Markus Roentgen, ein Begleiter der Exerzitien auf der Straße, hat das Buch von Hans Waldenfels, „Sein Name ist Franziskus. Der Papst der Armen.“ Ferdinand Schöningh-Verlag. Paderborn 2014, 159 Seiten besprochen und eine Fülle von Aspekten zusammengetragen, die eine Hilfe bei der eigenen Selbstüberprüfung sein können.
Hans Waldenfels Hinführung zu Papst Franziskus, erschienen ein Jahr nach Antritt des Pontifikates am 13. März 2013 ist ein großer Wurf! Nachdem in vielen veröffentlichten Publikationen auffällige Akzente des neuen Papstes hervor gehoben wurden, mitunter auch zu sehr auf die medienwirksamen Affekte hin betont, liegt nunmehr eine gründliche und grundlegende Studie vor, die zeigt, aus welchem existentiellen Hintergrund, aus welchen substantiellen Quellen sich die eindrucksvollen Gesten, Handlungen, Reden, Veröffentlichungen und Entscheide des Papstes aus Argentinien speisen. Jorge Mario Bergoglio ist alles andere als ein nur volksnaher, den Armen zugewandter seelsorgender Hirte der Kirche.
Bergoglio ist ein substantieller Denker, ein Meister der Unterscheidung der Geister (als profunder Schüler seines Ordensvaters Ignatius von Loyola), ein Kenner der geistlichen Traditionstradierung der Kirche, ein Intellektueller mit Herzensfrömmigkeit, ein Gesellschaftskritiker aus dem Geist zärtlicher Liebe, ein Kirchenreformer aus der Wurzelbezogenheit zum Kern des Evangeliums hin, den er, wie der Namensgeber seines Papstnamens „Franziskus“, Franz von Assisi, direkt, mystisch, konkret bis ins Alltägliche entscheidenden und unterscheidenden Tuns ernst nimmt, ohne der Bemäntelung-, auch ohne der pseudowissenschaftlichen Dekonstruktion des Evangeliums bis ins Nichterkennbare einer bloßen theologischen Textur-, auch ohne den vielen kirchenamtlichen Überformungen und Verdrehungen im Machtapparat der Kurie mit ihren bisweilen dubios obskuren Schattenmännern die fahle Hand zu reichen.
Waldenfels zeigt kenntnisreich, faktengesättigt, quellenkundig bis ins Detail, wie Bergoglio aus dem Kern der besten Rezeption des II. Vatikanischen Konzils zu verstehen ist. Neben der jesuitisch-ignatianischen Schulung (S. 13-26), neben den franziskanischen Impulsen (S. 91-113), taucht ein Mann im Bischofsamt des Bischofs von Rom auf, der endlich in Gestalt, Handlung, Lebensstil und Rede inkarniert, was etwa die epochale Intervention von Kardinal Lercaro während des Konzils von 1962 und der sog. „Katakombenpakt“ vom 16. November 1965 (zum Ende des Konzils) als primär für die Kirche in der Welt von heute als ihre Not wendende Reform in Selbstreform (und Selbstbekehrung) zunächst von den bestellten Häuptern der Kirche in der Nachfolge Jesu Christi der Kirche erwartete (s. Anhänge S. 141-148): Einfache Lebensstile, Bekehrung zur Armut im Leben mit den Armen, Aufgabe von Pfründen, Titeln, das Ablassen von dem Gepränge des ganzen klerikalen „Karnevals“, den Bergoglio in seiner ersten Amtshandlung als Papst Franziskus bereits abstreifte. Verzicht auf die Eitelkeiten und den Buhei im Klerus, Verzicht auf Ehrentitel, opulenten Lebensstil, teure Häuser und Wohnungen, schicke Autos, prunkende Gewänder. Wesentlicher aber: Nach ganz unten gehen und das Leben der Armen nicht nur sehen und verstehen lernen, sondern kennen, teilen, lindern und daraus das prophetische, das kritische, das visionäre Wort sagen und diesem mit dem Leben Geltung geben: Das Leben Jesu mit dem eigenen Leben – leben!
Waldenfels arbeitet dies anhand der veröffentlichten Publikationen des Papstes heraus, seinen Büchern und Interviews, den Reden und Verlautbarungen des ersten Jahres, den Büchern aus seiner Zeit als Bischof von Buenos Aires, der tiefer gehenden Exegese der vielen zeichenhaften Handlungen von Papst Franziskus, die alles andere als spontan, die vielmehr sehr gründlich vorbereitet und so auch medienkompetent gestaltet wurden, damit die öffentliche Welt Kunde erhält von der Leben ermöglichenden Gestalt, vom Trost und von der Freude des Evangeliums (vgl. S. 27-36; S. 53-70; S. 71-114).
Hier wird offenkundig, dass die größere Liebe zur Kirche ihre basale Kritik als Selbstkritik enthalten muss, so, wie Kardinal Bergoglio sie schon in seiner Vorkonklaverede überdeutlich zusammen gebracht hat. Dieses Programm wird von Waldenfels noch einmal in Gänze dokumentiert (S. 29 f.) Die Daseinsfreude und der Trost des Evangeliums benötigen kühne Redefreiheit und nicht das Schüren der Angst vor episkopalen Engführern in ihren selbstreferentiellen Programmen. Ein Herausgehen an alle Grenzen der menschlichen Existenz (an „die des Mysteriums der Sünde, die des Schmerzes, die der Ungerechtigkeit, die der Ignoranz, die der fehlenden religiösen Praxis, die des Denkens, die jeglichen Elends“ – vgl. ebd.) aus der Treue zur Mitte des Evangeliums Jesu Christi. Keine um sich kreisende Kirche, sondern mit Jesus, dem „magister interior“ heraus gehen zu den Menschen und Dingen, hinein in die wunden Orte von Schöpfung, Gesellschaften, Völkern, die nach Hoffnung, Trost, Leben und zärtlichem Lieben schreien und dazu der gelebten Gerechtigkeit in Barmherzigkeit bedürfen. Das Volk Gottes (Lumen Gentium 12) darf nichts und niemanden ausschließen im Lieben und Erbarmen („Evangelii Gaudium 23“). Die Armut lieben, wenn sie, frei gewählt, frei macht, sie bekämpfen, wo sie knechtet, etwa den tötenden Gestus entfesselter menschenverachtender kapitalistischer Weltwirtschaftsdoktrin. Die Armen immer lieben als Erstadressaten der frohen Botschaft Jesu (vgl. S. 103 ff.). Keine Angst haben, hier Klartext zu sprechen – auch wenn die „Umdeutemeister“ der Botschaften des Papstes in manchen Teilen der Kirchenspitze sich längst zur Relativierung seines bisherigen Pontifikates aufgeschwungen haben und es erstaunlich ist, wie selektiv der „Gehorsam“ zum Papst gegenwärtig gerade in den kirchenrestaurativen Kreisen fröhliche Urstände feiert, da, wo ansonsten, wenn ein Papst passt, rigide der Gehorsam zum Petrusamt stets eingefordert wird.
Schließlich mündet Waldenfels Buch in einer ersten grundlegenden Erläuterung zum päpstlichen Lehrschreiben „Evangelii Gaudium“ (S. 115-140), worin die Essenz des bis dahin aus den vorhandenen Quellen Zusammengefügten und Bedachten mündet. Hier wird erstaunlich deutlich, dass es einen (scheinbar wie verborgenen) Vorgänger im Amt gibt, dem Papst Franziskus in größter Nähe verbunden ist – besonders dessen Enzyklika „Evangelii nuntiandi“ von 1975: Die große Anknüpfungsperson, die Jorge Mario Bergoglio/ Papst Franziskus nachhaltig akzentuiert zitiert ist: Papst Paul VI! Dessen Betonung der notwendigen Inkulturation des Evangeliums aus jeder Kultur, Sprache und Weltgegend, dessen Vorrang des gelebten Zeugnisses des Evangeliums (TESTIMONIUM VITAE) vor dem Zeugnis des Wortes und des Kultes, dessen Insistenz auf Evangelisierung primär als Selbstevangelisierung vor allen missionarischen Programmen, schließlich dessen kühne Sicht auf notwendige Dezentralisierung um des besseren Ganzen willen – (in Würdigung der folgenden Pontifikate) findet nun in Papst Franziskus mutige Weiterentwicklung. Das Zukunftweisende des Konzils, auch das Zukunft-Offene, das wir noch nicht wissen, das im MEHR, im „Magis“ Gottes verborgen schon lebt, wird im „Papst der Armen“, in seiner Mystik der offenen Sinne (vgl. S. 38 ff.) visionär und alltagstreu ansichtig.
Waldenfels Buch ist dazu wesentliche Lesehilfe!