In den letzten zehn Jahren wurde bei Kirchen und Katholikentagen eine Aufmerksamkeitsübung angeboten. Jeweils etwa 50 Menschen gingen zwei oder drei Stunden auf die Straßen der Stadt. Als Hilfestellung bekamen sie zwei Sätze aus dem Lukasevangelium (10,3+4) mit auf den Weg. In diesem Bibeltext bereitet Jesus 72 Jünger und Jüngerinnen darauf vor, in die Städte und Ortschaften zu gehen, in die er noch kommen will. Anschließend erzählten die Teilnehmenden in kleinen Gruppen von ihren überraschenden Erfahrungen. Ähnlich nahm Jesus sich die Zeit, den Jüngern zuzuhören. Bei uns hörten jeweils einige Begleiterinnen und Begleiter mit Erfahrungen aus Straßenexerzitien zu. Jetzt möchte ich Sie an dieser Stelle einladen, sich auf solch eine Zeit der Aufmerksamkeit einzulassen.
In der biblischen Vorlage weist Jesus zuerst auf die Situation hin, die die Jünger vorfinden werden. Ähnliches gilt auch für uns. Die Jünger gingen aus dem geschützten Kreis hinaus in ein oft feindlich gesinntes Umfeld. Im eigenen Kreis hatten sie sich unter dem Schutz von Jesus, der wohl jeden zu Wort kommen ließ, eine Stellung erarbeitet. Doch das wird sich auf der Reise ändern: „Ihr überschreitet eine Grenze. Legt deshalb alle Besserwisserei ab. Hört aufmerksam zu. Nun geht! Ich sende euch wie Lämmer mitten unter Wölfe“, lauten die Worte Jesu.
Dann gibt Jesus noch vier Anweisungen:
1. Lasst das Futter für die Wölfe weg. „Nehmt keinen Geldbeutel mit.“ Ohne Geld seht ihr eure Geschwister besser, die auch ohne Geld auf der Straße sind, und könnt ihre Bedürfnisse besser spüren: Durst, Hunger, den Zu gang zu einer Toilette, Regenkleidung. Dann seid ihr keine Kunden mehr, deren Bedürfnisse auf Zuruf befriedigt werden. Auch andere Abhängigkeiten, die uns zur Beute von Wölfen werden lassen, können wir wenigstens für einige Zeit weglegen: die Uhr, Handy, Onlinepräsenz …
2. Kauft kein Überlebenspaket ein. „Lasst auch den Rucksack weg.“ Die Jünger dürfen jede Absicherung vermeiden, außer der, sich ganz auf die Frohe Botschaft Jesu zu verlassen.
3. Geht in die Haltung der Achtung vor euren Gastgebern. „Zieht eure Schuhe sofort aus“, nicht erst beim Betreten der Häuser, sondern schon hier. Vertagt eure Geste der Achtung nicht! Legt die Schuhe der Distanz weg: Die Schuhe mit hohen Hacken, durch die wir auf andere hinabsehen können; die Turnschuhe, mit denen wir oft bei Konflikten schnell weglaufen; die Schuhe mit Stahlkappen, mit denen wir zutreten können …. Jeder von uns trägt andere „Schuhe“, die eine Distanz zum Boden und zur Wirklichkeit vor Ort herstellen.
4. „Und grüßt nicht unterwegs.“ Wie können wir diese Anweisung verstehen? Als ich in einer überschaubaren Runde den Text aus dem Lukasevangelium vorlas, sprang eine ältere Ordensfrau auf und schrie gerade zu: „Ich will doch nicht unhöflich sein!“ Doch auch diesen Ratschlag müssen wir in unseren Alltag übersetzen. Ich schlage vor: Lasst euch von einengenden Regeln nicht aufhalten und grüßt vielleicht mal diejenigen, die ihr sonst nicht grüßt. Mit manchen Höflichkeitsregeln können wir den Ruf Gottes in den Hintergrund drücken. Er wird in vielen Alltagskonventionen beiseitegeschoben.
Soweit einige Erläuterungen zu dem Bibeltext. Nun lade ich die Sie ein, sich auf eine Zeit der Aufmerksamkeit mit diesen Anweisungen Jesu einzulassen. Was sehen wir alles – auch in gewohnter Umgebung – neu, wenn wir einige vertraute Dinge weglegen? Anschließend hilft ein Gespräch mit Freundinnen und Freunden, um die Erfahrungen zu sichten. Manchmal weitet das Lesen der Erfahrungsberichte auf dieser Webseite unseren Blick, oder im Buch: „Im Alltag der Straße Gottes Spuren suchen – Persönliche Begegnungen in Straßenexerzitien“ (Neukirchener Verlage 2016).