Bei meinen letzten Straßenexerzitien kam ich direkt an meinem ersten Tag an einem Karottenfeld vorbei, das zunächst so wirkte, als sei es abgeerntet… …bei näherem Hinsehen stellte ich fest, dass sich noch ganz viele Karotten in dem Feld befanden. All jene, die beim Ernten in der Erde geblieben waren, lagen waagrecht in der Erde, richteten ihr Grün nach oben und wuchsen weiter. Ich begann einige auszugraben, merkte aber schnell, dass der ganze Acker noch voller Karotten war, die ich niemals alle ausgraben konnte. War ich zuerst verwundert, überfiel mich nach und nach eine große Wut und Trauer. In was für einer Welt und Gesellschaft leben wir, in der wir so satt sind, dass die Karotten einfach hier vergammeln? Sind wir nur so lange achtsam mit den Dingen, so lange es an etwas fehlt? Und ich stellte mir vor, dieses Feld befände sich an einem anderen Ort dieser Welt, wie viele Leute würden kommen und die Karotten ausgraben? Mit vergammelten Karotten schrieb ich ein WARUM? auf den Weg. Dann nahm ich so viele Karotten, wie ich tragen konnte mit nach Hause und teilte diese in Form eines Karottensalats mit der Gruppe.
Die nächsten Tage beschäftige ich mich viel mit Hunger und Satt-sein. Satt-sein bezog sich dabei nicht nur auf Lebensmittel, sondern auch darauf, keine Fragen mehr zu stellen, sich nicht betroffen zu fühlen, sich nur um sich und die eigene kleine Lebenswelt zu drehen und wenig mitzubekommen, dass es auch andere Lebensrealitäten gibt. Das ist jetzt sehr pauschal, aber es ging mir dabei auch nicht nur um die anderen, sondern ich spürte auch meine Angst, satt zu werden und es gar nicht zu merken. Der Hunger hingegen wurde für mich ein Symbol des Lebens und der Sehnsucht nach mehr, Hunger nach Beziehung, Hunger nach Veränderung, Hunger nach Gerechtigkeit. In diesen Tagen in Ludwigshafen war ich mit meinem Hunger unterwegs. Ich führte ein langes Gespräch mit einem Mann in einer Suppenküche darüber, der währenddessen fünf Berliner aß, weil es seine letzte Mahlzeit für heute sein würde und für den Sattsein wesentlich erstrebenswerter war als Hunger zu haben. Während er zu Beginn daran zweifelte, ob ich überhaupt hierher passe (meine Kleidung sei zu sauber und mein Haarschnitt zu neu), gestand er am Ende, ich würde doch etwas bedürftig aussehen und ließ mich somit dazuzugehören.
Ich war auch in einer Kirche, die zur Nazi-Zeit zu den Deutschen Christen gehörte und in der wohl im Kirchenraum auch ein Hitlerbild hing und fragte mich, welchen Hunger oder welches Sattsein die Menschen damals wohl gespürt haben. Ich war auf den Soldatenfriedhöfen, ekelte mich vor der Verherrlichung des Krieges und den Tod für das Vaterland und fragte mich, mit welchem Hunger diese oft noch so jungen Männer aufgebrochen sind. Ich ging in die Kantine von BASF im so genannten Feierabend-Haus und spürte der Vereinnahmung der Institutionen nach, die nicht nur Arbeit, sondern auch Wohnungen und Feierabendprogramm zur Verfügung stellen, sodass die Leute keinen Hunger entwickeln müssen. Und ich saß vor einem Bunker, die über die Stadt verstreut sind und merkte, dass ich noch nicht einmal wusste, wie es darin aussieht, und dass dieses Gebäude ein guter Erinnerungsort gegen den Krieg wäre. Dort spürte ich meinen Hunger, der sich auch in meiner Doktorarbeit ausdrückt,mehr zu verstehen, Annahmen in Frage zu stellen und zu suchen, wie wir uns anders erinnern können und dies relevant für unsere Gegenwart wird. In meinem Fall bedeutet das, koloniale Kontinuitäten wahrzunehmen und anzuerkennen um dann andere Geschichte(n) erzählen zu können, die Machtverhältnisse nicht verschweigen und dennoch Solidarität und Zugehörigkeit ermöglichen. Es war eine Zusage, auf dem Weg zu sein.
Während all dieser Erfahrungen fand ich einen Gottesnamen: Du, der du den Hunger nach Gerechtigkeit mit mir teilst. Es war eine Erfahrung, die mich ihm ganz nah brachte, die mir ermöglichte, mit ihm unterwegs zu sein und mir zeigte, dass auch Gott diesen Schmerz in sich spürt. Und ich verstand, dass mein Hunger nicht selbstgemacht ist, sondern er diesen Hunger nach Gerechtigkeit in mich hineingelegt hat und ich deshalb auch keine Angst davor haben muss, unbemerkt satt zu werden, auch weil es der Hunger ist, den wir teilen.
Am letzten Tag ging ich nochmal zum Karottenfeld, nicht zuletzt, um ein paar Karotten mit nach Hause zu nehmen und sie dort zu teilen. Ich merkte, wie das Feld von weitem wie tote, nackte Erde aussah und erst beim Näherkommen das feine Grün bemerkbar wurde. Neben der Zusage, diesen Hunger in mir zu tragen und damit auch immer wieder neu eine Ausrichtung für mein Leben zu finden, wurde mir dann noch etwas Anderes bewusst. Das Feld symbolisiert auch das Leben in Fülle, das Gott uns schenken will, die Fülle, die wir unscheinbar und kostenlos vor uns haben und es mehr davon gibt, als wir essen, tragen und teilen können. Das ist zumindest mein tiefer Wunsch und meine Hoffnung.
Nadine S.
Ich finde diesen Bericht eindrucksvoll. Er gibt mir Mut, aber macht mich auch traurig.
Danke für dieses Bewusstmachen meines persönlichen „Hungers“, der mir die „Wut im Bauch“ verleiht, die mich daran hindert, zu resignieren, aufzugeben, mich mit meinem persönlichen Wohlergehen zufrieden zu geben.
Seit 2,5 Jahren begleite ich Asylbewerber ohne Chance auf Anerkennung einer Schutzbedürftigkeit (zum Teil zu Recht, manchmal auch unverständlich) – trotzdem teilweise motiviert, integriert (soweit dies bei einem Ghettoleben in den Modulen möglich ist) und fleißig, wenn man sie lässt. Für diese Menschen zu kämpfen, bin ich ausgezogen, bis jetzt aber immer wieder mit leeren Händen zurückgekommen. Aber so lange noch einer da ist, der mir zeigt, dass er willens und fähig ist, in Deutschland zu leben, darf ich nicht aufhören.