zu erkennen.