Peter Hundertmark Mit offenen Augen beten

„Mit offenen Augen beten“ – dieser Titel irritiert, schließen die meisten Menschen, wenn sie alleine und in den persönlichen Anliegen beten, doch die Augen, um besser bei sich selbst und in der eigenen inneren Bewegung sein zu können. Zu Recht, denn die Rückwendung nach innen unterstützt auf gute Weise die Hinwendung und Beziehung zu Gott, der Geist ist, unsichtbar und uns inwendig gegenwärtig. „Du aber geh in deine Kammer, wenn du betest, und schließ die Tür zu; dann bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist.“ (Mt 6,6) Auf den ersten Blick macht derjenige alles falsch, der mit offenen Augen beten will und dazu auch noch den öffentlichen Raum, die Straße und die belebten Plätze aufsucht.

Aber Gott ist nicht nur in uns, in unserem Herzen und in unserer Sehnsucht. Nichts, was ist, ist ohne Gottes Gegenwart, wenn auch nichts, was ist, Gott ist. Gott lässt sich in allen Dingen suchen und finden. Er ist der Schöpfer, der hinter den Geschöpfen erahnt werden kann. Er ist der Herr der Welt und der Geschichte. Nichts geschieht ohne ihn. Und er ist in Jesus Christus selbst Mensch und Teil dieser Welt geworden. Sein Reich hat er mitten unter uns aufgerichtet und seine Gegenwart in besonderer Weise an die Armen gebunden. Es gibt keinen Ort, der ihm fern ist. Die Wirklichkeit dieser Welt ist nicht von Gott getrennt; sie ist Gottes Wirken. Durch die Wirklichkeit kommt Gott auf uns zu. „Gott umarmt uns durch die Wirklichkeit.“ (W. Lambert SJ)

„Mit offenen Augen beten“ ergänzt das Beten mit geschlossenen Augen. Zum Beten in der Gegenwart Gottes in uns tritt das Beten in der Gegenwart Gottes in der Wirklichkeit um uns hinzu. Das Außen wird dabei in die gleiche meditative Achtsamkeit einbezogen, die sonst die inneren Prozesse begleitet. Im Blick auf sich selbst und ebenso im Blick auf die Welt suchen die Betenden sich für die persönliche Zuwendung Gottes zu jedem Einzelnen zu bereiten. In beiden Weisen zu beten, sucht die Sehnsucht der Betenden die Begegnung mit Jesus Christus, der als Auferstandener bleibend in uns und mitten unter uns ist.

Wer mit offenen Augen zu beten sucht, begibt sich jedoch nicht in den geschützten Raum einer Kirche, sondern dahin, wo ihm möglicherweise Relevantes im Außen begegnen kann: also zum Beispiel in die Fußgängerzone einer Stadt, an den Bahnhof, zu einem Krankenhaus oder an die Mauer eines Gefängnisses. Oft wird er oder sie ausdrücklich die Nähe zu den Armen suchen, in der Gewissheit bei ihnen niemals weit von Christus entfernt zu sein. Freilich betet er oder sie auch im öffentlichen Raum nicht öffentlich. Beten mit offenen Augen ist keine Demonstration von Frömmigkeit vor den Augen eines staunenden Publikums!

Das „Material“ mit dem mit offenen Augen gebetet wird, ist das, was gerade geschieht, die Menschen um mich herum. Dieses Außen jedoch wird nach innen gezogen, es bleibt mir nicht äußerlich. Vielmehr sucht der/die Betende sich selbst zum Resonanzraum zu bereiten, in dem die Dinge, Menschen, Begegnungen und Situationen zum Klingen kommen und Bedeutung gewinnen. Eine achtsame Haltung, die eher sorgsam wahrzunehmen sucht, als in die inhaltliche Auseinandersetzung zu gehen, unterstützt dieses Nach-Innen-Holen. Auch Beten mit offenen Augen lässt sich Bedeutung schenken, hört spürsam auf die verborgene Stimme Gottes hin und versucht, das eigene Deuten und (innere) Reden zurück zu lassen.

Nach aller Erfahrung geschieht es auch nicht häufiger, dass wir durch äußere Bilder und Geschehnisse aus der betenden Haltung herauszurutschen, denn durch innere Stimmen, Gedanken und Bilder, die aus der eigenen Seele aufsteigen. In beiden Weisen des Betens ist es eine ständige Aufgabe, sich aus der Ablenkung, aus den eigenen Gedankenketten, wieder zurück zu holen und „sanft in die Gegenwart des Herrn zu versetzen“ (Franz von Sales). Beten mit offenen Augen ist Gottsuche und da Gott in unserer Welt nicht unvermittelt vorkommt, mit den gleichen Schwierigkeiten belastet, wie jede menschliche Gottsuche. Wie im Beten mit der Bibel die Gefahr besteht, am Buchstaben hängen zu bleiben; so wie beim Beten mit inneren Regungen und Bewegungen die Gefahr besteht, vom Strom der eigenen Gedanken davon getragen zu werden, so besteht beim Beten mit offenen Augen die Gefahr, in den Bann des Geschehens zu geraten, innerlich nach Lösungen zu suchen oder äußerer Aktivität nachzugeben.

Experiment

„Mit offenen Augen beten“ ist schweigendes, wildes, freies Beten in der Öffentlichkeit – ohne den Schutz der liturgischen Form und der sicheren Formeln des Glaubens. Von seinem ganzen Charakter her ist es ein Experiment. Ein Experiment mit mir, in meiner Welt, mit meinem Gott. Oder ein Experiment Gottes. Wie jedes echte Experiment hat Beten mit offenen Augen kein vorher absehbares Ergebnis. Was mir begegnen wird, wo ich hängen bleibe, wer mir begegnet und welche Bedeutung Gott daraus für mich erschließen will, ist nicht im Voraus zu ahnen.

Ein Experiment ist Beten mit offenen Augen jedoch auch, weil es sich an die Ränder der eignen kleinen Welt begibt, dahin wo ganz andere Lebenswelten direkt neben meiner existieren, sich mit meiner Welt kreuzen, ohne dass es im Alltag zu einer Begegnung kommt. Beten mit offenen Augen fordert heraus, denn die erste Einsicht, die sich umgehend und unabweisbar einstellt, ist, dass alles, mein ganzes Leben, die ganze kunstvolle Ordnung meiner Welt auch anders sein könnte. Und schon steht vor Augen, woran ich hänge, was mein Leben trägt, worauf ich mich verlasse und wie viel oder wie wenig davon in Kontakt ist mit meinem Glauben, meinem Lebensziel und meinem Gott.

Beten mit offenen Augen ist auch Versuch und Irrtum: Wie sieht die Welt eigentlich aus, wenn ich in der Fußgängerzone am Boden sitze, wie fühlt sich ein belebter Bahnhof an, wenn ich in der Nähe der Obdachlosen, Punks oder Fixer sitze? Was traue ich mich und wo sind meine Grenzen? Was passiert eigentlich, wenn ich einmal für eine Weile einen Fuß nach jenseits der Grenze meiner gelernten Weltbewältigung setze? Lässt sich Gott, den ich in der Kirche oder in einem Meditationsraum manchmal so nahe erspüre, finden, wenn es laut, bewegt und säkular ist?

Aber auf diese Weise wird nicht nur neue Einsicht gewonnen. Auf der Suche nach Gott im Fremden wird mein Glaube ein wenig mehr alltagstauglich, ein wenig mehr weltlich und ein wenig mehr praktisch bedeutsam. Wenn ich Gott ahne und vielleicht auch finde, wo er erst einmal nicht zu sein scheint, entsteht eine neue, ungeahnte Wirklichkeit. Obwohl nichts Gott ist, ist die „Welt Gottes so voll“ (A.Delp SJ). „Sitzt“ Gott aber bei den Obdachlosen, verändern sich meine moralischen Maßstäbe, werden sich meine Optionen neu sortieren müssen, wird mein Engagement anders aussehen. Es geschieht Metanoia – Umwandlung des Herzens. Im Experiment, mit offenen Augen zu beten, entsteht ein neuer Mensch, der mir von nun an aufgegeben ist.

Und es braucht eine neue Sprache für den Glauben. Eine Sprache, die sich nach Erde anfühlt, die nach dem Schweiß der Angst und der Arbeit riecht, eine Sprache mit dem Geschmack allen Glücks und aller Bitterkeit der Welt, die heutig klingt und die Augen öffnet für Gottes Welt – und was ihr entgegen steht. Wer immer versucht, über seine betende Erfahrungen auf der Straße mit anderen zu sprechen, wird erleben, dass diese neue Sprache in ihm oder ihr wächst, aufbricht, vielleicht stotternd, verlegen erst, dann aber kraftvoll und unumkehrbar: Glaube, der zur Welt gekommen ist.

Exerzitien

Versuch und Irrtum, Experiment, auch experimentelle Spiritualität brauchen nicht selten viele Versuche, brauchen oft ganze Experimentreihen. Vielleicht steht beim ersten Versuch die Irritation der „falschen“ Umgebung ganz im Vordergrund. Vielleicht braucht es einige Anläufe und längere Zeiten bis sich Beten mit offenen Augen überhaupt nach Beten anfühlt, bis es gelingt, das Äußere nach innen zu holen und mit Gott ins Gespräch zu bringen.

Viele Menschen haben erst einmal länger mit ihren Impulsen zu kämpfen, „dass man da doch was machen muss“. Wenn sich die Fragen dann auf sie selbst zurück zu wenden beginnen, ist ein weiterer wichtiger Schritt getan. Denn Gott zu suchen und zu finden, nicht platt, nicht sozialromantisch, aber auch nicht beliebig und entrückt, ist eine neue Herausforderung. Sich von Gott umwandeln zu lassen, braucht Zeit. Annehmen zu können, dass er auch mich auf seinen Weg ruft, der mitten durch ganz fremde Welten führt, an Jesu Christi Seite hin zu den Armen, hinein vielleicht in ohnmächtige Wut und stumme Hilflosigkeit, diese erneute Bekehrung des Herzens dauert. Und darin Auferstehung zu spüren, den Auferstandenen zu tasten, kann zu einem ganzen Lebensprogramm werden.

Es wird nur mit Üben gehen, immer wieder üben. Denn das, was man sich ausdenken könnte, ist es nicht. Und es wird nur langsam gehen, noch langsamer. Denn das Schnelle bleibt an der Oberfläche und „lebt die Welt nicht durch bis auf ihren Grund“ (nach A. Delp SJ). Beten mit offenen Augen hat seine Heimat im beharrlichen geistlichen Üben, in Exerzitien – in Exerzitien auf der Straße, wie sie der Jesuit und Arbeiterpriester Christian Herwartz in Berlin-Kreuzberg entwickelt hat und seit einigen Jahren begleitet. Eingebunden in einen Exerzitienweg entfaltet Beten mit offenen Augen seine volle Kraft. Zehn Tage stehen zur Verfügung, um langsamer zu werden und geistlich zur Welt zu kommen. Leben unter einfachsten Bedingungen, Schlafen in einer Sammelunterkunft, Auskommen fast ohne Geld – die äußeren Rahmenbedingungen stützen die innere Wandlung hin zum Weg Jesu. Ein erfahrener Begleiter, der um die Dynamik eines solchen geistlichen Weges weiß, und eine Gruppe, die gemeinsam übt, die Erfahrungen teilt und sich wechselseitig stärkt, helfen den Herausforderungen auf den Grund zu gehen.

Heiliger Boden

Aus den Exerzitien auf der Straße stammt der Anschluss allen Betens mit offenen Augen an die alttestamentliche Erzählung vom brennenden Dornbusch (Ex 3). Dort wird erzählt, dass Moses als er über seine normalen Wege hinaus in die Wüste geht, dort etwas Ungewöhnliches im aller Gewöhnlichsten entdeckt: ein Dornbusch brennt und verbrennt doch nicht. Als er es anschauen will, wird er zurückgehalten, denn dort ist Heiliger Boden – Gott wird sich zeigen, wie er ist, wird seinen Namen preisgeben. Nur ohne Schuhe, barfuß und ohne Schutz, kann sich Moses dem Dornbusch nähern und Gottes Stimme hören.

Beten mit offenen Augen wagt sich ebenfalls ein wenig über die eigene Welt hinaus. Heiligen Boden zu suchen wäre wahrscheinlich zwecklos. Überall ist nur die graue Welt unseres säkularen Jahrhunderts zu finden. Aber die Erfahrung sagt, dass denen die aufmerksam sind, heiliger Boden geschenkt wird, direkt hinter der nächsten Ecke, beim Allergewöhnlichsten, nicht selten vor dem Fremden, Verabscheuten und Ausgeblendeten. Zur Erfahrung wird dieses Angebot, wenn es gelingt wenigstens innerlich „die Schuhe auszuziehen“ – herauszutreten aus den ausgetretenen Wegen von Gewohnheit, Gewissheit und Gesichertsein. Mutige werden erleben, dass die Welt sich schlagartig ändert, wenn sie wirklich die Schuhe ausziehen und plötzlich barfuß dort stehen, wo alle anderen, sogar die Ärmsten, Schuhe tragen.

Gott macht sich erfahrbar, aber er tut das so, dass er nicht in die Hand zu bekommen ist. Im Buch Exodus sagt er Moses seinen Namen, aber dieser Name lautet, etwas leichthin übersetzt, einfach: „Ich bin’s“ – ein Name, der zugleich auch kein Name ist; eine Gegenwart, die sich dem Zugriff entzieht. Gott sagt „ich“ und bleibt damit der einzige Akteur. Er ist nicht festzulegen, es lohnt sich nicht an der Stelle des Dornbuschs einen Altar zu bauen, mit seinem Namen kann niemand das Unglück der Welt wegzaubern, er ist kein Ding dieser Welt und auch nicht die Lösung der Probleme. Er ist „ich“ – souverän, frei, unabweisbar, ergreifend, herausfordernd und verändernd.

Später bindet sich dieser freie Gott an Jesus von Nazareth und von da an ist Gott im Himmel, auf der Erde und sogar in der Hölle – und im Himmel auf Erden und in der Hölle auf Erden. Er ist Mensch und jeder Mensch spricht von ihm, er ist in der Welt und die ganze Welt verweist auf ihn, aber nichts in der Welt ist er und kein lebender Mensch ist Gott. Jeder Ort, jeder Mensch, jede Situation hat das Potential zum Ort der Gottesbegegnung heute zu werden. Die Chancen, das Angebot auch wahr- und annehmen zu können, steigen jedoch mit der physischen Nähe zu den Armen. Dort ist Christus auf jeden Fall zu finden. „…denn ihnen gehört das Himmelreich“ (Mt 5,3).

Wer mit offenen Augen beten will, wird deshalb gut daran tun, dort mit dem Üben zu beginnen, wo es leicht ist: da nämlich, wo die Armen sind. Die erste Armut ist immer die materielle Armut. In allen Städten gibt es davon genug zu sehen – Obdachlose, Bettler, Müllsammler, Straßenkinder. Aber unsere Gesellschaft bringt viele Formen von Armut hervor. Krankheit, mehr noch psychische Erkrankung, Pflegebedürfigkeit, Alter, Demenz, Einsamkeit, Migration, Entwurzelung, zerbrechende Beziehungen und Familien, Arbeitslosigkeit, Süchte, Verzweiflung… die Liste nimmt kein Ende. Und auch bei diesen Menschen ist Christus nicht weit. So wie er auch bei den Gefangenen wohnt, bei den Verfolgten, bei den Prostituierten und Ausgeschlossenen.

Heiliger Boden der Gegenwart Gottes wird also leicht zu finden sein. Bahnhofsvorplätze, Fußgängerzonen, Trinkhallen, Gefängnisse, Krankenhäuser, Stadtteile, die von Migration geprägt sind, Suppenküchen, Tafeln, Arbeitsämter, Caritaseinrichtungen, Rotlichtviertel, Altenheime – heiliger Boden, wohin man nur schaut. An welchem Ort Gott denjenigen, der mit offenen Augen beten will, jedoch heute anspricht, ist nicht vorher zu sehen. Manchmal wird er oder sie von einem inneren Gespür geführt, manchmal „überfällt“ Gottes Ruf aber auch, wo er gerade nicht gesucht wird. Immer aber hat der Ort mit dem Betenden selbst zu tun. Immer gibt es eine Brücke zu den existentiellen Lebensthemen des Betenden. So wie bei Moses, der in der Wüste ist, weil er einen Ägypter erschlagen hat und dessen Aufgabe für sein Volk noch als unbeantwortete Frage in ihm gärt. Und wie in der Geschichte vom Dornbusch ist es auch bei allem Beten mit offenen Augen gut, damit zu rechnen, dass Gott sehr konkret wird: Geh, verkünde, rette, führe heraus!

Grundübung

Einführung

Machen Sie es sich „leicht“, wenn Sie Beten mit offenen Augen einüben wollen, und beten Sie die ersten Male immer in der wirklichen, räumlichen Nähe zu den Armen. Wie nahe, darüber entscheiden Ihr Gespür und ihr Mut. Und darüber entscheiden natürlich auch die Armen, denn es gibt auch ein „zu nahe treten“, einen unguten „Armutstourismus“ und „Elendsvoyeurismus“. Die Armen sind Menschen mit der gleichen Würde wie Sie selbst. Diese Würde wird oft genug mit Füßen getreten. Seien Sie also achtsam, so die Nähe zu suchen, dass die Würde der anderen gewahrt bleibt oder vermehrt wird.

Sie sind jetzt nicht bei den Armen, um zu helfen, zu verstehen oder zu trösten. Engagement, Solidarität und Freundschaft folgen sinnvoll dem Beten, aber jetzt sind Sie erst einmal dort, um Gott zu suchen.

Beten mit offenen Augen braucht deutlich mehr Zeit als Beten mit geschlossenen Augen oder Gebete sprechen. Rechnen Sie, schon gar bei den ersten Versuchen, als Grundeinheit wenigstens eine Stunde ein.

Ablauf

Wie jedes Beten hat auch Beten mit offenen Augen einen eindeutigen Beginn. Markieren Sie diesen Beginn, bevor sie auf die Suche nach ihrem Ort für das Beten gehen, z.B. mit einem Kreuzzeichen oder einer anderen Geste. Machen Sie sich noch einmal bewusst, dass Sie jetzt beten, auch wenn es von außen nicht so aussieht. Stellen Sie sich unter die Gegenwart Gottes, der in Ihnen ist und um Sie herum und in allen, die Ihnen begegnen werden.

Nehmen Sie sich nun Zeit, um zu formulieren, was Sie von Gott möchten, dass er es in Ihnen, mit Ihnen in der nun folgenden Gebetszeit bewirke. Um welche Qualität geht es, um welches Erleben? Versuchen Sie diesen Wunsch wirklich mit Worten auszusprechen, das zwingt dazu recht präzise zu sein. Hinweise für das Wünschen in Anlehnung an ein Kinderbuch („Sams…“) können Ihnen dabei helfen: „Du musst genauer wünschen!“ „Du musst vorsichtiger wünschen!“ „Du musst langsamer wünschen!“

Wenn Sie sich dann auf den Weg machen, versuchen Sie dadurch, wie Sie den Weg gestalten, schon aus dem Gewohnten herauszutreten. Gehen Sie deshalb langsam; nein, langsamer; noch langsamer. Auch wenn Sie schon wissen, wo Sie hinwollen, gehen Sie doch für diesmal nicht so zielstrebig und auf dem kürzesten Weg, wie Sie es sonst gewohnt sind. Und rechnen Sie damit, dass der Ort durch den Gott in Ihnen ein Echo seiner Gegenwart auslösen will, vielleicht auch schon früher auf dem Weg liegt und nicht erst dort ist, wo Sie hinwollen. Wenn Sie langsam sind und achtsam, werden Sie spüren, wann Sie bleiben sollen.

Wenn Sie an dem Ort angekommen sind, von dem Sie hoffen, dass er heute für Sie die Verheißung heiligen Bodens hat, so suchen Sie sich dort einen Platz, wo Sie längere Zeit bleiben können. Dieser Platz sollte Ihnen die Sicherheit bieten, die Sie brauchen, und so gewählt sein, dass die Würde des Ortes und der Menschen dort gewahrt ist. Bleiben Sie nun, wenn irgend möglich, wenigstens 45 Minuten am gleichen Platz. Stehen oder Sitzen unterstützt für die meisten Menschen eine betende innere Haltung mehr als Umhergehen.

Verweilen Sie nun bei dem, was Sie sehen, hören, riechen… in wacher, meditativer Aufmerksamkeit. Vielleicht braucht es ein vorsichtiges Unterscheiden: was ist hier wirklich (beschreibbar) und was möchte oder befürchte ich, dass es hier wäre oder geschehen soll. Bleiben Sie nach Möglichkeit nahe an dem, was ist. Sicher wird Ihre Phantasie Sie immer wieder wegtragen – wie es dem Menschen dort wohl geht, wieso er so ist und wie er wohl hierher gekommen ist und vieles mehr. Das geschieht einfach. In den allermeisten Fällen führt es jedoch nicht weiter. Wenn Sie sich dabei auffinden, ist es deshalb meistens am besten, sich ohne Aufhebens wieder aus der Phantasie zu lösen und wieder zu dem zurückzukehren, was hier jetzt zu sehen, zu hören, zu riechen … ist.

Achten Sie darauf, welches Echo der Ort und die Menschen dort jetzt in Ihnen auslösen. Das können Stimmungen sein, Gefühle, Gedanken, auch Impulse, etwas zu tun oder zu lassen. Und wieder gilt: wahrnehmen genügt! Bewerten in passend oder unpassend, in richtig oder falsch, führt weg, von dem was ist, in das, was wir gewohnt sind oder wie wir gerne wären oder nicht wären. Gott hat es aber leichter, uns mit der tatsächlichen Wirklichkeit zu umarmen, als mit unserem Bild von Wirklichkeit oder gar mit unserer Überlegung, welches Bild der Wirklichkeit für jetzt angemessen sein könnte.

Nach einer Zeit des Wahrnehmens können Sie versuchen eine Vorstellung „wie eine Brille“ hinzuzunehmen. Das was Sie sehen, hören, riechen … und das, was in Ihnen geschieht, ist Gottes Wirken, seine Wirklichkeit für Sie heute, Mittel seiner Offenbarung. Gott versucht sich Ihnen offenbar zu machen – wie und wo er ist, was und wer ihm wichtig ist, was er will.

Antworten Sie gegen Ende der vorgesehenen Zeit auf diesen Offenbarungsversuch, in dem Sie das innere betende Gespräch mit Gott suchen. Versuchen Sie vor Ihm und auf Ihn hin auszusprechen, was Sie bewegt. Vielleicht gibt es auch Grund, zu danken, zu loben, zu bitten, zu klagen. Sie können so mit Gott zu sprechen versuchen, wie Sie mit einem guten Freund oder mit ihrer besten Freundin sprechen würden. Das kann unsortiert sein, im Überschwang oder stammelnd, gerne auch im Dialekt, wenn Sie im Alltag Dialekt sprechen. Gott versteht Sie. Und er hört gerne von Ihnen.

Verabschieden Sie sich dann von Ihrem Platz und gehen Sie zu Ihrem Ausgangspunkt zurück. Den Weg können Sie nutzen, um ein wenig schon mal zu überlegen, was das eben war, was das bedeuten könnte und was daraus eigentlich folgen will. Wenn Sie angekommen sind, beenden Sie die Gebetszeit – vielleicht mit einem der Grundgebete, mit einem Segen oder einer Geste.

Ergänzungen zur Grundübung

Gespräch

Immer eine Hilfe ist es, wenn Sie relativ zeitnah mit anderen Menschen, die Ihnen wohl gesonnen sind und die eine gewisse Offenheit für eine solche experimentelle Spiritualität mitbringen, ins Gespräch kommen können: Sei es ein Freund oder eine Freundin, der Ehepartner oder die Ehepartnerin, ein/e Seelsorger/in oder Begleiter/in. Wichtig ist, dass diese Menschen bereit sind, unvoreingenommen zu hören, was Sie bewegt hat. Vielleicht können Sie helfen, dass Sie sich selbst ein wenig besser verstehen. Aber Sie brauchen keinen Rat, keine Belehrung, keine Lösung. Für sich selbst und das eigene Erleben, die eigenen Beziehungen und das eigene Beten ist jeder selbst am besten kompetent.

Ideal ist es, wenn Sie sich mit anderen Menschen verabredet haben, zeitgleich die Erfahrung zu suchen, mit offenen Augen zu beten. Wenn sie dann zusammentreffen, können sie in einen wirklichen Austausch kommen, im dem Erfahrungen geteilt, Gefühle mitgetragen und gemeinsam Deutungen gewagt werden können. Sie können sich dann gegenseitig auf dem Glaubensweg begleiten: ernst nehmen, stützen, fördern und herausfordern. Aber auch da gilt, dass alle selbst für sich sorgen können und kompetent sind für das eigene Leben und Beten. Niemand braucht eine Belehrung oder einen Rat. Erfahrungen sind Erfahrungen und wollen keine Bewertung. Seien Sie sehr skeptisch und äußerst vorsichtig, wenn Sie in sich das Bedürfnis verspüren, einer oder einem anderen aus der Gruppe zu helfen, Trost zuzusprechen oder Lösungsvorschläge zu machen.

Heilige Schrift

Vielleicht nicht gleich beim ersten Mal, wenn Sie mit offenen Augen zu beten versuchen, aber wenn Sie ein wenig Übung haben, kann es gut sein, im Verweilen an ihrem Platz eine weitere Aufmerksamkeit mitlaufen zu lassen. Fällt Ihnen ein Wort oder eine Geschichte aus der Bibel ein, drängt sich von irgendwo her ein (religiöses) Lied oder eine Formulierung z.B. aus eine Gebet in ihr Bewusstsein? Manchmal ist es auch so, dass sich plötzlich ein Zusammenhang zwischen Glauben und Leben erschließt, ein Aha-Erlebnis einstellt oder eine (Glaubens-) Deutung erschließt.

Die Bedeutung, um die sie ringen, der Bibelvers, den sie suchen, oder das Bild, das jetzt passen könnte, sind hier weniger vertrauenswürdig, als das, was sich spontan einstellt, obwohl es nicht gesucht wurde – woher auch immer, wie irritierend auch immer.

Unterscheiden

Wie bei jedem Beten, bei aller Meditation und auch beim Nachdenken schon, ist nicht alles, was sich beim Beten mit offenen Augen in mir einstellt auch zum Guten. Gerade, wenn die „Abwehrkräfte“ der Seele absichtlich ein wenig beiseite gestellt werden, um neue Erfahrungen zu ermöglichen, können auch Dinge, Bewegungen und Impulse aufsteigen oder in uns eindringen, die nicht rein von Gott sind. Ein sorgsames Unterscheiden der Geister ist unerlässlich.

Die Grundregel für das Unterscheiden ist für alle Weisen zu beten gleich. Die Unterscheidung setzt nicht bei der inneren Bewegung, beim Eindruck oder beim Gefühl an, sondern fragt zuerst nach dem Handlungs- oder Verhaltensimpuls, den die innere Bewegung in mir auslöst. Dieser Impuls wird dann darauf hin befragt, ob er mich eher zu einem Mehr an Glaube, Hoffnung und Liebe, zu einem Mehr an innerer Freiheit, Lebendigkeit und Glück, zu einem Mehr an Nähe zu Gott, den Menschen und mir selbst, führen will. Oder ob der Impuls in die Gegenrichtung geht, hin zu einem Verhalten, das mich in die Enge, in Unfreiheit, Überforderung, Überdruss, in Abkehr von mir, den Menschen und von Gott bringt. Angenommen und gefördert beziehungsweise abgewiesen und nach Möglichkeit neutralisiert werden dann auch die Impulse und die daraus folgenden Handlungen, nicht die Gefühle, Eindrücke und Bewegungen.

Zusätzlich zu der Frage nach der Zielrichtung einer Veränderung oder Entwicklung ist immer die Frage nach dem Anschluss an die Heilige Schrift, an Tradition, Sendung und Leben der Kirche hilfreich. Impulse, die sich nicht mit den Evangelien überein bringen lassen, für die es keine guten Beispiele im Leben der Kirche gibt, die im Kontext einer christlichen Ethik schwer zu vermitteln sind, die nur sehr undeutlich mit dem im Kontakt stehen, wie Sie Gott in Jesus Christus bisher erlebt haben, sollten in Ihnen erst einmal ein erhebliches Maß an Skepsis auslösen.

Bei Unterscheidungen von größerer Reichweite, die also erhebliche Veränderungen im eigenen Leben bedeuten könnten, ist es zudem erforderlich, gut die Rahmenbedingungen des eigenen Lebens mit einzubeziehen: „Habe ich die Fähigkeiten und Mittel dazu?“ „Passt das zu Verantwortungen und Bindungen, die ich (unwiderruflich) eingegangen bin?“ „Kann ich das auf lange Zeit hin verwirklichen?“ Es gibt den Ruf in die radikale Umkehr. Meist aber schließen sich Veränderungen zum Besseren hin nahe an die bisherigen Optionen und den bisherigen Lebensentwurf an.

Dem Beten mit offenen Augen ist es sehr angemessen, beim Unterscheiden nicht nur die möglichen Auswirkungen auf Sie selbst und Ihr persönliches Umfeld im Blick zu haben, sondern auch die Auswirkungen auf die Menschen, bei denen Sie gerade waren, und die (gesellschaftlichen) Verhältnisse, mit denen Sie konfrontiert wurden. Die Wahrscheinlichkeit, es mit Gottes Wirken und Wollen zu tun zu haben, steigt, wenn es gute Gründe gibt anzunehmen, dass für alle Beteiligten und Betroffenen und vielleicht sogar für die Strukturen, die zur aktuellen Situation geführt haben, eine Entwicklung zum Besseren hin, zu einem Mehr an Glaube, Hoffnung, Liebe, Lebendigkeit… auf den Weg kommen wird.

Der Zeitpunkt für das Unterscheiden kann während der Gebetszeit selbst sein, in der Zeit der nachgehenden persönlichen Reflexion oder im Gespräch. Die beste Hilfe ist eindeutig das einfühlende, mitgehende Zuhören eines/r Gesprächspartners/in oder einer Gruppe. Von außen gesehen, liegen die Impulse und Entwicklungslinien oft viel leichter auf der Hand als aus der persönlichen Binnenperspektive. Wann immer sich also zeigt, dass eine Unterscheidung dran sein könnte, ist es dringend zu empfehlen, das Gespräch zu suchen. Bei Entscheidungen größerer Reichweite legt sich der Kontakt mit einem/r speziell geschulten Geistlichen Begleiter/in nahe.

Längere Entwicklungen

Wenn Sie öfter oder gar regelmäßig mit offenen Augen beten, ist es sinnvoll sich in bestimmten Abständen Zeit einzuräumen, um Veränderungen und Entwicklungen in den Blick zu nehmen. Es ist dies eher eine Zeit der Reflexion als des ausdrücklichen Gebetes und von einem bestimmten Ort unabhängig. Sie benötigen dafür etwa fünfzehn Minuten.

Hilfreiche Fragen können sein:

Fällt auf, dass manche Themen, Fragen, Probleme Sie immer wieder erreichen, manche innere Bewegung und Antworten immer wieder in ihnen entstehen?

Zeigt sich etwas wie eine Entwicklung – und in welche Richtung scheint sie zu weisen? Gibt es gute Gründe anzunehmen, dass es sich um eine Dynamik vom Guten zum Besseren handelt?

In welcher Weise könnte Gottes Stimme für Sie in diesen wiederkehrenden Themen, Bewegungen und Impulsen, in dieser inneren Dynamik für sie verborgen gegenwärtig sein?

Variante I: An Orten der Geschichte beten

Der Ablauf entspricht der Grundübung. Allerdings werden nun andere Orte genutzt. Dabei gibt es zwei verschiedene Möglichkeiten.

Mit der eigenen Geschichte

Wenn Sie eine persönliche Geschichte mit der Stadt haben, ist die eine Möglichkeit, Orte aufzusuchen, die mit ihrer Biographie, mit Ihrer Familie, mit Freunden in Verbindung stehen. Oft verdichten sich an diesen Orten die Erinnerungen – das Elternhaus z.B. ist nicht nur ein Gebäude, es ist ein emotionaler Ort, an den ganze Bündel von Erinnerungen anknüpfen. Der Platz, an dem Sie Ihre/n Partner/in kennen gelernt haben, ist vielleicht nur eine Straßenecke, aber für Sie doch ganz besonders. Der Ort, an dem ein Freund gestorben ist, ruft die Erinnerung an ihn wieder wach…

Geben Sie an einem solchen Ort Ihren Erinnerungen Raum. Wichtig ist, dass Sie versuchen, sowohl angenehme als auch unangenehme Erinnerungen zuzulassen. Und fragen Sie immer wieder nach dem heiligem Boden der Gottesgegenwart und Offenbarung: Wie, wann war für mich an diesem Ort davon etwas zu erahnen? Wie ist dieser Ort jetzt für mich heiliger Boden?

Gehen Sie nun in der gleichen Weise wie in der Grundübung weiter. Achten Sie darauf, welches Echo der Ort und die Erinnerungen dort jetzt in Ihnen auslösen. Und versuchen Sie die Brille des Glaubens zu nutzen: Gott versucht sich Ihnen durch den Ort, durch die Erinnerungen und durch die inneren Bewegungen offenbar zu machen – wie und wo er ist, was und wer ihm wichtig ist, was er will. Die vorgeschlagenen Ergänzungen der Übung sind auch in dieser Variante hilfreich.

Mit der großen Geschichte

Die zweite Möglichkeit ist es, an Orten der „großen“ Geschichte zu beten. Dazu braucht es natürlich eine gewisse Kenntnis dessen, wie die Geschichte in die Orte der Stadt verwoben ist. Viele Städte geben sich jedoch große Mühe, historisch bedeutsame Plätze auszuweisen und auch ein wenig in die Hintergründe einzuführen. Bevorzugen Sie bei der Auswahl ihres Platzes Orte, die mit der Erinnerung an die Opfer der Geschichte verbunden sind. Mahnmale für gefallene Soldaten können solche Orte sein, Erinnerungsplaketten an die im 3.Reich zerstörte Synagoge, die Straße, wo früher das Ghetto der Leprakranken war (häufig: „Gutleutstraße“), oder… Fragen Sie auch bei anderen Zeugnissen der Geschichte gezielt nach den Opfern: Wie viele Menschen starben wohl für den Bau eines Schlosses? Unter welchen Bedingungen für die Handwerker und Arbeiter wurde eine Kirche gebaut? Wie waren wohl Zwangsarbeiter der Nazizeit an dem Erfolg einer Firma beteiligt? Welche Gewalt und welcher Raub legte wohl die Grundlage für ein Völkerkundemuseum?

Variante II: Im persönlichen Nahbereich beten

Der Ablauf ist wiederum der gleiche wie in der Grundübung. Achten Sie aber besonders sorgfältig darauf, aus den normalen Abläufen, aus dem gewohnten Tempo, aus der vertrauten Sichtweise herauszutreten. Am eigenen Schreibtisch mit offenen Augen zu beten, kann für das Verweilen im Gebet durchaus eine größere Herausforderung sein als die belebte Fußgängerzone. Hinzu kommt, dass die Menschen, denen Sie nun begegnen, mit Ihnen vertraut und nur begrenzt bereit sind, wahrzunehmen und zu akzeptieren, dass Sie für eine begrenzte Zeit anders da sind.

Sinnvolle Orte sind Ihre eigene Wohnung und das direkte Wohnumfeld, Ihr Arbeitsplatz bzw. das Gelände und die Gebäude der Firma oder Institution, bei der Sie tätig sind, Orte Ihres ehrenamtlichen Engagements, die Gebäude Ihrer Pfarrgemeinde, möglicherweise auch Sportanlagen, die Schule Ihrer Kinder oder die Geschäfte, in denen Sie den Grundbedarf für Ihr Leben einkaufen.

Fragen Sie wieder nach den Armen an diesen Orten ihres Nahbereichs, nach Armut und Opfern. Welche Opfer werden von wem eigentlich für das Familienleben gebracht? Wo sind die Armen in der Schule meiner Kinder? Wo finden sich Formen von Armut in meiner Nachbarschaft? Welche Opfer verlangt ihr Arbeitgeber und wer sind in der Firma die Armen? Manche Antwort erschließt sich sicher nur durch Erinnerung und Nachdenken. Achten Sie aber darauf gerade im eigenen Nahbereich die „offenen Augen“ zu nutzen: zu sehen, zu hören, zu riechen, zu tasten… Möglicherweise werden Ihnen einige Überraschungen begegnen, wenn Sie langsam, achtsam und betend in ihrem Lebensumfeld verweilen.

Die Wahrscheinlichkeit, dass Gott Ihnen heiligen Boden seiner Gegenwart und Offenbarung bereitet, wächst übrigens, je näher Sie an Ihr eigenes Lebensumfeld herangehen. Gott umarmt Sie mit Ihrer Wirklichkeit. Je relevanter ein Ort oder ein Mensch für ihr Leben sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass Gott hier für Sie gegenwärtig sein will und Ihnen seine Sicht auf Ihr Leben anbietet. Wenn Sie es von der größten Verdichtung her angehen wollen: Theologisch gesprochen sind Ehepartner füreinander die privilegierte Weise der Christusgegenwart und jede Familie von Christen eine Hauskirche. Gewöhnung an die Orte und die Vertrautheit mit den Menschen machen es jedoch nicht immer leicht, die Brille des Glaubens zu nutzen. Rufen Sie sich deshalb immer wieder die Grundfrage ins Bewusstsein: Das was Sie sehen, hören, riechen … und das, was in Ihnen geschieht, wie ist das Gottes Wirken, seine Wirklichkeit für Sie heute, Mittel seiner Offenbarung? Gott versucht sich Ihnen offenbar zu machen – wie und wo er ist, was und wer ihm wichtig ist, was er will.

Variante III: In der Natur beten

Es gibt wahrscheinlich niemanden, dem Gottesdienst wichtig ist, den nicht schon einmal ein anderer Zeitgenosse mit der Aussage genervt hat, dass er/sie Gott besser im Wald finden könne. Meist ist das eine Ausflucht, um nicht weiter Position beziehen zu müssen. Gleichzeitig sagt dieser Satz auch etwas Richtiges. Die Natur, die ganze Schöpfung, ist das älteste Testament Gottes, seine erste frohe Botschaft, die Grundlage und der Ort des Lebens, zu dem er uns beruft. Die Schöpfung, so das Alte Testament, ist durch das Wort Gottes geworden. Sie ist Ergebnis seines Wollens, Wirklichkeit seines Hoffens, Gegenüber seiner Liebe. Die Schöpfung, ergänzt das Neue Testament, ist in Christus und auf ihn hin geschaffen. Indem er Mensch wurde, wurde er selbst Teil der Schöpfung. In der Erlösung öffnet er die ganze Schöpfung auf die letzte Vollendung hin.

An einem schönen Ort

Nichts hat in den letzten Jahrtausenden den Menschen mehr über sich selbst hinausgehoben, nichts ihn mehr zu Lob und Dank bewegt als die Schönheit der Natur. Faszination und Staunen können auch der erste Zugang sein, um zu lernen, mit offenen Augen in der Natur zu beten. Suchen Sie deshalb zuerst einmal einen schönen Ort auf, einen Platz, der Ihnen das Herz aufgehen lässt. Seien Sie langsam dort, um den Ort nach innen zu holen, dass er Bedeutung gewinnt und zu erzählen beginnt von den Wundern des Lebens und der liebevollen Zuwendung Gottes zu Großem und Kleinem.

Versuchen Sie dabei in einer betenden inneren Haltung zu bleiben. Dazu gehören auch die Aufmerksamkeit und das Bemühen bei der Wirklichkeit zu bleiben. Gott umarmt durch die Wirklichkeit, er spricht durch das, was in uns und um uns ist. Sicher kann er auch unsere Phantasie nutzen, um sich findbar zu machen. Eine übersteigerte Naturromantik, die die sonst vermisste Harmonie in die Natur projiziert, kann jedoch eine ernste Ablenkung und Störung des Betens mit offenen Augen sein. Gerade sehr schöne Orte der Natur können uns innerlich die Augen schließen. Bleiben sie also mit offenen Augen im Gebet.

Nehmen Sie dann einen weiteren Aspekt hinzu. An jedem Ort der Natur sind auch Endlichkeit und Vergehen, sind Störungen der Harmonie, Bedrohung und Zerstörung gegenwärtig. Achten sie nun eine Weile mit besonderer Aufmerksamkeit auf solche Anzeichen. Das was Sie sehen, hören, riechen … und das, was dadurch in Ihnen geschieht, ist Gottes Wirken, seine Wirklichkeit für Sie heute, Mittel seiner Offenbarung. Gott versucht sich Ihnen offenbar zu machen – im Schönen und Heilen der Natur und in Gefährdung und Vergänglichkeit.

Wenn Sie auf diese Weise die Wahrnehmung ein wenig ausbalanciert haben, ist es gut, nun ausdrücklich nach „Heiligem Boden“ zu fragen. Wo und wie will sich Gott Ihnen mitteilen? Und welche Antwort erwartet er wohl von Ihnen? An dieser Stelle werden auch die Ergänzungen zur Grundübung sinngemäß relevant: das nachfolgende Gespräch, das Hinhören auf die Heilige Schrift und das Unterscheiden, denn nicht jede Regung in uns ist einfach schon ein Wirken des Heiligen Geistes.

An Orten zerschundener Natur

Wenn Sie wieder einmal mit offenen Augen in der Natur beten wollen, können Sie dann so vorgehen, wie in der Grundübung auch: Suchen sie nicht einen besonderen, ausgewählten Ort auf, sondern lassen sich unterwegs „anhalten“, ansprechen von einem Ort, der heute Heiliger Boden für Sie werden will.

Eine weitere Annäherung kann es sein, den Impuls der Grundübung, die Nähe zu den Armen zu suchen, auch auf die Natur zu übertragen. Auch in der Natur gibt es „Arme“: Orte der Gefährdung, der Ausbeutung, der Zerstörung. Wie an den Orten der Geschichte können Sie Ihr Wissen um die meist von Menschen gemachte Bedrohung hinzunehmen. Es gibt auch in Ihrem Umfeld Orte zerschundener Natur – und auch da, und vielleicht gerade da, ist Gott und will sich finden lassen.

Natur und Kultur

Zur Schöpfung gehört jedoch nicht nur die Natur. Reine Natur gibt es in unserem Land soundso fast gar nicht. Zur Schöpfung gehört auch das, was der Mensch aus der Natur und ihren Produkten geschaffen hat. Sie können also menschliche Schöpfungen mit einbeziehen, wenn Sie mit offenen Augen beten: Die Mischung von Natur, Kultur und Technik; ihr Verwoben- und Aufeinander-angewiesen-sein; ihre wechselseitige Störung und Zerstörung. Fragen Sie wiederum ausdrücklich nach den Armen und den Opfern – in der Natur und in der Sphäre des Menschen. Gott offenbart sich durch diese Wirklichkeit.

Vergessen Sie auch beim Beten mit offenen Augen in der Natur nicht, mit einem ausdrücklichen Gespräch mit Gott, wie ein Freund mit einem guten Freund, eventuell einem formulierten Gebet und einem bewussten Abschluss das Beten zu beenden.

Sonderfälle

Angesprochen werden

Bei allem Beten mit offenen Augen sind wir für unsere Mitmenschen nicht eindeutig tabu. Geschlossene Augen, ein Kirchenraum… schaffen einen Schutzraum, in den in aller Regel niemand eindringt. Mit offenen Augen, im eigenen Nahbereich, mitten in der Stadt aber auch draußen in der Natur, gibt es diesen Schutzraum nicht.

Die Erfahrung während Exerzitien auf der Straße ist sogar, dass Personen, die noch nie auf der Straße angesprochen wurden, während der Exerzitien von völlig fremden Menschen ins Gespräch gezogen werden. Die höhere Achtsamkeit, die bewusste Langsamkeit und die gesuchte Nähe zu den Armen, scheinen in besonderer Weise zu disponieren und anderen Menschen das Gefühl zu geben, für sie erreichbar zu sein.

Was auf den ersten Blick wie eine Störung und Belastung wirkt, ist in der Erfahrung derer, die sich auf das Wagnis eingelassen haben, oft die entscheidende Hilfe, der weiterführende Fingerzeig geworden. Gott wirkt nicht nur durch die Bewegungen in uns, durch das Geschehen um uns, sondern auch und vor allem durch die Beziehungen zu uns. Gerade bei den Kleinen, Ausgegrenzten und Armen ist damit zu rechnen, dass sie, ohne es zu wissen, zu Trägern und Boten des Evangeliums, der guten Nachricht für mich heute, werden – ganz im Sinne des mahnenden Wortes Jesu: „Amen, das sage ich euch: Zöllner und Dirnen gelangen eher in das Reich Gottes als ihr.“ (Mt 21,31)

Konkret heißt das, dass es oft für das Beten hilfreich sein kann, sich dem Gespräch, das ich nicht gesucht habe, das mir aber angetragen wird, zu öffnen. Meist wird es sich um Menschen handeln, die sich in einer inneren oder äußeren Not an denjenigen wenden, der mit offenen Augen zu beten sucht. Manchmal stehen vielleicht Mittel zur Verfügung, um eine Not praktisch zu lindern. In vielen Fällen wird dies jedoch nicht möglich, oft auch gar nicht die sinnvolle Aufgabe des Betenden sein. Immer aber, kann eine Christin der anderen, ein Mensch dem anderen, Respekt, Zuwendung, Ansehen, Mitgefühl, Zeit und Würde schenken. Und auf diese Weise geschieht vielleicht unter der Hand etwas von dem, was der/die mit offenen Augen Betende sucht: die Gegenwart Christi mitten im Leben, in säkularen Begebenheiten, an scheinbar widrigem Ort.

Weil aber eine Begegnung, gerade die Begegnung mit einem armen Bruder oder einer ausgegrenzten Schwester, unsere ganze Aufmerksamkeit verdient, ist es hilfreich, wenn das Gespräch nicht die ganze Zeit, die für das Beten mit offenen Augen zur Verfügung steht, ausfüllt. Oft ist es erst eine Zeit der Achtsamkeit im Anschluss an das Gespräch, die die ganze Tiefe und Schönheit der Begegnung, ihre Bedeutung weit über das Gesagte hinaus, ihre Qualität als gelebtes Evangelium aufleuchten lässt. Der andere Mensch ist um seiner selbst willen wertvoll und nicht Mittel für meine „Erbauung“. Und doch ist in jeder Begegnung ein überschießender Mehrwert – ist doch Gott zu jedem Moment der Zeit, an jedem Ort der Welt, durch jeden Menschen da und am Werk.

Wiederum ist die Christusgegenwart im anderen am meisten verdichtet dort, wo die Begegnung am aller selbstverständlichsten ist: in der Person des/der Ehepartners/in. Die Beziehung zum/r Ehepartner/in – in Begegnung, körperlicher Nähe, Gespräch und gemeinsamem Tun, auch in Enttäuschung, Streit und gegenseitiger Verletzung, ist immer wieder die betende Frage nach dem lebenden Evangelium wert, auch dann wenn, der/die andere mich nicht gerade beim Beten „unterbricht“. Schließlich leben Eheleute gemeinsam das Sakrament, das wirkmächtige Zeichen, der Liebe Gottes in dieser Welt. In 99% der Zeit geschieht dieses Zeichen jedoch im scheinbar nur Normalen, Säkularen, Lebenspraktischen und wird erst sichtbar, greifbar und ergreifend, wenn dem überschießenden Mehrwert der Gegenwart Christi nachgespürt wird.

Andere um Hilfe ansprechen

Der wesentlich seltenere Fall ist es, mit Blick auf Beten mit offenen Augen, spezifische Gespräche mit Fremden oder mit Vertrauten selbst zu provozieren. Diese Vorgehensweise bringt sehr rasch heftige Reaktionen an die Oberfläche und eignet sich deshalb eigentlich nur dann, wenn eine qualifizierte, zeitnahe Geistliche Begleitung oder Exerzitienbegleitung besteht. Dann aber kann es sehr hilfreich sein, um innere Widerstände, Schwellen und Blockaden zu überschreiten. Die Frage lautet dann in etwa so: „Ich suche Gott, können Sie mir helfen?“

In der Regel wird diese Frage, an „Nicht-Fachleute“ mitten in eine Alltagssituation hinein gestellt, deutliche Irritationen auslösen. Die Palette der Antworten reicht dann auch von heftiger Abwehr, über reichlich Versponnenes, bis zu wahren Goldkörnern und tiefen Glaubenszeugnissen. Anschließend braucht es unbedingt eine Zeit des betenden Nachspürens und rasch auch eine Möglichkeit, in einem geistlichen Begleitgespräch die Antworten und die eigenen Reaktionen abzuwägen.

Beten und Handeln

Beten mit offenen Augen ruft oft schnell und direkt in die Aktion. Was gesehen und was gebetet wird, will Antwort, will Engagement, verändert das Leben. Kaum eine andere Weise zu beten, stellt so rasch vor die Entscheidung, stellt so rasch in den Ruf zur Umkehr und auf den Weg der praktischen Nachfolge Jesu – für heute und in unserer Welt.

Das ist gut so und Sinn und Zweck der Übung. Und doch lauert dort auch eine Gefahr. Mitgefühl kann in Sozialromantik umschlagen, die Herausforderung zu einer neuen Praxis kann kippen in die Überforderung, immer helfen zu müssen, nicht jede Not soll von mir gelindert, nicht jeder Weg von mir beschritten werden. Und die Erlösung der Welt hängt auch nicht an uns. Sorgfältige Unterscheidung der Geister – im Idealfall gemeinsam mit anderen erfahrenen Betern/innen und/oder einer/m Begleiter/in – ist hier die entscheidende Hilfe. Gerade die Versuchungen unter dem Anschein des Guten, des Frommen und der Nächstenliebe sind alleine schwer zu durchschauen.

Mit dieser Vorsicht im Gepäck dürfen und sollen sich Beten und Leben weiten und wandeln. Paul M. Zulehner sieht in seinem Buch: „Ein neues Pfingsten“ (Schwabenverlag 2008,S. 77f) drei Erweiterungen einer Spiritualität der offenen Augen: eine Spiritualität des wachen Verstandes, die die Ursachen des Elends analysiert und politisch aktiv wird, eine Spiritualität des mitfühlenden Herzens, der compassion, und eine Spiritualität der engagierten Hände, „die sich in Projekten und Einrichtungen für die Armgemachten der Welt einsetzt“ (a.a.O.,78).

Oder wie Ignatius von Loyola im Exerzitienbuch formuliert: „Die Liebe muss mehr in die Werke gelegt werden als in die Worte.“ (EB 230)

Mit offenen Augen beten
Deutscher Katecheten-Verein e.V. München 2009, 40 Seiten 2,95 €
ISBN-13 978-3-88207-385-0

„Mit offenen Augen beten“ ergänzt das Beten mit geschlossenen Augen. Zum Beten in der Gegenwart Gottes in uns tritt das Beten in der Gegenwart Gottes in der Wirklichkeit um uns hinzu. Das Außen wird dabei in die gleiche meditative Achtsamkeit einbezogen, die sonst die inneren Prozesse begleitet. Wer mit offenen Augen zu beten sucht, begibt sich nicht in den geschützten Raum einer Kirche, sondern dahin, wo ihm Bedeutsames mitten in der Öffentlichkeit begegnen kann: in die Fußgängerzone einer Stadt, an den Bahnhof, zu einem Krankenhaus…. Oft wird er ausdrücklich die Nähe zu den Armen suchen, in der Gewissheit, bei ihnen niemals weit von Christus entfernt zu sein.

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