Weihnachten im Anthropozän

Zu Beginn der katholischen Liturgie zur Christmette wird die Geburt Christi in der Zeit verortet im sogenannten Martyrologium Romanum: Die Gründung der Welt, die Erschaffung des Menschen, die Urväter Abraham und Mose, das Königtum Davids, die Gründung Roms, das Kaisertum des Augustus – das alles sind Referenzpunkte des welthistorischen Ereignisses der Geburt Christi.

Als ich dem gestern lauschte, kam mir etwas in den Sinn: all diese historischen Ereignisse (mit Ausnahme der Erschaffung der Welt und des Lebens auf Erden), Abraham, Mose, David, die ganze biblische Geschichte, auch die ganze lange Kirchengeschichte, auf die Kirche zurückblicken kann – sie spielten sich unter den Bedingungen eines relativ stabilen Klimas ab.

Holozän nennen die Geologen die Epoche, die vor etwa 10.000 Jahren begann, und die die Grundlage für die Entwicklung der gesamten menschlichen Zivilisation bildete. All unsere jüdische und christliche Tradition bildete sich unter diesen relativ günstigen und stabilen Bedingungen – die Dürren und Fluten sind dabei durchaus eingeschlossen.

Das ist nun unwiederruflich vorbei. In abenteuerlichem Tempo katapultiert die Menschheit gerade ihren Heimatplaneten aus diesem lebensdienlichen Zustand heraus. Sie gräbt abgestorbene, einst lebendige Materie – fossile Brennstoffe – aus den Tiefen der Erde heraus, verbrennt sie binnen weniger Jahrzehnte, und gibt so dem Erdsystem einen gigantischen Impuls. Die Vertreibung aus dem Paradies, hat dies mein Freund Christoph Bals einmal genannt. Anthropozän – das vom Menschen gemachte geologische Zeitalter – ist der wissenschaftliche Begriff für diese neue, unbekannte Welt.

Die Temperaturkurve auf dem folgenden Diagramm veranschaulicht dies: *Die blaue Kurve ist die der letzten 10.000 Jahre, das Holozän, die grüne ist die Kurve des Pariser Klimaabkommens, die zunehmend unrealistischer wird, die gelb, orange und roten Kurven sind der Pfad, auf dem wir uns gerade befinden.

Die Entwicklung der mittleren Temperatur auf der Erde seit der letzten Eiszeit und die Prognosen unter verschiedenen Emissionsszenarien – sowie die Kipppunkte im Erdsystem. Quelle: Schellnhuber, H. J., Rahmstorf, S. & Winkelmann, R. Why the right climate target was agreed in Paris. Nature Climate Change 6, 649-653 (2016). doi:10.1038/nclimate3013. Erläuterungen für Laien finden sich hier und hier, wer Englisch kann auch hier.

Und die neue Welt, sie hat immer öfter Züge eines Infernos (inferno = italienisch für Hölle). Am 20. Dezember 2019 postete Bo Kitty auf ihrer Facebook-Seite dieses Foto eines australischen Feuerwehrmanns inmitten eines brennenden Waldes:

Quelle: https://www.instagram.com/p/B6KCOM5h-YE/

Sie schreibt dazu (meine Übersetzung mit Erläuterungen in eckigen Klammern):

Für alle in der restlichen Welt: Australien brennt und hat seit etwa 2 Monaten nicht mehr aufgehört. Heute ist es landesweit um die 50 Grad Celsius. In Melbourne sind es 111 Grad Fahrenheit [44°C]. Unser Regierungschef [Scott Morrisson] ist vor diesem nationalen Notstand geflohen, um eine Kirche in Übersee zu gründen [er war anscheinend auf Hawaii im Urlaub, hat jetzt den Urlaub abgebrochen https://www.sueddeutsche.de/…/profil-scott-morrison-1.47316… ].

Ich weiß, dass Australien wie eine malerische Insel am Ende der Welt aussieht, aber es ist ein wirklich schöner Ort, nicht nur die Natur, sondern auch die Menschen. Ich habe mir hier unter all den Orten, an denen ich gewesen bin, ein Zuhause gemacht. Früher nannte man es das glückliche Land. Keiner von uns fühlt sich im Moment glücklich. Wir haben Hunderte von Häusern und 2,5 Millionen (ja Millionen) Hektar unseres natürlichen Lebensraums verloren, und bisher sind es Freiwillige, die diese Brände bekämpfen. Und wir alle sind durch die Nachricht aufgewacht, dass zwei von ihnen heute Morgen gestorben sind. Zwei junge Väter.

Ich schreibe dies für alle Menschen auf der ganzen Welt, die ich versammelt habe, weil Australien Angst hat und nicht weiß, was wir tun sollen, um dies zu bekämpfen. Es wird eine weiße Weihnacht für uns sein, aber statt Schnee ist es Asche, von unseren alten Bäumen, von unserem Busch, der wie nirgendwo sonst auf der Erde ist.

Währenddessen werden furchterregende Gesetze gemacht, unsere bürgerlichen Freiheiten werden ausgehöhlt, wir haben Pfingstler an der Macht [Premier Morrison ist Mitglied einer Pfingstkirche, die verkündet dass am Ende der Zeiten die Gerechten in den Himmel entführt werden, während die anderen im Feuer untergehen]. In der Tat scheint es das Ende der Zeiten.

Es findet ein massiver Wandel statt. Überall auf der Welt gibt es einen Wachwechsel. Wir leben buchstäblich mitten in der Zerstörung. An alle, die sich auflehnen, macht weiter. Gigantische Wellen menschlicher Uneinigkeit werden die Gesellschaft verändern. Das ist eine geschichtliche Tatsache.

Im Moment hat keiner von uns alle Antworten klar, denn jetzt verstecken wir uns drinnen in klimatisierten Räumen, wenn wir können. Im Moment reden wir im Internet, das überwacht und manipuliert wird, aber wir sind immer noch viel mehr als sie [ich denke sie meint die Klimaleugner und Autoritären]. Und wir sind verdammt mutiger. Genau wie das junge Mädchen, das vor dem Haus unseres Premierministers stand, mit einem Schild, auf dem stand: „Sieh, was du uns hinterlassen hast, sieh zu, wie wir dagegen ankämpfen, sieh zu, wie wir gewinnen“… der von der Bereitschaftspolizei mit Verhaftung gedroht wurde [zu dieser Geschichte mehr hier ].

Ich sende Liebe an alle Feuerwehrleute. An alle, die ihr Zuhause verloren haben und vertrieben wurden.
Und drängt alle auf der ganzen Welt, die Geschehnisse in Australien zu verfolgen. ❤️

Was gerade in Australien passiert – die Hitzewellen, die jedes Maß sprengen, die Buschbrände, die die Luft mit Rauch und Asche vergiften, das hat apokalyptische Züge. Und es ist erst ein Vorgeschmack: Die Erde hat sich gerade 1,1°C erwärmt, und die Möglichkeit die Erwärmung bei 1,5°C zu stoppen wie in Paris vereinbart, zerrinnt uns gerade Tag um Tag zwischen den Fingern.

Was bleibt angesichts der Aussicht auf eine Katastrophe, die unsere Vorstellungskraft überschreitet, und die nur in apokalyptischen Bildern fassbar ist?

Was bleibt sind Glaube, Hoffnung, Liebe. Zur Hoffnung in Zeiten der Klimakatastrophe schreibt die großartige junge britische Theologin Hannah Malcolm (Übersetzung und Hervorhebungen durch mich):

God comes down to dwell with God’s people forever. And I choose to believe this, choose to be hopeful, even on the days I do not feel hopeful at all. I choose to believe that what we do on earth matters, even if we cannot now reverse the tide of death that we face. This is because we are in the business of resurrection – the business of bringing life out of death.
[Gott kommt herab, um für immer bei seinem Volk zu wohnen. Und ich entscheide mich dafür, daran zu glauben und hoffnungsvoll zu sein, sogar an den Tagen, an denen ich überhaupt keine Hoffnung habe. Ich entscheide mich dafür, daran zu glauben, dass das, was wir auf der Erde tun, von Bedeutung ist, auch wenn wir die Flut des Todes, mit der wir konfrontiert sind, jetzt nicht umkehren können. Das liegt daran, dass unser Aufgabe die Auferstehung ist – das Geschäft, Leben aus dem Tod zu holen.]

Glaube, Hoffnung, Liebe. Die Liebe aber ist das Größte unter ihnen. Das feiern wir an Weihnachten: Dass Gottes Liebe vor 2000 Jahren als Mensch auf die Erde gekommen ist – und dass er uns auch im Inferno des Anthropozäns nicht verlassen wird.

Darauf setze ich. Angst und Hass bringen uns um. Nur dank der Liebe werden wir im Anthropozän überleben.

Berlin, Kino International, Weihnachten 2019 (Foto: Jörg Haas)


Verein für Liebesübungen

Heute ging ich recht spontan in Halle (Saale) eine Stunde auf die Straße – ohne große Erwartungen und Vorsätze. Und doch wurde ich mit einer überraschenden Einsicht beschenkt.

Auf meinem Weg kam ich an einen Laternenpfosten. Dort sah ich einen kleinen Aufkleber: Verein für Liebesübungen stand drauf, unter einem Foto, auf dem ein Mann eine Schimpansin küsst.

Das Wortspiel mit dem Vereinsnamen des VfL Halle 96 ging mir in der Folge weiter durch den Kopf.

Eigentlich, so erschien es mir, sind wir mit den Straßenexerzitien nichts anderes: ein „Verein für Liebesübungen“.

Denn „Gott ist Liebe“ – und wenn wir auf die Straße gehen, um Gott zu begegnen, dann begegnen wir letztlich seiner Liebe.

Exerzitien sind „Übungen“, und bei Exerzitien auf der Straße üben wir ein, Gottes Liebe auf den Straßen zu sehen, und zu erwidern.

Auf meinem Weg durch Halle drangen dann Posaunenklänge an mein Ohr. „Am Brunnen vor dem Tore“ und andere Volkslieder, angestimmt im Garten des Gemeindehauses der evangelischen Paulusgemeinde, aus Anlass eines Frühlingsfestes für Einheimische und Flüchtlinge.

Eine bunte Runde saß da zusammen, über alle Nationen und Hautfarben vereint. Ganz unspektakulär und doch so schön.

„Verein für Liebesübungen“ – so kam es mir dann vor – das könnte auch eine gute Beschreibung für die Kirche sein. Denn „Da ist nicht mehr Grieche oder Jude, Beschnittener oder Unbeschnittener, Nichtgrieche, Skythe, Sklave oder Freier, sondern alles und in allen Christus“, so schreibt Paulus über die Urkirche. Und Christus, das ist Liebe.

Vielleicht ist das unser Auftrag in der heutigen Zeit mehr denn je: Verein für Liebesübungen zu werden. Was denkt ihr?

 

 

Radikale Demut ist Liebe

Liebe Freunde,

im aktuellen JESUITEN-Heft „Radikal“ wurde ein Beitrag von mir veröffentlicht: „Radikale Demut ist Liebe“. In meiner Diplomarbeit ging es um Demut in den Exerzitien. Der Artikel ist die Kurzfassung davon. Er steht auf den Seiten 6-7. Auch die anderen Artikel zum Thema „Radikal“ in dem Heft sind sehr lesenswert:

Download hier

Die Heftchen liegen – wie ihr wisst kostenlos – in allen Jesuitenkirchen und sonstigen Orten der Jesuiten aus, und man kann das Heftchen kostenlos abonnieren. Spenden kann der Orden auch gut gebrauchen.

Herzliche Grüße
Matthias Alexander Schmidt