Herr, der Tag und was er bringen mag,
Sei mir aus deiner Hand gegeben.
Du bist der Weg, die Wahrheit und das Leben.
Du bist der Weg, ich will ihn gehen.
Du bist die Wahrheit, ich will sie sehen.
Du bist das Leben, mag mich umwehen.
Von Michael Ertl
Mit diesen Worten beginnt ein Gebet, dass mir meine Eltern vor über 30 Jahren in die Bibel schrieben, die ich von ihnen zu meiner Firmung bekam. So hat es mich sehr berührt, als genau dieses Gebet von Regina, einer Teilnehmerin der Strassenexerzitien, während eines Gebetsimpulses am Morgen zitiert worden war. Hatte ich dieses Gebet in früheren Jahren oft am Morgen eines neuen Tages gebetet, so war es irgendwann in Vergessenheit geraten und erstand in diesem Augenblick erneut vor meinen inneren Augen. Wie eine Folie legen sich die Worte dieses Gebetes jetzt unter die Erfahrungen, die ich in den vorausgegangenen Tagen auf den Straßen Berlins machen durfte. Der Weg war in diesen Tagen zur Straße geworden, die Wahrheit widerspruchsvoll und das Leben forderte mich auf ungewohnte Weise heraus.
„Du bist der Weg, ich will ihn gehen.“
Die schönen Wald- und Wiesenwege der belgischen Eifel, in der ich lebe, waren zum harten Asphalt einer Großstadt geworden. Am Anfang dieser Exerzitientage stand ich auf dem Alexanderplatz, wo mich eine mit roten Buchstaben aufgeklebte Schrift dazu einlud, den „leeren Raum“ zu betreten. Das habe ich im Verlauf der Exerzitien auch versucht. Manchmal zaghaft und immer öfter auch ganz entschieden. Den „leeren Raum“ in mir auszuhalten und mich durch ihn öffnen zu lassen, für das, was Gott mir in diesen Tagen schenken wollte an Begegnungen und Erfahrungen. Den „leeren Raum“ abzuklopfen, nach der eigenen Sehnsucht aber auch nach meinen Ängsten.
„Du bist die Wahrheit, ich will sie sehen.“
Was wahr und falsch ist, das wusste ich doch längst – und wusste es auch nicht. Am dritten Tag der Exerzitien stand ich auf dem Gelände des ehemaligen Frauengefängnisses in der Barnimstraße und sah mich mit folgender Aussage konfrontiert. „Jeder Mensch ist widerspruchsvoll!“ Ich fühlte mich eingeladen, den Wiedersprüchen meines eigenen Lebens nachzuspüren. Aber auch den vielen „Wahrheiten“ offener und verborgener Not, wie sie mir in diesen Tagen auf der Straße begegneten. Oft waren es auch die Erlebnisse anderer, die mir im abendlichen Austausch zeigten, wie ergänzungsbedürftig all das war, was ich bisher für „Wahrheit“ gehalten habe
„Du bist das Leben, mag mich umwehen.“
Wie Leben aussehen kann und zu welcher fülle sie einlädt, das habe ich bisher oft aus der Perspektive derer gesehen, die aus einer „privilegierten Fülle“ heraus leben können. Das Leben, das mich auf dem Straßenstrich der Kurfürstenstraße erwartete war von einer anderen Fülle; einer, die mich mit Scham erfüllte. Prostituierte aus verschiedensten Ländern sprachen mich an und nannten mir ihre Preise. Sprachlosigkeit überkam mich und auch Trauer über das, was mich an diesem Ort an verkauften Leben „umwehte“.
Das Gebet aus meiner ersten Bibel, ich habe es wieder zu beten begonnen. Der Weg lässt mich jetzt an die Straßen Berlins denken, durch die ich in diesen Tagen der Exerzitien gegangen bin; die Wahrheit daran, dass sie so widerspruchsvoll ist wie vieles, was ich in diesen Tagen gesehen habe und das Leben an die vielen Gesichter, die mich in diesen Tagen umwehten.
Michael Ertl