Ein französisches Buch zu Straßenexerzitien

Jetzt ist das erste Buch in Frankreich zu den Straßenexerzitien auf dem Markt:
Nos villes, d’un coer brulént Les Exercices spirituels dans la rue
in der Reihe Vie chrétiennne herausgegeben von Chr. Herwartz, s.j. et compagnons

Unter folgendem Link findet sich die Verlagsankündigung und die ersten 42 Seiten des Buches: http://fidelite.be/livre-Nos-villes,-d-un-c%C5%93ur-brulant-825.html

 

Besuch an Europas FestungsMAUER

Die Medien haben in den letzten Wochen groß berichtet, dass Deutschland an der Grenze zu Österreich Kontrollen einführt. An einer anderen Grenze sind diese Kontrollen seit Jahren Standard. Es gibt dort auch eigens eingerichtete Gefängnisse, um Flüchtlinge einzusperren und schnell wieder abschieben zu können. Eines dieser Gefängnisse befindet sich auf dem Gelände des Flughafens Berlin-Schönefeld wie auch an mehreren anderen internationalen Flughäfen in Deutschland.

Ein Hinsehen soll verhindert werden. Dem Jesuitenpater Christian Herwartz wurde seit dem 3.10.2012 verboten, wie auch in den Jahren darauf eine Mahnwache vor dem Flughafengefängnis in Schönefeld abzuhalten. Auch eine Klage hatte zunächst keinen Erfolg. Nun hat jedoch der Bundesgerichtshof  entschieden, dass der Staat seine Gefängnisse nicht derart verstecken darf. Die erste Mahnwache direkt vor dem Flughafengefängnis wird nun stattfinden.

Seit Jahren sterben Tausende Menschen auf dem Weg nach Deutschland und Europa, weil sie sich in die Hände von Schleppern begeben müssen. Doch auch in der aktuellen Debatte spielt es kaum eine Rolle, dass die Europäische Union Bürgerkriegsflüchtlinge und politisch Verfolgte „in die Boote zwingt“, obwohl eine Flucht per Flugzeug und ohne Schlepper für sie viel billiger wäre.

Auch wenn das Flughafengefängnis in Schönefeld derzeit als Asylbewerberunterkunft genutzt wird, steht es beispielhaft für die Leben vernichtende Politik Deutschlands und Europas. Die Mahnwache gibt die Gelegenheit, sich dieser Situation bewusst zu werden. Sie findet statt am 3. 10. 2015 um 15 Uhr.

Wegbeschreibung: Vom S-Bahnhof Schönefeld auf der vierspurigen Straße 200 Meter Richtung Schönefeld gehen, dann nach links abbiegen und den Schildern „Luftfracht – CargoZentrum“ folgen. Gegenüber vom CargoZentrum ist die Haftanstalt in einem Flachbau, aktuell Asylbewerberheim. (etwa 10 Minuten Fußweg). Genaue Position: goo.gl/maps/cyYFe

Weiter Informationen finden Sie unter flughafenverfahren.wordpress.com.

Handzettel-Mahnwache-03-10-2015

Grenznah ignatianisch leben

Von Patrick Jutz

Die GCL (Gemeinschaft Christlichen Lebens) Italien hat ein einzigartiges Projekt organisiert.  Seit Juli 2015 leben immer mindestens drei Wochen jeweils sechs Freiwillige im Haus der Jesuiten in Ragusa. Man/Frau lebt und betet mit den Jesuiten und arbeitet tagsüber im Flüchtlingslager dieser sizilianischen Stadt am Mittelmeer.

Organisiert und geleitet wird das Flüchtlingsprojekt in Ragusa von GCLern aus Italien und Spanien, Freiwillige kommen aus vielen Ländern der Welt. In den ersten Monaten wollten viermal mehr Freiwillige das Projekt besuchen als Plätze vorhanden waren. Eingeladen sind alle Menschen mit ignatianischer Lebensweise und sie werden ermutigt, einmal vertrautes Terrain zu verlassen und an die Europagrenze zu gehen. Eine Grenze, die für viele Menschen auf der anderen Seite zum Tod führt und die von uns mit so vielen Mitteln verteidigt wird.

Mich erinnert dieses Projekt an das Leben von Mose. Der war auch Flüchtling, wurde in der Fremde aufgenommen und arbeitete als Viehhirte. Eines Tages geht er über die Steppe hinaus, übertritt also eine Grenze, die ein professioneller Hirte nicht überschreiten sollte, aber genau da begegnet er Gott – im brennenden Dornbusch. Dies wünsche ich mir, meine Professionalität ablegen können und Grenzen zu überschreiten, in der Hoffnung dann IHM begegnen zu dürfen.

Ingrid und ich werden im November auch dort sein. Seit zwei Jahren engagieren wir uns für Flüchtlinge in unserer Stadt Ettlingen. Als wir von diesem Projekt hörten, waren wir sofort begeistert. Die ignatianische Lebensweise zu vertiefen und sich den Flüchtlingsschicksalen zu stellen, fernab der Heimat, wie es uns schon viele vorgelebt haben, darauf freuen wir uns. Da mein Urlaub dafür nicht mehr ausgereicht hätte, habe ich einen Sabbat-Monat genommen.

Das Projekt ist bisher geplant bis Januar 2016, aber ich hoffe doch, dass dieses Mutmach-Projekt verlängert wird. Abhängen wird dies sicher auch davon, wie gut die Finanzierung gesichert ist. Immerhin wurden für die ersten sechs Monate ca. Eur 25.000 veranschlagt. Für eine bessere Betreuung des Projektes wird noch ein Auto auf Spendenbasis gesucht (Es wäre aber wichtig, dass ein neuer TÜV vorhanden ist und es technisch die lange Fahrt bis Sizilien mit hoher Wahrscheinlichkeit übersteht 😉
Wer also ein Auto für das Flüchtlingsprojekt spenden möchte, kann sich melden bei:
Patrick Jutz.

Wir bitten um Euer Gebet für unseren Einsatz und alle Menschen in Ragusa und in der Flüchtlingsarbeit weltweit.

Das Erkämpfte durchführen

Drei Jahre bin ich durch die Instanzen der Gerichte gegangen, um eine Mahnwache vor der Abschiebehaft auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld anmelden zu dürfen. Am 3.Oktober (im Gedenken des Falls der Berliner Mauer) wollen wir auch darum bitten, dass diese Gefängnismauern fallen können.

Die Herausforderung sich den ankommenden Flüchtlingen in ihrer Not zu stellen ist in den Jahren des Prozesses drängender geworden. Nur sehr wenige können über den Luftweg zu uns kommen. Sie werden ohne ausreichende Papiere im Gefängnis empfangen. Dort wollen wir hinsehen am 3. Oktober 15 um 15 Uhr am Ende der bundesweiten Woche der Interkulturellen Woche. Einzelheiten hier auf dem Handzettel

Christian Herwartz

31. Oktober 2016 Radio Vatikan

Der Päpstliche Rat für die Einheit der Christen und der Lutherische Weltbund (LWB) wollen gemeinsam das Reformationsgedenken begehen. Im kommenden Jahr soll am Reformationstag (31. Oktober) im schwedischen Lund, dem LWB-Gründungsort, gemeinsam an Martin Luthers Thesenanschlag von 1517 erinnert werden. Zudem sollen das 50-jährige Jubiläum des lutherisch-römisch-katholischen Dialogs und das 70-jährige Bestehen des Weltbundes begangen werden. Die Veranstaltung wird aus einem gemeinsamen Gottesdienst und einem Symposium bestehen und soll die gemeinsame Freude über das wiederentdeckte Evangelium, das Bedauern über das gegenseitig zugefügte Leid und das gemeinsame Zeugnis in der heutigen Welt ausdrücken. (kna)

Gottesdienste auf der Straße

Erfahrungen von zwei Gottesdiensten auf der Straße

Von zwei Gottesdiensten während Straßenexerzitien berichten Elisabeth Steiff, Martina Fröhlinger, Christian Herwartz, Nadine Gatzweiler

Gottesdienst zu Gefangensein und Befreiung an einem ehemaligen Frauengefängnis

Bei der Gottesdienstvorbereitung begleitete uns das Thema „Befreiung“. Was lag näher als Ort dafür ein Gefängnis zu wählen?! Angewärmt war dieser Ort durch einen Teilnehmer, der am Tag vorher mit einem Audioguide auf den Spuren eines ehemaligen Frauengefängnisses war. In der anderen Austauschgruppe war das Thema „Respekt“ virulent. So konnten wir beides miteinander verbinden.

Mit einer kurzen Statio begannen wir, um für den Weg dorthin aufmerksam und ausgerichtet zu sein. Die Leitfrage lautete: Mit welchem Ziel bin ich auf dem Weg zu einem Gefängnis? Welche Schuhe möchte ich ausziehen? Die Schuhe der Distanz, der Ausgrenzung, des Besser Wissens, der Verachtung, der Überheblichkeit usw. jeder und jede möge eigene Konkretisierungen für sein Leben finden.

In einem gemeinsamen Gang, die Entfernung betrug etwa 15 min, erreichten wir einen hellblauen Streifen auf dem Boden, der den Weg zum Gefängnis weist. Dort waren Zitate von ehemaligen Insassinnen auf den Boden geschrieben, die verschiedene Empfindungen und Erfahrungen widerspiegeln:

„Da ist nachts, sie wollen schlafen, dann hören Sie wie jemand fürchterlich schreit“ – „Naja, die Frauen schreien“ –  „Ich hab so fest dran geglaubt“ –  „Sie ist leichtsinnig, dass sie sich so dafür einsetzt“ – „Das würde sich ja ausbreiten“ – „wenn man alles weiß und trotzdem nichts macht.“

An der Gedenktafel angekommen, standen wir vor einem eingezäunten Gelände, das heute ein Verkehrsübungsplatz für Kinder ist. Von dem Gefängnis steht kein Stein mehr. Vielleicht gerade gut. Somit konnte die Geschichte eines jeden Einzelnen mehr an Bedeutung gewinnen. Dieses Gefängnis gab es von 1864 bis 1972. In fünf verschiedenen Regimen wurden ausreichend Gründe gefunden, Frauen, die anders waren oder andere Meinung waren, hier einzusperren. Auch Rosa Luxemburg war  dort eingesperrt und zu DDR-Zeiten wurde ihre Zelle als Gedenkraum mit frischen Blumen versehen. Die Widersprüchlichkeit war ein großes Thema, ebenso der Umgang mit schwangeren Gefangenen inklusive Entbindungsstation.

Um uns zu ermöglichen, unsere eigene Lebenssituation mit diesem Ort zu verbinden und unsere eigenen Mauern zu spüren, wählten wir die biblische Geschichte von Zachäus: Wo spüre ich das Gefängnis in mir? Wo versuche ich auszubrechen und gebe meiner Sehnsucht nach? Wo erfahre ich Befreiung? Zachäus begegnet uns als der Privilegierte, der Macht hat und gerade darum von der Gemeinschaft ausgeschlossen und gemieden wird. Sein Leben im Reichtum macht ihn jedoch nicht wirklich satt. Darum sucht er die Nähe zu Jesus. Um dorthin zu gelangen, nützen ihm seine Privilegien nichts, es gibt keine Logenplätze für Reiche auf der Straße und so wird er aktiv und sucht sich einen Ort, der ihn gleichzeitig vor den Blicken der anderen verbirgt. Mit seiner brennenden Sehnsucht in einer Art Versteck sitzend, wird er von Jesus gesehen und erhält die Zusage, dass er ihn als Gast empfangen darf. Wo begegnet uns Jesus und lädt sich bei uns ein?

Es war bestimmt kein Zufall, dass gerade in diesem Augenblick jemand mit Schlüssel kam, um uns Zugang zu dem Gelände zu ermöglichen. Mit den Anregungen der Bibelstelle schritt jede und jeder Teilnehmende das Gelände in Stille auf die je eigene Weise ab, manch einer legte sich sogar auf den Boden. Nach dem gemeinsamen Lied „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind“ mündete die persönliche Zeit im gemeinsamen Fürbittgebet im Kreis stehend.

Sich gemeinsam als Exerzitiengruppe auf die Straße zu machen, war für viele nach einem vollen Tag eine gewisse Herausforderung; für viele wirkte das Erlebnis noch nach und sie nahmen das Thema im Austausch und am nächsten Tag auf der Straße nochmal auf.

Gottesdienst zum Körper als heiliger Tempel auf dem Spielplatz

Während der Begleitung der vorausgegangenen Tage hatten wir gespürt, dass viele Teilnehmer/-innen das Thema „Körper- Sexualität“ beschäftigte; auch eine Missbrauchserfahrung war angesprochen worden. Deshalb beschlossen wir, den Körper als heiligen Boden zum Thema des Gottesdienstes zu machen und seine Schönheit der Körperfeindlichkeit, wie sie viele TeilnehmerInnen in der katholischen Kirche immer wieder wahrnehmen, gegenüberzustellen.

Nach einer Einführung in das Thema im Garten der Unterkunft lasen wir dort Jes 43,4

„Weil du so wert bist vor meinen Augen, geachtet, musst du auch herrlich sein, und ich habe dich lieb; darum gebe ich Menschen an deine Statt und Völker für deine Seele.“

Dann gingen wir gemeinsam auf den Kinderspielplatz in der angrenzenden Grünanlage. Dort ließen wir uns auf den Steinen, die den Sandkasten begrenzten, bzw. im Sand selbst nieder. Als Antwort beteten wir gemeinsam Auszüge aus Psalm 139 wie zum Beispiel die Verse 13-15:

„Denn du hast mein Inneres geschaffen, mich gewoben im Schoß meiner Mutter. Ich danke dir, dass du mich so wunderbar gestaltet hast. Ich weiß: Staunenswert sind deine Werke. Als ich geformt wurde im Dunkeln, kunstvoll gewirkt in den Tiefen der Erde, waren meine Glieder dir nicht verborgen.“

Als Evangelium hatten wir Mt 21,12-17 (Jesus reinigt den Tempel) ausgewählt. Ausgehend von der Idee, dass unser Körper Tempel Gottes ist, fragten wir nach dem, was wir „rauswerfen“, wozu wir Nein sagen müssen, um unseren Körper respektieren und seine Würde achten zu können. Dazu gehören neben krankmachenden Gewohnheiten/Süchten auch alle Vorstellungen, die den Körper als eine Art „Ware“ ansehen. Jesus sagt, dass der Tempel ein Ort des Gebetes sein soll – und so ist unser Körper ein Ort der Begegnung mit Gott, weil er uns über die Sinne die Erfahrung seiner Gegenwart ermöglicht. Gleichzeitig schafft er z.B. über den Atem eine enge Verbindung zu der uns umgebenden Welt, die wir mit allen Lebewesen teilen. Darüber hinaus kann nur über das Einswerden zweier Körper neues Leben entstehen.

Diesen Gedanken folgte ein intensiver und persönlicher Austausch der TeilnehmerInnen über die (Un-) Fähigkeit, den eigenen Körper so anzunehmen, wie er uns gegeben wurde oder sich z.B. durch Alter, Krankheit etc. verändert.

Nach der Tempelreinigung heilt Jesus im Tempel Blinde und Lahme. An anderer Stelle heilte Jesus einen Blinden, dem er einen Brei aus Spucke und Erde auf die Augen strich. Als Zeichen für dieses Heilwerden und unsere Verbundenheit mit dem Körper der Erde strichen wir uns gegenseitig (nach entsprechender Rückfrage) etwas Brei aus Wasser und dem Sand, in  und vor dem wir saßen, auf verschiedene Körperstellen. Mit dem Vaterunser schlossen wir den Gottesdienst ab, der bei einigen Teilnehmenden noch intensiv in die Austauschrunde einbezogen wurde. Auch die Schaukeln konnten im Anschluss noch ausprobiert werden.

Es war sehr fruchtbar, die Themen, die in der Gruppe da waren im Gottesdienst aufzugreifen, ja vielmehr noch davon auszugehen und dann einen Ort und eine Bibelstelle dazu zu suchen. Die Teilnehmenden hat das sehr berührt und auch wir konnten uns noch einmal intensiver den Themen nähern. Ein weiterer Aspekt, der dafür spricht, Gottesdienste auf der Straße zu machen, ist in der Unplanbarkeit und Offenheit des Tages zu bleiben, sich aber gemeinsam auf den Weg zu machen und so auch ein gemeinsames Thema und eine Mitte zu finden.

 

Das Reformationsfest 2017

Diese Veranstaltung in der Zionskirche auf dem Weg zum 500. Jahrestag der Reformation ist schon vorbei. Doch der Hinweis auf eine neu verstehende und praktizierte Reformation »Die Reformation radikalisieren – herausgefordert durch Bibel und Krise« bleibt aktuell:

Vortrag, Podium und Diskussion zur Bedeutung der Reformation heute. Am 22. April um 19 Uhr in der Zionskirche. Mit Bischof Markus Dröge (Berlin), Prof. Ulrich Duchrow (Heidelberg), Dr. Magdalene Bussmann (Essen), Jan von Campenhausen (Wittenberg). Moderation: Prof. Axel Noack (Halle).


Veranstaltende: Leserinitiative Publik-Forum e.V., Universität Halle-Wittenberg, Projekt »Die Reformation radikalisieren – herausgefordert durch Bibel und Krise«.
In Kooperation mit der Zionskirche Berlin.

WissenschaftlerInnen aus allen Kontinenten haben in 5 Bänden Studien und 94 Thesen erarbeitet, die gerade veröffentlicht werden (die Thesen sind auf der website www.radicalizing-reformation.com zu lesen). Damit soll angesichts des Reformationsjubiläums 2017 eine öffentliche, kritische Diskussion über die Reformation und ihre Folgen angeregt werden.
Hält Luthers Theologie heutigen Ergebnissen der sozialgeschichtlichen Bibelforschung, besonders dem neuen Verständnis des Apostels Paulus, stand? Was bedeutet seine scharfe Kritik des Frühkapitalismus für die Stellung der Kirchen heute zu einer globalen -»Wirtschaft, die tötet« (Papst Franziskus)? Wie gehen wir mit Luthers Pamphleten gegen Juden, Muslimen und »Täufern« (den späteren Friedenskirchen) um?
Über diese und andere Fragen soll gesprochen werden.

Egalisierung und Versammlungsfreiheit

Die Egalisierung der Innenstädte, Fußgängerzonen, Bahnhöfe und Flughäfen hat zu der Vorstellung geführt, Öffentlichkeit gäbe es nur dort, wo es auch Konsum gibt. Dass das nicht stimmt, zeigt das aktuelle BGH-Urteil zur Demonstration vor dem Abschiebeknast des Berliner Flughafens.

Keine Öffentlichkeit für Hässlichkeit und Elend

Unangenehme Orte wie Gefängnisse oder Flüchtlingsheime passen nicht in die egalisierten Städte, sie sind an hässlichen und unwirtlichen Orten, am Stadtrand oder in Gewerbegebieten. Auch wenn sie umzäunt oder hässlich sind, sie sind trotzdem öffentlich. Man darf sich dort verfassungsgemäß versammeln und gegen Unrecht demonstrieren. Die Demonstranten halten die Hässlichkeit aus.

Das jüngste BGH-Urteil hat die Versammlungsfreiheit gestärkt. Vor dem Abschiebegewahrsam am Berliner Flughafen dürfen jetzt doch Mahnwachen abgehalten werden. Öffentlicher (Straßen-)Raum ist demnach nicht erst dann öffentlich, wenn er zum Flanieren, Verweilen und Kommunizieren einlädt. Das „Fraport-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts von 2011 hatte Demonstrationen am Frankfurter Flughafen für rechtens erklärt, weil der Flughafen einem Marktplatz ähnle. Der Berliner Flughafenbetreiber wollte das nutzen: das Gelände rund um den Abschiebegewahrsam sei ja eher ein Gewerbegebiet als ein Marktplatz. Schließlich gibt es dort keine Cafés oder Läden, die zum Verweilen und zur Kommunikation einladen.

Öffentlichkeit durch Konsum

Dahinter steckt die Vorstellung, dass gesellschaftliche Zusammenkunft und Kommunikation mit Konsum gleichzusetzen sind. In den letzten 20 Jahren sind zunehmend Orte entstanden, die sich zwar in verschiedenen Städten und Gebieten befinden, aber zum Verwechseln ähnlich aussehen. Die großen Textil – und Systemgastronomieketten beherrschen die Innenstädte. In deutschen und europäischen Städten findet man verblüffend ähnlich aufgebaute Einkaufszentren, mit denselben Läden und Gastronomieangeboten, fast identisch aussehende Fußgängerzonen. Die Innen- und Wartebereiche der größeren Bahnhöfe kann man kaum voneinander unterscheiden. Würde man mit verbundenen Augen an einen dieser Orte geführt und öffnete dort die Augen – man wüsste nicht, wo man sich befindet.

Besonders auffällig ist dieses Phänomen in den Flughäfen. Egal, wo man abfliegt oder ankommt, man findet dieselben Läden, dieselben Cafés und Restaurants – bis hin zu denselben Schriftarten, Symbolen und Farben auf den Wegweisern zu den Gates und denselben Sicherheitsansagen aus den Lautsprechern.

Nicht-Orte

Der französische Anthropologe Marc Augé bezeichnete solche mono-funktional genutzten Flächen im urbanen und suburbanen Raum als „Nicht-Orte“. Sie haben keine Geschichte, keine Relation oder Identität und sie sind kommunikativ verwahrlost. Es gibt dort keine echte Kommunikation, denn es gibt nichts zu Besprechen, keine ungeklärten Fragen. Eingecheckt, Sicherheitsschleuse passiert („Haben Sie einen Laptop dabei? Flüssigkeiten?“), Produkt gewählt, Produkt bezahlt: „Have a good flight!“ Mehr Kommunikation ist an Flughäfen nicht zu erwarten.

Wer konsumiert, fragt nicht nach

Niemand sagt: „Haben Sie schon den Starbucks-Store da vorne gesehen? Das ist ja mal etwas Neues!“ – Denn den hat jeder schon überall gesehen. Bei McDonalds sind die Burger auch überall gleich. Menschen sollen nicht einfach auf ihren Anschlussflug warten, sie sollen währenddessen einkaufen. Die Betreiber der Einkaufszentren und der Flughäfen wollen, dass die Fluggäste Geld ausgeben. Das hat nichts mit Kommunikation zu tun. Sie sollen sich nicht langweilen. Zweckfreie Orte und Zeiten sind gefährlich, weil dann nicht konsumiert wird. Man muss die Leute beschäftigen, sonst fangen sie an, Dinge in Frage zu stellen.

Demonstrierende stellen fragen

Wer eine Mahnwache gegen das Unrecht der Abschiebegefängnisse und des sogenannten Flughafenverfahrens macht, der stellt Dinge in Frage, will aufmerksam machen auf die Orte, die nicht konsum-ideologisch egalisiert sind. Daher sind Abschiebeknast, Gefängnisse, psychotherapeutische Kliniken, Kasernen, Seniorenheime in den allermeisten Fällen absichtlich nicht da, wo die Leute konsumieren sollen. Sie sind an unwirtlichen und manchmal hässlichen Orten, am Stadtrand oder in Gewerbegebieten.

„Wenn man im öffentlichen Straßenraum demonstriert, ist es oft auch unwirtlich und hässlich“, sagte die Vorsitzende BGH-Richterin Christina Stresemann in der Begründung des Urteils.

An die hässlichen Orte gehen

Wer gegen Unrecht demonstriert, geht absichtlich an die unwirtlichen und vielleicht hässlichen Orte. Auf diese Weise solidarisieren sich die Demonstranten mit denjenigen, die gerade nicht gastfreundlich behandelt werden, die wohl nicht in das egalisierte Städtebild reinpassen sollen: die Flüchtlinge, die man direkt am Flughafen abfängt, um sie möglichst schnell zurückzuschicken – ohne dass sie je deutschen Boden betreten haben.

Wer herausfinden möchte, was im eigenen Leben zählt, welche Sehnsucht und welchen Auftrag er oder sie hat, geht an die unangenehmen, an die leeren Orte. Es sind Orte, die augenscheinlich keinen Zweck haben, an denen es nichts zu holen gibt. Diese Orte findet man in den egalisierten Innenstädten und Einkaufspassagen nur dann, wenn man keinen Geldbeutel dabei hat. Individualität und Identität kann man nämlich nur scheinbar kaufen.
In der Wüste kann man nichts kaufen

Wüste kann es auch in den Innenstädten geben. In der Wüste gibt es eben nichts zu Trinken. Trotzdem muss man manchmal in die Wüste gehen. Der Jesuitenpater Christian Herwartz ist untrennbar verbunden mit der Entstehung der Exerzitien (Geistlichen Übungen) auf der Straße. Er organisiert außerdem die Mahnwachen am Abschiebeknast und hat die Klage gegen den Berliner Flughafen geführt und gewonnen. Am Anfang der Straßenexerzitien steht die Einladung, nichts mitzunehmen auf die Straße: kein Proviant, kein Geld, wenn nötig die Schuhe auszuziehen und offen zu sein für das, was einem auf der Straße begegnen kann (vgl. Lukasevangelium 10,1-11). Wenn Jesus sagte, er selbst sei „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Johannesevangelium 14,6), bedeutet das in der Sprache der Straßenexerzitien: „Jesus ist die Straße“.

Solidarität mit den Ausgegrenzten

Wie Mose am brennenden Dornbusch, der brennt und nicht verbrennt, halten die Demonstrierenden am Abschiebeknast die Schmerzen und die Leere des Ortes aus. Deswegen müssen sie auch direkt, unmittelbar vor dem Abschiebegewahrsam stehen – und nicht auf der anderen Straßenseite. Sie gehen ganz nah ran. Mose geht in die zunächst lebensverneinende und gefährliche Wüste, weil er eine Sehnsucht in sich spürt. In der Leere der unwirtlichen Wüste begegnet er im Gewöhnlichen, im Langweiligen, nämlich einem brennenden Dornbusch, dem Außergewöhnlichen, nämlich der Liebe Gottes. Mose erfährt dort seine Berufung und die seines Volkes: Er soll das Volk aus dem Exil herausführen. Er solidarisiert sich mit denen, die ausgegrenzt und gefangen sind – so tun es auch die Demonstrierenden bei der Mahnwache.

Schmerzen aushalten, in Scherben treten

Die Schuhe auszuziehen, wie Mose es am Dornbusch tut, bedeutet gleichsam, einen Schritt zurück zu treten, anzuerkennen, dass dort etwas ist, was ich vielleicht nicht verstehe und vor dem ich Ehrfurcht habe: Gott ist im Gewöhnlichen, Gewohnten, Alltäglichen, auch in der Langeweile und dem Aushalten von Schmerzen. Er will sich genau dort zeigen, wenn man denn hinsieht und hinhört. Der Übende ist bei den Straßenexerzitien eingeladen, offen zu sein für solche Orte – auch in der Stadt, an denen Armut und Leid vorkommen.
So öffnen sich auch die Demonstrierenden auf der Straße für das Unrecht, was dort geschieht. Indem man an diese Orte geht und dort die Schuhe auszieht (ob die echten oder im übertragenen Sinn), riskiert man, in Scherben oder Schmutz zu treten und sich zu verletzen. Die Verletzungen und die Schmerzen auszuhalten, bedeutet, sich mit denen zu solidarisieren, die Unrecht am eigenen Leib erleiden. Es bedeutet, das echte Leben auszuhalten, das nicht auf Hochglanz poliert ist.

© Matthias Alexander Schmidt
hinsehen.net-Redaktion

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20. Juli 15 Gottesdienst unter dem Galgen in Plötzensee

In der Gedenkstätte Plötzensee findet alljährliche ein ökumenische Gottesdienst im Gedenken an die Opfer des Widerstands statt. Dieses Jahr unter der Leitung von Klaus Mertes SJ und dem evangelischen Superintendenten Carsten Bolz. Während in den Vorjahren ein evangelisches Abendmahl und eine katholische Eucharistie nacheinander gefeiert wurden, soll zukünftig jährlich abwechselnd eine Mahlfeier unter evangelischer bzw. katholischer Leitung gefeiert werden, zu der ausdrücklich die Angehörigen der jeweils anderen Konfession eingeladen sind. In diesem Jahr wurde mit einer evangelischen Abendmahlfeier begonnen. Unter dem Galgen von Plötzensee war es eine sehr bewegende Feier in Erinnerung an die Ökumene der Martyrer.
In diesem Jahr fanden auch Exerzitien auf der Straße mit diesem Thema vom 29.3.15 (Palmsonntag) bis zum 1.4.15 in Berlin statt. Sie sollen im nächsten Jahr wiederholt werden.

Hier die Predigt von Klaus Mertes zu den Schriftlesungen Epheser 4,1-6 und Johannes 17.

20. Juli 2015, Plötzensee

Gedenken ist mehr als historisches Erinnern. Gedenken ist Vergegenwärtigen. Wir treten aus dem bloßen Kalender-Datum des heutigen Tages, 20. Juli 2015, heraus und lassen uns jetzt von Christus Brot und Kelch reichen als sein hingegebenes Leben. Solches Gedenken hat die Kraft, Tod und Hass zu überwinden, unseren Blick aus der Trauer heraus nach vorne zu richten und uns zu Mitwirkenden am Heil der Welt zu machen. Es geht um mehr als um uns. Das glauben wir, wenn wir hier stehen – ich jedenfalls.

Die Feier des Abendmahls ist verbunden mit der Feier des Lebens und auch der Todes Jesu. In der Weise, wie Jesus starb, wurde sein Ja zum Leben sichtbar, sein Ja zur Würde aller Menschen, und auch sein Vertrauen, das aus dem Sterben, auch aus grausamen Sterben am Kreuz einen Akt des Lebens machen kann: „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.“ (Lk 23,46) Weil das so war und ist, ist der Tod Jesu nicht bloß Ende von Leben, sondern Anfang von Leben, nicht bloßes von Weiterleben, sondern von neuem Leben. Deswegen ist diese Feier auch wirklich eine Feier. Wir feiern den Tod Christi – und seine Auferstehung, die es uns ermöglicht, auch heute seinen Tod zu feiern – nicht wegen des Todes, nicht wegen der grausamen Umstände seines Todes, sondern deswegen, weil er genau dadurch neues Leben geschaffen hat. Dasselbe dürfen wir auch vom Tod derjenigen sagen, die hier ermordet wurden.

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Im Epheserbrief heißt es: „Er ist unser Friede. Er vereinigte die beiden Teile, Juden und Nicht-Juden und riss durch sein Sterben die trennende Wand der Feindschaft nieder.“ (Eph 2,14) Wohlgemerkt: Durch sein Sterben. Dieses Niederreißen der trennenden Mauer ist ein Aspekt des neuen Lebens, das aus diesem – nicht aus jedem! – Tod entsteht. So verstehe ich auch die Erfahrung, die die christlichen Märtyrer des Widerstandes in Deutschland machten. Je näher sie dem Tod kamen, umso mehr fielen die trennenden Mauern, umso mehr wurden sie eins. Was immer sie dazu veranlasste, in den Widerstand gegen die Tyrannei zu gehen, was immer sie an Vorgeschichten mitbrachten, wie rein oder wie vermischt ihre Motive waren – im Widerstand entdeckten sie jedenfalls, dass sie mehr vereinte, als sie je für möglich gehalten hatten. Sie fanden zum gemeinsamen Menschsein. Philipp von Boeselager formulierte in seinem letzten Interview: „Ich hoffe, ich habe das klar gemacht. Ich bin als Nicht-Preuße, Anti-Protestant groß geworden und als Anti-Franzose. Meine Preußenfeindlichkeit hat sich durch Tresckow, Kleist, Oertzen, Schulze-Büttner und diese Kerle gelegt. Ich habe dann die richtigen Preußen kennen gelernt. Und besonders die protestantische Kirche, mit denen wir verfeindet waren, schätzen gelernt, und ich behaupte immer, die Ökumene hatte ihren Ursprung im KZ und im Widerstand.“ Ich stelle die Worte des Protestanten Helmut James von Moltke daneben, der wegen seines Kontaktes zu Jesuiten und katholischen Bischöfen zum Tode verurteilt wurde: „Dass ich als Märtyrer für den Heiligen Ignatius von Loyola sterbe – und darauf kommt es letztlich hinaus, denn alles andere war daneben nebensächlich -, ist wahrlich ein Witz, und ich zittere schon vor dem väterlichen Zorn von Papi, der doch so antikatholisch war. Das andere wird er billigen, aber das? Auch Mami wird wohl nicht ganz einverstanden sein.“ Es fielen trennende Mauern.
Ich möchte diese Fallen der Mauern als „Frucht“ des Widerstandes bezeichnen. Sie war nicht das geplante Ziel. Die Geschichte der Märtyrer von Plötzensee, die Geschichte der Weißen Rose und vieler anderer zeigt, dass es vor Gott nicht um das Erreichen von geplanten Resultaten geht, sondern um die Frucht. Intendiert war der Widerstand gegen die Barbarei, Frucht war, dass die trennenden Mauern der Konfessionen fielen; weitgehend fielen; im gemeinsamen Sterben hier an diesem und vergleichbaren Orten definitiv fielen. Deswegen sprechen wir auch innerchristlich von einer „Ökumene der Märtyrer“: „Der Ökumenismus der Heiligen, der Märtyrer, ist vielleicht am überzeugendsten. Die Gemeinschaft der Heiligen spricht mit lauterer Stimme als die Urheber der Spaltung.“ (Johannes Paul II, Tertio Millennio Adveniente)

Hören wir diese Stimme heute? Ökumenische Einheit liegt nicht bloß vor uns, sie liegt bereits hinter uns. Wir fallen hinter sie zurück, je weiter der zeitliche Abstand ist, der uns von ihr entfernt. Deswegen ringen wir an diesem Ort immer wieder um die Form der ökumenischen Einheit. Dieses Ringen allein schon ist ein Ausdruck dafür, dass die Stimme uns immer noch bewegt. Das Ringen hat in den letzten Monaten immer wieder auch wehgetan. Keine Form haben wir bisher gefunden, die die Einheit schon ganz und vollkommen ausdrückt. Die Märtyrer sind uns eben mit ihrem Tod voraus, gerade auch im Vollzug der vollen Einheit. Uns bleibt aber ein Auftrag, der über unsere persönliche Trauer hinausweist auf die gesamte Christenheit: „Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe.“ (Eph 4,5) Die Trennung der Christenheit ist vor dem Hintergrund des Gebetes Christi im Abendmahlsaal (vgl. Joh 17,21) ein tiefer Schmerz und ein empörender Skandal. Sie ist es auch unter diesen Galgen, an denen wie am Kreuz die trennende Mauer zwischen Christen und letztlich zwischen allen Menschen guten Willens niedergerissen wurde.

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Alfred Delp schreibt: „Wenn die Kirchen der Menschheit noch einmal das Bild der zankenden Christenheit zumuten, sind sie abgeschrieben. Wir sollen uns damit abfinden, die Spaltung als geschichtliches Schicksal zu tragen und zugleich als Kreuz. Von den heute Lebenden würde sie keiner noch einmal nachvollziehen.“ Diese Worte wurden im Winter 1944/1945 geschrieben. Ich spüre in diesen Worten eine tiefe Zerrissenheit: „Wir sollen uns damit (= mit der Spaltung) abfinden … Von den heute Lebenden würde sie keiner mehr nachvollziehen.“ Soll ein Weitergehen tatsächlich nicht möglich sein, wenn doch keiner mehr die Trennungen, die vor Jahrhunderten vollzogen würde, nachvollziehen kann? Stimmt das überhaupt für mich, dass ich sie nicht nachvollziehen kann? Oder kann ich sie im Unterschied zu Delp und den anderen Märtyrern des Wuederstandes doch noch nachvollziehen? Bin ich, der ich hier stehe, schon so weit wie mein Mitbruder Alfred Delp, der so spricht? Und wenn es anders ist: Überschreite ich nicht schon die erste Grenze, wenn ich das heute so ausspreche – dass ich nicht mehr verstehen kann, wieso ich mich von der anderen Christen abgrenzen soll? Dass ich anderen christlichen Konfessionen etwas absprechen soll, was sie angeblich nicht haben? Dass ich nicht begreife, warum immer noch gelehrte theologische Streitereien geführt werden, so als wüssten wir nicht längst, dass Rechthaberei, Pochen auf den Buchstaben, Sturheit und anderer Ungeist auf allen Seiten am Werke ist, wenn Christen sich streiten und Konfessionen sich spalten? Dass ich nicht begreife, warum die Einheit in Respekt vor aller Verschiedenheit am Ende an Identitätsängsten und Machtfragen scheitert?
Tradition ist nicht nur ein Schatz – das ist sie ja auch –, sondern auch eine Last. Ich stimme Alfred Delp zu: Es wäre zu leicht, diese Last einfach abzuwerfen. „Wir sollen die Spaltung tragen als geschichtliches Schicksal und zugleich als Kreuz.“ Wenn wir schon über die Grenzen gehen, dann mit dieser Last. Es geht um Einheit in respektvoller Verschiedenheit. Aber die Einheit in respektvoller Verschiedenheit überwindet dann auch die Spaltung. Das Kreuz der Spaltung wird verwandelt, wenn das Kreuz auf Golgota oder eben auch der Galgen von Plötzensee der Ort wird, an dem die Mauern fallen und die Spaltung überwunden wird. Wir dürfen also gerade hier, an diesem Ort, in der Zerrissenheit weitergehen – und jedenfalls nicht stehen bleiben.

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Es gibt Zeugnisse der Ermordeten des Widerstandes, die zeigen, dass sie in der Konfrontation mit den Vertretern der Barbarei etwas entdeckten, was ich die Macht Gottes über die Geschichte nennen möchte. Es ist nicht leicht, das auszudrücken, ohne sich Risiken des Missverständnisses auszusetzen. Ich versuche diese Erkenntnis so zu formulieren: Nicht die Mächtigen machen die Geschichte, und schon gar nicht die Mächte des Bösen, sondern Gott. Das gilt für das Kreuz von Golgota, und das gilt für die Galgen von Plötzensee. Deswegen sind Kreuz und Galgen auch Zeichen der Hoffnung.

Im Johannesevangelium spricht Kajaphas das Todesurteil über Jesus mit den Worten aus: „Es ist besser, das einer für das Volk stirbt, als dass das ganze Volk zugrunde geht.“ Der Evangelist fügt hinzu: „Das sagte er nicht aus sich selbst, sondern weil er Hohepriester jenes Jahres war, sagte er aus prophetischer Eingebung, dass Jesus für das Volk sterben würde.“ (Joh 11,51) Genauso sagt Freisler seinen christlichen Gegnern: „Eines haben wir Nationalsozialisten und das Christentum gemeinsam: Wir fordern den ganzen Menschen.“ Aus dem Mund des Blutrichters kommt ein wahres Wort heraus, dessen tiefe Wahrheit er selbst gar nicht begreift. Und auch hier vollzieht er die Unterscheidung in Katholik, Protestant oder Orthodoxer nicht. Er spricht einfach vom Christentum. Papst Franziskus sagte kürzlich im einem US-amerikanischen Sender folgendes: „Die Trennung der Christen ist eine Wunde im Leib der Kirche Christi. Wir wollen nicht, dass diese Wunde bleibt. Die Trennung ist das Werk des Vaters der Lügen und der Zwietracht, der mit allen Mitteln versucht, die Christen zu entzweien … Er weiß genau, dass die Christen im Glauben an Jesus Christus bereits vereint und Brüder und Schwestern sind. Deshalb überzieht er sie unterschiedslos mit Verfolgung. Ihn kümmert es nicht, ob sie Evangelikale oder Orthodoxe, Lutheraner, Katholiken oder Apostolische Christen sind. Dieses Blut vereint sich.“ (Papst Franziskus, radiovaticana. va/news/2015/05/24)

Man könnte es auch so sagen: Die Feinde der Christenheit interessierte damals wie heute nicht, ob einer Katholik oder Protestant oder etwas anderes derartiges ist. Die Unterschiede sind ihnen gleichgültig. Sie haben mehr vom Christentum begriffen als sie ahnen. Sie sehen das Gemeinsame und bekämpfen es. Ich nehme das als Zusage. Der Spruch des Kajaphas war eine Zusage an den Evangelisten; er erkannte dadurch etwas über den Tod Jesu. Die Worte Freislers waren eine Zusage an Moltke; er begriff etwas über den tiefsten Grund seiner Ermordung. Die Gewalt gegen Christen und überhaupt gegen Menschen guten Willens heute hat uns etwas über uns selbst zu sagen, auf das wir mit geistlicher Unterscheidung eingehen
sollten. Denn es zeigt sich in der Zusage ein Auftrag, der gerade nicht den Intentionen der Kajaphasse und Freisslers entspricht und sie damit entmachtet. Gott ist der Herr der Geschichte, nicht die Tyrannen.

Lasst uns also in dieser Feier zusammen sein und so viel von der Einheit mit Christus und mit den ermordeten Vorfahren im Glauben leben, wie uns jetzt und heute möglich ist – jedem und jeder von uns in der ihm oder ihr jetzt möglichen Weise. Und es möge daraus eine Kraft wachsen, die uns nicht auf diesen Ort fixiert, sondern uns auch formt zu Menschen des Widersprechens und Widerstehens gegen Barbarei, Spaltung, Feigheit und Gewalt.