VIELFALT #5: Diskriminierung

Aus der Impulsreihe für Begleiter*innen von Straßenexerzitien von Nadine Sylla, Josef Freise, Maria Jans-Wenstrup, Dorothee Steif und Elisabeth Kämmerling

„Vergiss, dass ich schwarz bin. Vergiss nie, dass ich schwarz bin“

So beginnt die afroamerikanische Dichterin Pat Parker ihr Gedicht mit dem Titel
„Für die Weiße, die wissen wollte, wie sie meine Freundin sein kann“.
In diesen zwei Zeilen verdichtet sich das Geschenk und die Herausforderung jeder menschlichen Begegnung: Vergiss, welche Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht, Beeinträchtigung, sexuelle Identität, Religion oder sozialen Status ich habe, weil ich von dir einfach als Mensch angeschaut werden möchte, als der
einzigartige, vielschichtige Mensch, der ich bin; ich möchte nicht primär als Vertreterin einer Gruppe wahrgenommen und einsortiert werden. Aber vergiss zugleich nie, welche Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht, Beeinträchtigung, sexuelle Identität, Religion oder sozialen Status ich habe, denn das gehört zu meinem Leben, das macht meine Identität aus und hat Auswirkungen darauf, welchen Status und welche Teilhabemöglichkeiten ich in der Gesellschaft habe, wie privilegiert oder nicht-privilegiert ich bin, ob ich selbstverständlich dazu gehöre oder wieviel Diskriminierung ich erlebe… Beide Sätze sind wahr. Wir brauchen beide Sätze. Vielfaltssensibel Menschen zu begegnen bedeutet, keinen der beiden Sätze absolut zu setzen, sondern immer wieder zwischen beiden hin und her zu schwingen in unseren Begegnungen – im Alltag und in den Straßenexerzitien. Wie zwei Punkte einer Ellipse in unserem Herzen – aufmerksam für Prägungen, Bilder, manchmal Stereotype und Botschaften, z.B. über „Andere“ und „Fremde“, die uns persönlich, aber auch gesellschaftlich vermittelt wurden. Diskriminierung bedeutet, Menschen aufgrund eines Merkmals und den damit verbundenen Zuschreibungen bewusst oder unbewusst zu benachteiligen, abzuwerten oder auszugrenzen. Der Boden von Diskriminierung bildet nicht das reale Merkmal an sich wie z.B.: die Hautfarbe oder das Geschlecht, sondern die Konstruktionen, die wir damit verbinden. Manche Merkmale machen eben einen „Unterschied“ z.B. was Ansehen und Macht bedeutet. Diese haben reale Auswirkungen auf Zugänge und Teilhabe an zum Beispiel Bildung, Arbeitsmarkt oder bei der Wohnungssuche. Die Unterscheidungen sind aber kein „Naturgesetz“, sondern Ergebnis eines gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses. Fredi Saal bringt es auf den Punkt: „Ich bin nämlich ein gelernter Behinderter. Die Rede vom ‚gelernten Behinderten‘ bitte ich wortwörtlich zu nehmen. Denn ich bin zwar mit einer spastischen Lähmung geboren worden, ich bin aber nicht mit dem Sozialstatus eines Behinderten auf die Welt gekommen. Mich als Behinderten anzusehen, habe ich gelernt – und zwar gründlich.“ (Fredi Saal, 1996, Warum sollte ich jemand anders sein wollen? Erfahrungen eines Behinderten – biographischer Essay, S. 87) Straßenexerzitien sind nicht losgelöst von diesen gelernten Bildern in Selbst- und Fremdzuschreibungen. Auch in der Gruppe, bei den Begleiterinnen und unter den Teilnehmenden nehmen wir kontinuierlich diese Kategorisierungen vor und verknüpfen sie mit bestimmten Zuschreibungen. So kann es hilfreich sein, einen Schritt zurückzutreten und sich zu fragen: Sehe ich den Menschen, den ich begleite,
oder nehme ich ein Merkmal so dominant wahr, dass es vor allem meine Bilder im Kopf sind, die ich reproduziere, und ich gar nicht mehr in Begegnung komme? Nehme ich aber auch wahr, dass dieses Merkmal den Menschen geprägt hat, seine Sicht auf die Welt, seine Möglichkeiten sich auszudrücken, sich einzubringen und sich Dinge zuzutrauen?
Unabhängig von der konkreten Begleitung können wir uns auch fragen: wen erreichen wir mit unseren Angeboten? Wie viel Vielfalt gibt es in den Straßenexerzitien? Wer fühlt sich hier wohl und zugehörig, wer wird als „anders“ wahrgenommen?

Von den „Straßenexerzitien“ zu den „Großstadtmeditationen“

Straßenexerzitien sind als neue Form der ignatianischen Exerzitien entstanden…und inzwischen ist es so weit, dass auch diese neue Form weiter verändert und verwandelt wird…und dass sie das auch aushält! Der folgende Artikel von Lutz Müller SJ macht eine solche „Metamorphose“ nachvollziehbar.

In letzter Zeit sind neue Formate in den Straßenexerzitien aufgetaucht. Da kommt beispielsweise Misereor Aachen auf uns Begleitende von Straßenexerzitien zu und fragt, ob wir wohl einen Besinnungstag für ihre Mitarbeitenden gestalten könnten. Ein ausgedehnter geistlicher Impuls für einen Besinnungstag im Advent. Eine Art Schnuppertag, wie er schon von Katholikentagen, Kirchentagen u.ä. bekannt ist. Der dauert sechs Stunden und ist offen für alle Eingeladenen. Bei den Eingeladenen geht es um die Angestellten von Misereor. Sie werden quasi vom Arbeitgeber angemeldet. Da stellt sich sofort die Frage: Geht das überhaupt? Exerzitien auf Anweisung? Straßenexerzitien unfreiwillig??

So ein Tag strukturiert sich in mehrere Phasen: Ankommen, Aussenden, Einsammeln, Gottesdienst.

  • Ankommen: Begrüßung, Erklärung der Exerzitien auf der Straße, Einführung spirituell, biblisch, methodisch;
  • Aussendung auf die Straße, Zeit auf der Straße;
  • Rückkehr zum Ausgangspunkt, Einteilen in Gruppen, Teilen der gemachten Erfahrungen; jeweils ein/e Begleiter/in für etwa 10 Teilnehmende;
  • Eucharistiefeier zum Abschluss für alle.

Jede dieser vier Phasen hatte eine eigene Teilnehmendenzahl, d.h. die Zahl war in jeder Phase verschieden groß. Alle hatten die Freiheit, jeweils am Besinnungstag mitzumachen oder aber – falls sie das so nicht wollten – in ihrem Büro zu arbeiten. Dabei war klar: die Teilnahme wurde erwartet, aber wie das genau aussah, entschied jede Person selbst. Das trug der Tatsache Rechnung, dass kein Arbeitgeber seine Angestellte zu einem Besinnungstag verpflichten kann. Auf diese Weise wurde die Freiheit gegeben, sich etwas aus dem „Programmangebot“ auszusuchen. Da taten die Menschen dann auch. Ganz viele (über 100) kamen zur Einführung und zum Gottesdienst. Auf die Zeit auf der Straße liessen sich weniger ein, ebenso auf die Austauschrunde.

Inhaltlich möchte ich nur erwähnen, dass eine Reihe der Teilnehmenden authentische Erfahrungen auf der Straße machten. Damit meine ich, dass sie Begegnungen und Gefühle, Wahrnehmungen und Verhaltensweisen erlebten, wie ich sie normalerweise selbst bei Straßenexerzitien kenne.

Formal bestand die Austauschrunde aus einem Teilen über 60 Minuten, angeleitet von einem oder zwei Begleiter:in. D.h. das ergab sehr wenig Zeit pro Teilnehmenden, es haben auch einige nichts gesagt, was anders auch nicht gegangen wäre.

Beim Abschluß des Tages im Gottesdienst war eine rege Beteiligung vorhanden.

Formate dieser Art mehren sich. Eine Institution erkennt, dass Straßenexerzitien eine positive Erfahrung sein könnte für die eigenen Mitarbeitenden. Jedenfalls hält sie diese „Aktivität“ für eine Bereicherung und sucht sie daher aus. Sie „schickt“ ihre Leute dahin. Damit gilt: Die Teilnehmenden sind nicht richtig freiwillig da, sondern eben mit Einschränkung. Im Fall von Misereor bestand eine Wahlfreiheit. Das machte das Projekt frei: Wer sich nicht oder nur teilweise auf das Abenteuer einlassen konnte oder wollte, hatte sein Büro als Alternative.

Es gibt inzwischen auch andere Stile. Die Organisation der Malteser hat mehrere Curricula der Fortbildung. Eine Art davon – dasjenige für vermutete, potentielle Führungskräfte – ist eine Reihe mit vier Modulen, zu je drei Tagen, wobei ein Modul „Spiritualität“ heißt. Die Fortbildungsabteilung suchte sich dafür die Exerzitien auf der Straße aus. Eingeteilt in Regionalgruppen mit je etwa 10 Teilnehmenden durchläuft dasselbe Team alle vier Module, so eben auch das Modul „Spiritualität“. Damit sind wichtige Parameter verändert, es sind nicht mehr Straßenexerzitien im üblichen Sinn. Die sind die hauptsächlichen Unterschiede:

  1. Es gibt keine offizielle Alternative zum Programm. Die Teilnehmenden sind mit der Gruppe vor Ort zur Fortbildung. Das Büro in der Herkunftsstadt ist weit weg. Die Teilnahme ist nicht richtig freiwillig, sondern wird wirklich erwartet.
  2. Die Unterbringung erfolgt in einfachen Hotels, die die Fortbildungsabteilung bucht. Es gibt keine Verbindung zu irgendeiner Kirchengemeinde.
  3. Die Gruppe kennt sich; wenn nicht schon aus der alltäglichen Arbeit, dann immer aus den (meist) zwei vorherigen Modulen.
  4. Gerade weil sich die Leute von vorher kennen und sie sich auch nach dem Kurs wieder treffen werden (zum vierten Modul und meist auch im folgenden Arbeitsalltag) besteht ein großes Bedürfnis zum geselligen Treff abends.
  5. Das Innenleben der Firma ist als unsichtbarer, aber spürbarer Gast mit dabei: interne Hierarchien, persönliche Sympathien, geteilte Vorlieben, gemeinsame Feindbilder, Atmosphäre von Fortbildungen, die Philosophie des Unternehmens usw.
  6. Der Trainer aus der Fortbildungsabteilung ist dabei. Er leitet die Veranstaltung und liefert Inhalte (dazu gleich mehr), macht aber nicht als Begleiter der Austauschrunden mit.
  7. Niemand kennt in diesen Kontexten „geistliche Begleiter:innen“. Die Menschen sind vertraut mit Trainer:innen, Supervisor:innen, Moderator:innen, Referent:innen, Anleiter:innen, Expert:innen usw. Geistliche Begleitung ist völlig neu.
  8. Kaum jemand kennt Exerzitien aus eigener Erfahrung, dementsprechend ist die Vertrautheit mit religiöser oder spiritueller Sprache sehr unterschiedlich.

Das Setting ist so verschieden, dass wir den Titel änderten. Die Straßenexerzitien in diesem Format heißen hier Großstadtmeditation. Die Namensänderung ist nicht nur formell, sondern wirkt sich inhaltlich aus. Die Vorgehensweise ist nämlich verschieden:

  1. Es gibt eine Reflexion über den Wertekatalog der Malteser.
  2. Es gibt eine Einführung in unterschiedliche Dimensionen von Glauben: Existenzglaube, Transzendenzglaube, Konfessionsglaube. Das sind drei grundlegende Formen des Zugehens auf die Wirklichkeit, das sich im Vertrauen auf Natur, Schöpfung, Universum, oder im Glauben an ein höheres Wesen, oder in der Identifikation mit einer religiösen Konfession und ihren Traditionen zeigt.
  3. Es gibt eine Sensibilisierung mit Aufmerksamkeits- und Atemübungen.
  4. Gottesdienstformen sind Meditation, Wortgottesdienst und Eucharistiefeier.
  5. Es ist ausführlich Raum für Stellungnahmen zu Glaubensformen, Gottesbildern und Kirche; und für die Meta-Ebene des Kurses (Umstände, Organisatoren, Rollen usw).

Das sind alles Punkte, die in normalen STREX so gebündelt nicht vorkommen. Entsprechend werden die Großstadtmeditationen mit Methoden der Erwachsenenbildung ergänzt, weil es nicht sofort auf die Straße geht, sondern eine Art Anwärmphase braucht, damit sich möglichst viele auf den Prozess einlassen. Am Anfang des Prozesses steht das gewinnende Einladen der Anwesenden – etwas, das bei normalen STREX vorausgesetzt werden kann. Wenn ich solche Exerzitien begleiten will, muss ich derlei Ambivalenzen aushalten.

Die Großstadtmeditationen sind aus den STREX erwachsen. Sie sind nicht mehr die ursprüngliche Form. Eine Stärke der ignatianischen Exerzitien ist ihre Fähigkeit, an verschiedene Umstände angepasst werden zu können. Ignatius von Loyola, der Begründer von Exerzitien, schreibt: „Diese Übungen müssen je nach der Eignung derjenigen angewandt werden, die geistliche Übungen nehmen wollen.“ (Geistliche Übungen 18a) Die Großstadtmeditationen sind für mich ein Beispiel dafür.

VIELFALT #3: Gewaltfreie Kommunikation

Aus der Impulsreihe für Begleiter*innen von Straßenexerzitien von Nadine Sylla, Josef Freise, Maria Jans-Wenstrup, Dorothee Steiof und Elisabeth Kämmerling

Marshall Rosenberg (1934-2015) war ein amerikanischer Psychologe, der mit der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) die Verbindung zwischen Menschen stärken wollte, ein Mitschwingen mit dem Gegenüber – fernab von der in unserer Sozialisation erlernten Unart, Menschen und ihr Verhalten zu bewerten, zu kategorisieren oder gar mit Vorwürfen und Schuldzuweisungen zu belegen. Um gewaltfrei kommunizieren zu können, bedarf es der Selbstwahrnehmung mit dem Ziel eines Ruhens in sich selbst. Wenn ich spüre, dass ich gerade nicht in mir ruhe, geht es darum, genau diese Unruhe in mir wahrzunehmen – und anzunehmen! Wenn ich meine Gefühle und Bedürfnisse spüre und ebenfalls annehme, ist das eine gute Voraussetzung dafür, dass ich – auch als Begleiter*in in Straßenexerzitien – von mir absehen und im Gespräch ganz beim Gegenüber und bei der Gruppe sein kann. Mein Gegenüber ist eine Person, die für mich geheimnisvoll bleibt und eine Würde hat – in jeder Person spiegelt sich die absolute, göttliche Transzendenz wider.

Eine große Bedeutung in der Gewaltfreien Kommunikation kommt dem aufmerksamen Zuhören zu. Es geht darum, ganz beim Gegenüber zu sein und die eigenen Gedanken und Gefühle zurückzustellen. Fragen an mein Gegenüber sollen ehrlich offene Fragen und sensible Fragen sein, die Bewertungen und erst recht ein Bloßstellen und ein Etikettieren vermeiden.

Anstelle eines Ausfragens ist es gut, offene Fragen zu stellen („Mich interessiert, was Dir wichtig ist im Leben. Was möchtest Du erzählen?“). Es liegt dann an meinem Gegenüber, was er/sie mitteilen will.

Empathische gewaltfreie Kommunikation kennt verschiedene Methoden, ist in erster Linie aber eine Haltung. Sie erfordert Achtsamkeit, inneres Gewahrsein und ein Freisein von emotionalen Blockaden.

Wenn ich von einer inneren Unruhe getrieben mit mir selbst beschäftigt bin, kann ich innerlich nicht bei meinem Gegenüber sein. Achtsamkeit führt zu Empathie und auch zu Authentizität. Wenn ich im Gespräch Äußerungen, Einstellungen oder Verhaltensweisen bei Gesprächspartner*innen wahrnehme, die verletzen, diskriminieren und das Leben beeinträchtigen, kann ich meine Irritation, mein Gefühl, mein Bedürfnis dazu ehrlich benennen. Liebevolle Zugewandtheit und Ehrlichkeit mit sich selber und mit Gesprächspartner*innen sind die Basis von Kommunikation.

Wer mehr über die Gewaltfreie Kommunikation erfahren will, findet im Internet ausführliche Erläuterungen, auch Videos mit Marshall Rosenberg selber. Sehr hilfreich ist es, irgendwann mal an Gesprächskursen zur Gewaltfreien Kommunikation teilzunehmen. Die Kurse geben Hilfen – üben kann ich dann mein Leben lang.

Hier kommen noch einige Links:

Infoportal Gewaltfreie Kommunikation mit Trainer*innen und Seminaren: https://www.gfk-info.de; Eine Sendung des Deutschlandfunks: https://www.deutschlandfunkkultur.de/lange-nacht-ueber-gewaltfreie-kommunikation-eine-sprache.1024.de.html?dram:article_id=385322 Video mit Marshall Rosenberg auf youtube: https://www.youtube.com/watch?v=1cskKfGxurM Artikel zur Gewaltfreien Kommunikation als Ansatz gegen Vorurteile und Diskriminierung: https://www.paxchristi.de/artikel/view/5216505297895424/Gewaltfreie%20Kommunikation

VIELFALT #4:Gewaltfreie Kommunikation – Methoden und Haltungen

Aus der Impulsreihe für Begleiter*innen von Straßenexerzitien von Nadine Sylla, Josef Freise, Maria Jans-Wenstrup, Dorothee Steiof und Elisabeth Kämmerling

Wie im letzten Rundbrief erwähnt, ist die Gewaltfreie Kommunikation sowohl von Methoden und Techniken als auch von Haltungen geprägt, die auch für die Begleitung von Straßenexerzitien wichtig sind und die eingeübt werden können.

Die Methoden und Techniken gehen von folgenden Grundsätzen aus:

– immer bei der berichtenden Person bleiben: Wenn jemand von einer Situation berichtet, ist es verführerisch zu sagen: „Das kenne ich auch.“ Und dann wird schnell eine endlos lange Geschichte erzählt, die aber eine Vertiefung dessen verhindert, was der/die ursprünglich Berichtende zu erzählen begonnen hatte. Für Begleiter*innen ist es eine hohe Kunst, auf Gruppenteilnehmer*innen, die vergleichend und sehr ausführlich eigene Erfahrungen einbringen, wertschätzend zu reagieren und zugleich das Gespräch wieder auf die ursprünglich berichtende Person zurückzuführen.

– keine Wertungen vornehmen: Wenn eine Person berichtet, wie sie aus Wut einen Menschen beschimpft und „fertiggemacht“ hat, dann liegt eine Reaktion nahe wie: „Das geht aber nicht. Das darfst Du so nicht machen.“ Solche Bewertungen vermitteln der entsprechenden Person schnell, dass sie falsch ist. In jeder noch so problematischen Handlung eines Menschen steckt die Suche nach einem Leben in Fülle. Marshall Rosenberg schlägt vor, sich auf diese Suche im Gespräch zu machen. Dazu können Reaktionen helfen wie diese: Wie hast du dich dabei gefühlt? Was denkst du, ist in der Person vorgegangen, auf die Du so reagiert hast?

– nachfragen: Bewertungen kategorisieren, Nachfragen helfen, in die Tiefe zu kommen. Durch das Fragen erhält nicht nur der Fragende neue Erkenntnisse, auch die befragte Person kann sich selber so intensiver auf die Spur kommen.

– paraphrasieren: Die Paraphrase ist die Wiedergabe mit eigenen Worten – und mit dem eigenen Wertesystem. Es wird nicht einfach wiederholt, was die betreffende Person gesagt hat. Es wird auf die Gefühle und Bedürfnisse der Person abgehoben. Eventuell geäußerte Vorwürfe, Abwertungen und diskriminierende Äußerungen werden „überhört“ oder es wird kurz gesagt, dass sich diese Äußerung vielleicht jemanden verletzt fühlen könnte. „Aber jetzt geht es um Dich…“

– Pausen zulassen: Die gewaltfreie Kommunikation und auch die Gespräche in Straßenexerzitien sind nicht in erster Linie lösungs- und ergebnisorientiert. Es geht zunächst einmal um das Wahrnehmen und Annehmen der Realität so, wie sie ist, und dann um Veränderungen in der Tiefe der Person. Papst Franziskus hat bei den Plenarsitzungen auf der Jugendsynode und der Amazonassynode in Rom immer wieder auf Pausen gedrungen – im Schweigen und im Singen eines Liedes. Pausen reinigen die Luft; Gefühle können sich sortieren; ich kann in mich gehen und spüren, was mich gerade „getriggert“ hat. Dann muss ich mein Gegenüber nicht verantwortlich für meine Gefühle machen. Diese kontemplative Methode führt uns zu den Haltungen.

Haltungen: Marshall Rosenberg war von Carl Rogers und dessen personenzentrierten Gesprächsführung geprägt, die von den Grundhaltungen der Kongruenz (Echtheit, Unverfälschtheit), der Empathie (der nicht wertenden Einfühlung) und der bedingungslosen positiven Zuwendung ausgeht. Ein wichtiger Aspekt bei Rosenberg ist die Verbindung zwischen Selbstsorge und Dasein für mein Gegenüber. Wenn ich meine eigenen Gefühle und Bedürfnisse wahrgenommen und angenommen habe, kann ich besser von mir absehen und ganz beim Gegenüber sein. Sich selber annehmen und loslassen zu können – dazu helfen Achtsamkeitsübungen, Meditation, inneres Schweigen und das kontemplative Beten.

VIELFALT #2: Identität und Vielfalt

Aus der Impulsreihe für Begleiter*innen von Straßenexerzitien von Nadine Sylla, Josef Freise, Maria Jans-Wenstrup, Dorothee Steiof und Elisabeth Kämmerling

Wer bist du? Was macht dich aus? Nimm dir einige Minuten Zeit: Welche Eigenschaften, Merkmale kommen dir spontan in den Sinn? Welche Eigenschaften /Merkmale sind dir besonders wichtig –welche eher unwichtig? Wenn du dir jetzt vorstellst: Bei der Arbeit, beim Begleiten der Straßenexerzitien, auf der Straße –welche Facetten von dir stehen für die Menschen, die dir begegnen, im Vordergrund? Welche Aspekte von dir kommen gar nicht in den Blick?Wir können nicht anders –wir nehmen Menschen immer aus einer bestimmten Perspektive wahr –wir „reduzieren“ Menschen auf ein „Set“ von Merkmalen: Der Gastarbeiter, die Muslima, der Obdachlose, da kam eine Frau mit Kopftuch, mein homosexuellerKollege …Und doch haben wir alle die tiefe Sehnsucht, in unserer Ganzheit und Komplexität wahrgenommen zu werden. Wir merken, wie fließend und veränderlich unsere eigene Identität ist. Wir wollen als einzigartige und vielschichtige Personen wahrgenommen werden und nicht nur als Repräsentant*in einer „Gruppe“. Und wir wollen selbst bestimmen, was unsere Identität ausmacht. Kübra Gümüsay veranschaulicht dies in ihrem Buch „Sprache und Sein“ (Berlin, 2020) am Beispiel Kopftuch:„Auf kein Attribut werden muslimische Frauen derart reduziert wie auf dieses Kleidungsstück. Sie werden sogar danach benannt: Kopftuchträgerin. Ein Leben als wandelnde Informationssäule einer Religion und allem, was damit assoziiert wird, lässt sich kaum aushalten. Trotzdem ist es das Leben, das so viele Musliminnen in unserer Gesellschaft führen. (…) Sie werden nicht als Menschen wahrgenommen, sondern als Pressesprecherinnen ihrer Religion. Sie werden mit ihrem Glauben vorgestellt –weil sie so lange der Inspektion ausgesetzt waren, dass ihnen das Bewusstsein ihrer eigenen Individualität, Ambiguität, Komplexität verlorengeht. Dass sie vereinnahmt werden von der Perspektive der anderen.“(S. 72-73)„Die Dichterin Anja Saleh hat mir dazu einmal Folgendes gesagt: Man kann nicht alles verstehen. Ich verstehe auch nicht, warum Leute bergsteigen. Ich muss es auch nicht unbedingt verstehen. Und ich glaube, genau darin liegt die Kunst: Menschen nicht zu drängen, ihnen Dinge so verständlich zu machen, dass sie es auf sich übertragen können. Wenn jemand verstehen möchte, warum ich ein Kopftuch trage, dann denke ich mir: Da ist so viel im Hin-tergrund. Du kannst das nicht einfach verstehen, denn da steht ein Prozess, ein Leben dahinter: Wie willst du das verstehen? Versuchen Sie mal, sich selbst einem anderen Menschen verständlich zu machen. Ihre ganze Person, Ihre Widersprüchlichkeiten, Ihre Entwicklung, Ihre Ängste, Ihre Hoffnungen, Ihre Wünsche. Und stellen Sie sich vor, Sie müssten es immer wieder tun, täglich. Es ist erniedrigend. Erschöpfend. Beraubend.“(S. 73-74).

Wenn ihr Feuergefangen habt, findet ihr hier noch zwei Filmtipps:

Ted Talk von Chimamanda Adichie: The danger of a single story (19 Min) https://www.youtube.com/watch?v=D9Ihs241zeg

All that we share (3 Min)https://www.youtube.com/watch?v=i1AjvFjVXUg&vl=de

Die Straße als Anders-Ort — Gott auf der Straße begegnen? Wie soll das gehen?

Looking for a sign? This is it!

Bericht von Straßenexerzitien in Essen

Einen Eindruck davon erhielten fünf interessierte Frauen am 10.09.2020. Pater Lutz Müller SJ hatte ins Abuna-Frans-Haus nach Essen-Frohnhausen eingeladen. Der Leitgedanke des „Schnuppertags Straßenexerzitien“ war, Gott an einem ungewöhnlichen und ungewohnten Ort zu suchen. Nach einer kurzen Vorstellungsrunde führte Pater Müller in das Format ein: Bei Straßenexerzitien sind die Teilnehmenden auf der Straße unterwegs. Sie folgen den Bewegungen der eigenen Sehnsucht. Lassen sich ein auf ungewohnte Lebenswelten — oft auf Menschen am Rande der Gesellschaft. So üben sie, sich selbst, den anderen und Gott darin zu begegnen. Die Leitfragen des ersten Schnuppertages entwickelte Pater Müller aus dem Gleichnis des brennenden Dornbusches. Was ist (m)ein heiliger Ort für diesen Tag? Wo und wie verlasse ich meine Komfortzone und gehe dorthin, wo es unangenehm wird?

Nach diesem Einführungsimpuls ging es für die fünf Frauen bei strahlendem Sommerwetter hinaus. Vier Stunden Zeit lagen nun vor den Teilnehmerinnen. Zeit für Begegnungen mit dem Innen und Außen, mit dem eigenen Herzen oder Menschen in verschiedensten Lebenslagen. Einige Teilnehmerinnen verzichteten dabei auf jegliche Hilfsmittel wie Handy, Geld oder die Fahrkarte für den ÖPNV. Für andere war die Fahrt mit der Straßenbahn die erste Begegnung mit Menschen, die ebenfalls unterwegs waren. Wieder andere ließen mit dem Fahrrad die Welt an sich vorbeiziehen.

Um 15 Uhr traf sich die Gruppe wieder im Garten des Abuna-Frans-Hauses. Eine intensive Zeit lag hinter den Teilnehmerinnen, die nun nacheinander von ihren Erlebnissen, Eindrücken und Gefühlen berichteten – und die ihre eigenen Antworten auf die Leitfragen gefunden hatten. Der Austausch über diese Antworten rundete den Tag ab. Sechs Stunden intensiver Erfahrungen lagen hinter den Teilnehmerinnen, die sie als „Urlaub vom Alltag“, „Auszeit“ oder „wertvollen Impuls“ bezeichneten. Alle Frauen dankten dem Gastgeber und der Organisatorin, Barbara Weß, Kollegin aus dem Fachbereich Integration und Migration, von Herzen. Damit verbunden war der innige Wunsch, diese Veranstaltung zu wiederholen. Wir dürfen gespannt sein: Frau Weß und Pater Müller haben bereits mit den Planungen für eine weitere Veranstaltung begonnen.

In Abwesenheit von Kirche…

Ernst-Otto Sloot SCJ

Wenn man die Menschen in Oberhausen über die derzeitigen Veränderungen ihrer Kirche reden hört, dann ist deutlich herauszuhören, dass Menschen und Kirche in den jeweiligen Stadtteilen früher einander näher waren. Stadtteil und Kirchengemeinde waren praktisch eins, egal ob katholische oder evangelische Gemeinde: große Gefühle von Zusammengehörigkeit und Nähe.

Das Ergebnis der jüngsten Entwicklungen ist dagegen eher: Befremden oder Entfremdung. Kirchen im Stadtteil schließen. Die Wege werden weiter. Kirche insgesamt scheint weiter weg zu sein. Viele trauern, haben das Gefühl, von Kirche verlassen worden zu sein. Andere verlassen ihrerseits enttäuscht, entfremdet die Kirche. In Oberhausen haben letztes Jahr 643 Christen ihren Austritt aus der katholischen Kirche erklärt. Die Zahl der Beerdigungen übersteigt die Zahl der Taufen um mehr als das Doppelte. Die Zahl der Kirchenmitglieder nimmt stetig ab. In 50 bis 60 Jahren ist die katholische Kirche in Oberhausen, wenn der Trend anhält, ohne Mitglieder. Christsein findet dann in Abwesenheit von Kirche statt.

So wie die Kirche sich an leere Kirchen und die Abwesenheit von Christen gewöhnt hat, müssen sich dann die Christen an die Abwesenheit von Kirche gewöhnen. Wie werden die Menschen mit der Abwesenheit der Kirche leben?

Sie können sie, wie eine Freundin, in guter Erinnerung behalten und sich versöhnen mit dem Gedanken, dass man sie ihren Weg gehen lassen muss. Sie wird ihren eigenen Weg mit Gott gehen, mit allen ihren Reichtümern, mit ihrem Festhalten an alten Regeln wie Pflicht-Zölibat und Weihe-Verboten. Vielleicht werden sich die Wege in Zukunft wieder treffen und man geht noch ein Stück gemeinsam dem Reich Gottes entgegen. Das Leben geht schließlich weiter. Es ist Gottes großes Geschenk, das bleibt. Und: Gottes Sammlungsbewegung geht weiter. Kirche ist ein Teil davon. Aber wohl nicht das Ganze. Gottes Geist führt die Menschen auf verschiedenen Wegen an sein Ziel. Der Weg der Kirche ist nur einer davon.

Die Möglichkeiten Gottes und seines Heiligen Geistes sind viele. In Abwesenheit von Kirche bleibt er den Menschen weiterhin nah. Man darf freudig gespannt sein, auf das, was er vorhat: Wen wird er in der säkularen Wüste wie Abraham und Sara mit ihren Kindern zu Keimzellen einer Glaubensfamilie machen? Welche Theologinnen und Theologen wird diese Exils-Zeit hervorbringen? Welche Propheten und Prophetinnen mahnen uns zu Umkehr von falschen Wegen und zu Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung? Wer wagt den Weg in die Nachfolge Jesu?

Die Abwesenheit von Kirche ist jedenfalls kein Hinweis auf die Abwesenheit Gottes! 

Erfahrungen von Strassenexerzitien unter Corona-Bedingungen

"Coronakrise in Berlin" by tim.lueddemann is licensed under CC BY-NC-SA 2.0

Lutz Müller SJ

Einzelexerzitien in Köln

Als ein gelungenes Experiment habe ich es empfunden, als ich Ende Mai 2020 Strassenexerzitien in Köln machte. Unter Corona-Bedingungen ist es ja herausfordernd, auf der Straße unterwegs zu sein. Abstand, Hygienemaßnahmen und Alltagsmaske stellen mich auf die Probe, wie ernst und konsequent ich dies auf der Straße befolge. Folgendes war für mich gut lebbar:

  • Ich suchte mir ein gastfreundliches Kloster, das mich als Einzelgast aufnahm. Das waren die Karmelitinnen, bei denen ich auch täglich die hl. Messe mitfeierte.
  • Da ich allein ohne Gruppe unterwegs war, suchte ich mir einen Begleiter, der sich täglich eine halbe Stunde Zeit nahm.
  • Die Stadt Köln bietet Wohnungslosen, Obdachlosen und anderen Armen eine gute Infrastruktur der Hilfe. Mir scheint, dort ist ein guter Ort, um Strassenexerzitien zu machen.

So hatte ich einen Rahmen vorgefunden und geschaffen, unter dem ich dies ausprobieren wollte. Als mein Hauptplatz stellte sich die Treppe vor dem Hauptbahnhof heraus, direkt unterhalb des Domes. Das ist ein Platz voller Menschen mit vielen Bewegungen. Dort passieren nicht nur Reisende aus aller Welt, sondern viele Kölner machen dort Pause; die Straßenreinigung hält den Platz im 30 Minuten Takt sauber, weil es ein Vorzeigeobjekt ist; mehrere Gruppen von Obdachlosen treffen sich, über den Tag verteilt. Verschiedene Künstler versuchen dort ihr Glück, Menschen anzuziehen. Es herrscht aber ein solches Gewusel auf dem Platz, dass fast alle nach kurzer Zeit entnervt weiterziehen zum Domplatz hinauf.

Ich lernte auch den Neumarkt kennen, ein Treffpunkt von Dealern und Drogenkonsumenten. Ein sehr verschmutzter, großer, unappetitlicher Platz, wo ich mich nur unwohl fühlte. Am Appellhofplatz war es einsam, dort trafen sich meist nur einige Männer, die ich vom HBF her kannte. Eine Kontaktaufnahme gelang mir nicht.

Zur Verpflegung: Der Sozialdienst katholischer Männer verteilte wochentags eine Frühstückstüte. Oft war die Schlange der Anstehenden länger und größer als die Zahl der Tüten. Dort fiel mir die Kontaktaufnahme leicht. Mit einem der Männer kam ich intensiver ins Gespräch. Als er anfing, mich über meinen Herkunftsort Essen auszufragen, welche Anlauforte es dort gäbe, merkte ich, wie wenig ich über meine Stadt wusste….

Die Pfarrei St. Maria in der Kupfergasse verschenkte täglich ab 14 Uhr belegte Brote in großer Menge. Dort waren auch immer Leute unterwegs. So kam ich in puncto Ernährung gut über die Runden.

Zur Begleitung: Unter der einfühlsamen Begleitung von Markus Röntgen wurden mir zusätzliche Aspekte meines Weges bewusst. Täglich traf ich ihn für 30 Minuten in einer Kirche in Bahnhofsnähe zum Gespräch. Es war schön, einen kompetenten Kollegen zu erleben, der aus eigener Erfahrung informiert Fragen stellte, Anteil nahm an den Fragmenten meiner Tage, mir zuhörte und mich so begleitete. Sehr interessant waren seine selbst verfassten Haikus (japanische Kurzgedichte) von Begegnungen mit dem Selbst und dem Fremden.

Mit Maske war es mühsamer als ohne, aber es ging. Auf der Treppe am Bahnhof konnte ich gut auf Abstand achten. Da ich eine knappe Woche mich täglich dort aufhielt, konnte ich wiederholt mit einigen Obdachlosen gut in Kontakt kommen. So merkte ich, wie sehr sie sich umeinander kümmerten, sie Blickkontakt mit den Polizeistreifen hielten, sie sich auf Fremde wie mich einließen, die nicht auf ihre Bettelaktionen reagierten. Schwierig fand ich die Gruppe rumänischer (?) Bettler, die systematisch die Region um Dom und HBF abliefen. Als ich versuchte, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, konnten sie kein deutsch.

Ein Novum war für mich meine Intuition, mich unter die Flaschensammler zu mischen. Das war eine vielschichtige Erfahrung. Ich spürte an mir Ekel, in dunkle Mülleimer zu fassen wegen des Drecks; Frust, wenn jemand anders vor mir gerade alles abgegrast hatte und ich also leer ausging; Ambivalenz, wenn ich anderen Sammlern begegnete; Scham, wenn mich andere Passanten dabei beobachteten; eine Mischung von Erfolgsfreude und Peinlichkeit, wenn ich die Flaschen in einem Discounter einlöste… Ich merkte, wie diese Sammler allein unterwegs waren. Das Flaschensammeln ist eine Aktivität, die den Tag füllen kann.

Ob ich dabei irgendwann Gott begegnet bin, weiß ich nicht. In jedem Fall bin ich Brüdern und Schwestern von der Straße begegnet. Manchmal entstand eine Nähe, meistens blieb Fremdheit. Vielleicht war das der verborgene Gott…

Kurs in Essen

Nach meiner Woche in Köln folgte bald darauf mein Kurs in Essen, den ich ausgeschrieben hatte als Veranstalter und Begleiter. Drei Teilnehmende rangen sich trotz Corona durch (allerdings ohne Lockdown Bedingungen) und kamen ins Abuna-Frans-Haus. Eine Woche verbrachten sie in der Ruhrmetropole, die sich gut eignet für Straßenexerzitien. Drei Personen konnte ich gut in Einzelzimmern in unserem Haus, das eine WG mit Flüchtlingen beherbergt, unterbringen. Wie üblich, gab es morgens einen Morgenimpuls mit Frühstück, tagsüber waren alle unterwegs auf der Straße, abends kochte meist eine/einer aus der Gruppe ein Abendessen vor der Austauschrunde. Diese nenne ich lieber „Lesezeit“, weil es darum geht, die Erfahrungen des Tages miteinander aufzunehmen, stehen zu lassen und zu lesen. Mir scheint, das Wort „Lesezeit“ bringt dies deutlicher zum Ausdruck als der Begriff „Austauschrunde“.

Unsere Eucharistiefeiern fanden fast jeden Tag an einem anderen Ort statt. Meist konnten wir Elemente aus der Lesezeit des Vortags integrieren. So feierten wir im Park, an einem Brunnen, im Gewerbegebiet, vor einer verschlossenen Kirche, im Garten und in der Kirche.

Die Teilnehmenden machten naturgemäß ganz verschiedene Erfahrungen, je nachdem wie sie unterwegs waren: allein, mit Fremden, barfuß, kommunikativ oder schweigsam, mit persönlicher Agenda, suchend, mit oder ohne Geld, mit oder ohne Handy, mit oder ohne Blasen an den Füßen, sich öffnend oder sich verschließend, …

Es ergaben sich verschiedene Räume innerhalb der Straßenexerzitien: ein Bibliolog, ein Grillabend, eine Fußwaschung, Begegnungen mit den Flüchtlingen des Hauses, gemeinsames Kochen,…

Am letzten Tag, ein Sonntag, hielt ich in der Gemeindemesse eine Predigt zu den Straßenexerzitien. Ich freute mich sehr, als alle drei Teilnehmenden sich entschlossen, ein Zeugnis einzubringen und etwas von ihren Erfahrungen auf der Straße mit der Gemeinde zu teilen. So stand Corona nicht täglich im Mittelpunkt, prägte dennoch den Umgangsstil miteinander, verhinderte aber nicht die Exerzitien.

Vielfalt #1: Was ist Anti-Bias?

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Ein Impuls für Begleiter*innen von Straßenexerzitien von Nadine Sylla, Josef Freise, Maria Jans-Wenstrup, Dorothee Steiof und Elisabeth Kämmerling

„Anti-Bias ist wie eine lebenslange Reise, die bei uns selbst beginnt“
(Louise Derman-Sparks)

Menschen sind vielfältig. Sie unterscheiden sich in ihrer kulturellen und religiösen Zugehörigkeit, in Geschlecht, Lebensform, sexueller Identität, Alter, Weltanschauung, körperlichen Merkmalen, sozialem Status, Bildung und vielem mehr. Jeder Mensch ist so wie er ist einzigartig.

Wir begegnen dieser Vielfalt in unserem persönlichen Umfeld, bei der Arbeit, in der Begleitung von Straßenexerzitien und letztlich bei uns selbst. Vielfalt ist immer schon da. Oft denken wir nicht darüber nach. Vieles erscheint uns selbstverständlich. Untersuchungen zeigen jedoch, dass schon Kinder ab dem 3. Lebensjahr lernen, dass bestimmte Merkmale (wie Religion, Geschlecht, Hautfarbe …) in der Gesellschaft unterschiedlich bewertet und dadurch auch unterschiedlich mit Macht und Privilegien ausgestattet werden. Hier setzt der Anti-Bias Ansatz an.

Bias“ kommt aus dem Englischen und bedeutet Schieflage, Einseitigkeit oder Voreingenommenheit. Es geht bei Anti-Bias um diese „Schieflagen“ und „Voreingenommenheiten“ (und „Vor-urteile“) in unserer Wahrnehmung und in unserem Handeln. Wir schauen mit einer bestimmten „Brille“ auf Menschen: So erscheinen uns manche Merkmale als „normal“ – andere als „unnormal“ oder „besonders“; manche Menschen gehören selbstverständlich dazu (zum „Wir“), andere bleiben immer die „Fremden“ („Ihr“) … Was meinen wir z.B., wenn wir in der Apotheke ein hautfarbenes Pflaster verlangen?

Wir bewegen uns immer – ob wir wollen oder nicht – in diesen „Schieflagen“ und Einteilungen. Wir sind in diese „verstrickt“. Je nachdem, wo wir uns auf der Wippe befinden, hat dies Auswirkungen, wie wir uns zeigen und in Gruppen verhalten. Anti-Bias möchte für diese „Schieflagen“ und Verstrickungen sensibilisieren.

Der Ansatz geht davon aus, dass wir alle Vorurteile haben. Es geht also nicht darum, „vorurteilsfrei“ zu werden. Mit diesem Anspruch überfordern wir uns. Das entlastet. Aber wir können uns für unsere Vorurteile sensibilisieren, uns diese bewusst machen. Mit dieser neu gewonnenen „Vorurteilsbewusstheit“ können wir nicht nur unser persönliches Verhalten verändern, sondern auch auf den Abbau von ungerechten und diskriminierenden Strukturen in der Gesellschaft hinwirken.

Wir laden dich ein, dich mit anderen auszutauschen:

  • Welche Merkmale machen dich aus? Wie würdest du diese Merkmale auf der Wippe positionieren?
  • Wenn du jetzt an die Menschen denkst, die du in den Straßenexerzitien begleitest: Die Teilnehmenden oder die Menschen, denen die Teilnehmenden „auf der Straße“ begegnen? Wo erscheinen sie auf der Wippe?

Anti-Bias

  • richtet sich an alle Menschen und geht alle an!
  • reflektiert die unterschiedliche Bewertung von (Heterogenitäts-)Merkmalen in der Gesellschaft.
  • geht davon aus, dass wir alle Vorurteile haben, aber das ein bewusster Umgang mit Vorurteilen möglich ist.
  • arbeitet an einer veränderten Haltung und zielt von da aus auf eine Veränderung gesellschaftlicher Strukturen.
  • ist eine lebenslange Reise, die dein Leben und unser Miteinander bereichert.

Straßenexerzitien als Praxis von „Freestyle Religion“

Uwe Habenicht, geboren 1969, verheiratet, drei Kinder; evangelischer Theologe; er arbeitete als Pfarrer in Deutschland und Italien. Seit 2017 ist er Pfarrer in St. Gallen mit Schwerpunkt Jugendarbeit. Bei seiner Erkundung der spirituellen Aufbrüche der Gegenwart unter dem Titel „Freestyle Relition“ fragt er nach Merkmalen einer tragfähigen christlichen Spiritualität. Ausgangspunkt ist für ihn die religiöse Autonomie des Einzelnen. Anschaulich beschreibt er, dass sich dabei die eigenen, auch mystischen Erfahrungen nicht gegen gemeinsames Beten und politisches Engagement ausspielen lassen. Und wie in solchen neuen Formen des Religiösen, auch in neuen Formen des Umgangs mit traditioneller Religion, individuelle Freiheit und Gemeinsinn miteinander zu dem verbunden werden, was „Freestyle Religion“ als Religion für das 21. Jahrhundert ausmacht. Im „Praxisteil“ am Ende des Buches schreibt er über die Straßenexerzitien.

Straßenexerzitien und Alltagsexerzitien – vom Abschreiten aller drei Kreise                     

Etliche Aspekte der bisher beschriebenen Kreise fließen in der Form der Straßenexerzitien zusammen, die ich abschließend noch kurz skizzieren möchte: In den Straßenexerzitien zieht man sich nicht aus der Hektik und dem Getriebe der Städte aufs Land zurück, um Einkehr zu hallten. Vielmehr sucht diese Form der Exerzitien die Gegenwart des Auferstandenen im Alltag der Straße. Die Wahrnehmung der Wunden der Zeit, der Ausgestossenen und Leidenden bekommen dabei ein besonderes Gewicht, Spiritualität mit dem Gesicht zur Welt: Aufmerksam, offen und absichtslos gehen die Übenden eigensinnig und allein auf die Straßen und Plätze und suchen nach einem Echo des biblischen Wortes, mit dem sie am Morgen aufgebrochen sind. „Sich auf die Exerzitien zu begeben bedeutet zu ‚üben‘. Wir üben aufmerksamer zu werden, unsere innere Aufmerksamkeit zu bemerken und ihr zu folgen. Um auf die innere Stimmen besser zu hören, werden solche Übungszeiten normaler Weise in einem Kloster oder in einem Haus angeboten, das dafür besonders geeignet erscheint, mit landschaftlich schöner Umgebung oder einem Meditationssaal. Bei den Exerzitien auf der Straße gehen wir raus in die Stadt. Üblicherweise zehn Tage lang, jeden morgen und jeden Nachmittag. Abends kommen wir wieder zusammen, feitern Gottesdienst und erzählen uns in kleinen Gruppen, was uns begegnet ist.“[1]

Hier verschränken sich Wahrnehmung des Leidens Meditation und gemeinschaftlich liturgische Feier. „Wir üben, das Leben in Fülle zu suchen, den Lebendigen und die Lebendige, die tausend Namen hat, die wir Gott nennen. Wir üben ihr unser Herz zu öffnen. Warum ‚üben‘? Wir üben vielleicht weniger im Sinne von trainieren, sondern von: immer wieder neu anfangen. Ich übe ins Jetzt zu kommen. Ich werde langsamer und spüre Neues. Nach und nach entdecke ich eine Stille in mir und kann mein Inneres spüren. Im Lassen vom Tun und Arbeiten, vom Denken und Handeln finde ich zu einem Dialog in mir und bin im Gebet. Ich übe, mehr ins Hören zu kommen. Wer will mir heute begegnen? Wo oder in wem will sich Gott, die Quelle des Lebens, mir heute zeigen?

Unverschämte Übungen – immer wieder unverschämt Neues. Da, wo ich es vielleicht am wenigsten erwarte! Gott, die liebende Gegenwart, suchen im Jetzt, in allen Dingen, wie Ignatius, der Begründer des Jesuitenordens, sagt. Auch in jedem Menschen kann ich dieses Schönem das Gott ist, finden. Unverschämt – vielleicht gerade in jenen Menschen, die ich sonst eher beiseiteschiebe, die am Rande leben, die am Brennpunkt des Lebens stehen.“[2]

Dieses hörende Schweigen ist die Voraussetzung für jede Form von kooperativem Engagement zugunsten derer, denen man begegnet ist – auch wenn die Straßenexerzitien diesen letzten praktischen Schritt nicht leisten können, der für das Ganze der Freestyle Religion konstitutiv ist.

Straßenexerzitien lassen sich als Grundübung von Freestyle Religion verstehen, die sich eben nicht im stillen Kämmerlein versteckt, sondern die Straße als Ort gelebter Religion wiederentdeckt – so wie sich Parcours oder Free Running den herausfordernden Gegebenheiten der Straße stellen oder die zeitgenössische Kunst auf die Straße geht, um im alltäglichen Leben Spuren zu hinterlassen.[3]

„Wenn ich auf die Straße gehe, lasse ich die Kontrolle weg, mit der ich bestimme, wer mir begegnen kann und wer nicht. Ich gehe in die Offenheit der Begegnung und lasse mich in dieser Offenheit frei, soweit ich es vermag, begegne Überraschendem und schaue, ob dieses ‚Ungeborgene‘ mein Herz entzündet und mich in unvorstellbarer Weise beherbergen, mir Geborgenheit und Gottes Anwesenheit zeigen will. Ich stimme dem offenen Ausgang des Tages zu, gehe aus dem Gewohnten hinaus, sage ja dazu, dem Fremden, dem Unbekannten entgegen zu gehen, will erproben, was geschieht, und schauen, was sich ereignet.“[4]

Wenn Religion ihre schützenden Räume, in denen sie das Göttliche feiert und die Augen vor der Zerrissenheit der Welt nicht verschlossen hat, verlässt und ihre vertiefte Verankerung im Göttlichen hinaus auf die Straße trägt, um die Welt mit anderen kooperativ zu gestalten, und wenn die diesem Weg immer wieder und wieder eigensinnig gehtm wird aus Religion Freestyle Religion. Dann ist Religion mehr als frommes Selbstgespräch meiner Seele mit mir selbst. Dann ereignet sich wunderbares Wirken weit über mich hinaus.    


[1]    Herwartz, Im Alltag der Straße, 27

[2]    Ebd.

[3]    Aus dem Galler Tageblatt vom 4.8.2019

[4]    Herwartz, Im Alltag der Straße, 29

Leseprobe aus: Uwe Habenicht, Freestyle Religion. Eigensinnig, kooperativ und weltzugewandt – eine Spiritualität für das 21. Jahrhundert © Echter Verlag Würzburg 2020, S. 135-138