Kirsten Dietrich
Gespräch mit Christian Herwartz
Kirsten Dietrich: Weihnachten, das ist die Zeit der Fülle und des Überflusses. Was in den letzten Wochen in den Geschäften funkelte, liegt jetzt, gut verpackt, unter dem Weihnachtsbaum. Oder eben auch nicht, denn in der Bundesrepublik wächst die Armut, die tatsächliche oder auch nur die gespürte, und das kann auch nicht spurlos an Weihnachten vorbei gehen. Denn Überfluss, Behaglichkeit, ein gutes Gefühl, Spiritualität, das scheint an Weihnachten irgendwie Hand in Hand zu gehen.
Bei mir ist jemand zu Gast, der es gewohnt ist, Wärme und Spiritualität, oder vielleicht auch schlicht „Gott“, an den Plätzen zu finden an denen man solches normalerweise nicht vermutet. Christian Herwartz, Jesuit, Priester, gelernter Dreher, hat lange bei Siemens gearbeitet und er lebt seit 25 Jahren in einer Kommunität in Kreuzberg – man könnte vielleicht salopp sagen: in einer Wohngemeinschaft mit besonderem Anspruch.
Herr Herwartz, wie feiert man denn Weihnachten in einer Wohngemeinschaft die sich ganz bewusst denen zuwendet die eher am Rand der Gesellschaft stehen?
Christian Herwartz: In dem man nicht weiss wie es geht. Weihnachten weiß ich nie wie ich es feiern soll. Das muss man dann sehen, wenn es dran ist, denn diese gesellschaftliche Situation die schon in dem Vorspann angesprochen wurde, die verhindert ja oft zu merken, was Weihnachten überhaupt ist.
D.: Was heisst das konkret dieses Jahr? Sie kaufen gar nichts ein, Sie kaufen kein Geschenk, es gibt keinen Weihnachtsbaum?
C.H.: Nein, einen Weihnachtsbaum haben wir nur einmal gehabt, als eine Flüchtlingsfamilie bei uns gewohnt hat. Ich wohne mit Muslimen zusammen und mit Christen, mit Nichtchristen, da ist das eher störend. Wichtiger ist, dass wir uns in die Augen gucken, dass wir was zusammen essen, dass wir dahin gehen wo die Not ist. Das muss nicht unbedingt bei uns zuhause sein.
D.: Ist denn Weihnachten für Sie ein Fest,wo Sie mit bescheidenen Mitteln so etwas wie Fülle bekommen oder eher eine Zeit in der man sich bewusst abgrenzt von all dem Überfluss, der genau zu diesem Fest entfesselt wird?
C.H.: Ich weiss vielleicht eher was es nicht ist, nämlich es ist kein Fest der verschlossenen Türen. Es sind nicht die Herbergen in denen Joseph und Maria abgelehnt und in den Stall geschickt worden sind, als sie schwanger nach Nazareth kamen. Die Herberge macht die Tür zu. Und vielfach empfinde ich das Feiern von Weihnachten, wie das Leben in der Herberge die keinen Platz hat, keinen Platz hat für Überraschungen. Und Gott kann, denke ich, in unserer Mitte nur in Störung bemerkt werden. Und wenn ich mich Weihnachten nicht auf eine Störung einlassen kann, dann weiss ich gar nicht wie ich Weihnachten feiern soll.
D.: Das heisst, bei Ihnen kann Weihnachten jeder vorbei kommen?
C.H.: Na ja, wir sind keine Institution die irgendwie eine Tür aufmacht, wir sind eine normale Wohnung. Aber klar kommt da jemand den ich nicht erwartet habe, und dann kann Weihnachten anfangen.
D.: Was war so der überraschenste Weihnachtsbesuch an den Sie sich erinnern?
C.H.: Letztes Jahr ist mir nachmittags eingefallen, dass ja zwei Tage jemand nicht gekommen ist der häufig kommt und dann kam mir die Idee: Der könnte krank sein!? Und dann habe ich ihn gesucht, und er war krank. Ich habe gesagt: „Du, es ist ein Essen gekocht, willst du nicht mitkommen?“ Und er ist aufgestanden und ist mitgekommen. Und auf dem Weg ist was ganz entscheidendes passiert. Er hat mir gesagt, dass er fünfzig wird und darunter leidet, dass er diesen Geburtstag nicht feiern kann, weil er kein Geld hat. Und dann habe ich gesagt: „Du, wann ist der denn? Dann komm doch einfach zum Frühstück und lade deine Gäste ein. Und es war einer, der eigentlich überall rausgeschmissen wird. Und es sind 50 Leute zum Frühstück gekommen, zu seinem fünfzigsten Geburtstag. Also ich denke, dafür offen zu sein und zu merken wie wirklich Menschwerdung passiert. Das ist kein abstrakte Begriff, der nur in den Kirchen gesagt wird, sondern wir dürfen diese Menschwerdung erleben. Meine Frage an Sie: Was bedeutet für Sie Menschwerdung?
D.: Was bedeutet für Sie Menschwerdung?
C.H.: Es gibt die Ebene, dass man einander beisteht, dass man was tut, aber das ist für mich eigentlich die letzte Ebene, eine Konsequenz. Menschwerdung entsteht bei mir, wenn ich staunen kann, was passiert, dass ich das Geschenk annehme, dass ich was sehe, z.B. ein kleines Kind oder wie Menschen etwas machen was mich in Staunen versetzt. Aber darunter liegt für mich die Ebene, in das Nichtwissen zu treten, möchte ich mit den Buddisten sagen. Also in etwas zu treten, was ich nicht weiss, wo ich neugierig werde. Wo ich irgendwie nicht der Wissende bin, und in ein Gegenüber treten was größer ist als ich. Letztlich ist es ja Gott, dem ich gegenübertrete, den ich nicht mit meinem Denken einkreisen kann, und in dieses Gegenüber eines Menschen, ja eines Neuen zu treten, da ist doch Menschwerdung, da werde ich Mensch.
D.: In der Begegnung mit dem, was sich vorher nicht planen lässt?
C.H.: Genau, was sich nicht planen lässt. Und wir machen Übungen und auch Kurse einige Male im Jahr, womit wir in dieses Sehen gehen und wir nennen das dann: „Die Schuhe ausziehen.“ Also, die Schuhe, wo wir geschützt sind vor der Umgebung, wo wir uns abheben. Dass wir diese Schuhe einfach mal ausziehen und dann sieht plötzlich die Welt ganz anders aus.
D.: Solche Begegnungen zu suchen, solches Unplanbare zu suchen, das findet ganz konkreten Ausdruck in einer Veranstaltung die sich nennt: „Exerzitien auf der Strasse“. Also, die Begegnung mit Glauben gerade nicht irgendwo im vollklimatisierten Büro, auch nicht irgendwo in der Kirche, sondern irgendwo an der Strasse. Was verbirgt sich dahinter, was ist das für eine Veranstaltung?
C.H.: Dazu haben wir eine Geschichte aus der jüdischen Bibel. Mose, das war ein Hirt der in der Wüste die Schafe hütete, er hat mitten in seinem Arbeitsfeld etwas gesehen was ihn erstaunt hat. Und er beschreibt das so, dass da ein Dornbusch brannte und nicht verbrannte. Jetzt, so mit Abstand, können wir sagen, das ist Liebe. Liebe brennt, aber verbrennt nicht. Und er geht zu diesem Dornbusch hin, wird neugierig, und dann wird ihm gesagt: Ziehe deine Schuhe aus. Fühl den Boden auf dem du stehst, denn dort will jemand mit dir sprechen. Und das genau ist der Rat: Geht durch die Strassen und guckt mal wo es euer Herz bewegt und ihr stehenbleiben solltet.
D.: Es gibt da keine weiteren Beschreibungen, keine Hilfeleistungen?
C.H.: Nein, es gibt viele Geschichten. Der eine ist ins Krankenhaus gegangen, in die Frauenklinik, und hat vor dem Fenster mit den Babys plötzlich angefangen zu weinen. Im Nachhinein, wenn man dann zwei oder drei Mal hingeht merkt man: Das war die Erinnerung an die Totgeburt vor 18 Jahren, die verdrängt worden war und jetzt heil werden sollte. Und er ist geheilt worden, von diesem Trauma in sich, um welches er immer einen Bogen gemacht hat. Und so hat jeder eine andere Geschichte. Der eine findet sie unter Drogenabhängigen, der andere in der Mosche, der andere in der Suppenküche, wo er ansteht, nicht als Helfer, sondern in der Reihe derer die um Essen bitten.
D.: Es geht also nicht darum Gutes zu tun und dadurch ein besserer Mensch zu werden?
C.H.: Genau! Das halte ich für eine totale Verdrehung von Glauben. Gutes tun ist noch nicht Glauben. Gutes tun, mag sein dass es eine Konsequenz ist aus dem Glauben, aus dieser Menschwerdung, aus diesem ins Nichtwissen treten, ins Staunen. Aber das ist noch nicht das, was uns zum Menschen macht, Gutes zu tun, das ist Aktion. Die ist wichtig für den Menschen, das ist gut so, aber das ist nicht der Kern der Menschwerdung.
D.: Und wie verhindert man dann, dass so ein Glauben der dann entsteht, dass der nur noch um die eigene Person kreist und sowas sehr selbstbezogenes wird?
C.H.: Mir kommt es so vor, dass man das eigentlich gar nicht machen muss, aber dass man die Tür offen läßt, dass man die Schuhe auszieht. Und jeder hat ein anderes Bild, wo er die Überraschung die im Leben da ist auch wirklich wahrnimmt. Und dazu muss ich mich auf den Weg machen und so von innen her spüren: Wohin denn? Und da sind diese Orte wohin ich gehe eine große Hilfe, einfach an die Orte zu gehen von denen mir vielleicht gar nicht bewusst ist, dass sie eine Hilfestellung in meinem Leben sind. Also, zum Beispiel, sich unter Obdachlose zu setzen und zu merken welche Angst ich vielleicht vor Obdachlosigkeit habe, wie mich das blockiert und wie viele Entscheidungen die ich treffe, aus der Angst obdachlos zu werden, und ich dann langsam, durch das Loslassen dieser Angst, eben auch besser hören kann wie mir Gott, durch Menschen die obdachlos sind, begegnen will. Denn das ist ja völlig klar, das hat Jesus uns auch deutlich gesagt: „Ihr habt mir zu essen gegeben, zu trinken gegeben. Ihr habt mir Obdach gegeben. Ihr habt mich besucht als ich krank war, oder im Gefängnis. Diese Anwesenheit Jesu oder Gottes unter uns ist möglich, nur müssen wir uns auf den Weg machen. Wir müssen fragen: „Wo wartest du denn auf mich?“
D.: Wie reagieren denn die die da besucht werden? Fühlen die sich nicht ausgebeutet für irgendwelche Selbsterfahrungstrips von Menschen, denen es eigentlich viel besser geht als ihnen und die ja nach der Woche wieder zurück in ihre gesicherte Existenz gehen?
C.H.: Es machen auch Obdachlose diese Exerzitien. Das ist nicht begrenzt auf Menschen die gesicherte materielle Verhältnisse haben, aber es wird damit ganz offen umgegangen. Die wissen ja oft nicht, wo sie hingehen sollen und dann fragen sie einfach einen Obdachlosen oder jemand anderen: „Du, wo soll ich hingehen, ich suche Gott?“ Und diese Gespräche sind faszinierend. Sie drängen sich nicht auf, aber wenn ein Obdachloser fragt: „Was willst du denn hier?“ „Ich suche Gott!“ Und wenn man dann die Antwort bekommt: „Wenn ich in dein Gesicht gucke, dann sehe ich ihn“ oder „Ich würde mal vor die Drogenberatungsstelle gehen. Ich glaube, da findest du ihn!“ So lassen sich die Menschen weiterführen, durch innere Impulse, aber auch durch äussere, an Orte zu gehen und später zu erzählen, was sie dort erlebt haben.
D.: Gibt es sowas wie eine besonderer Spiritualität der Armut?
C.H.: Ich denke im Evangelium wird gesagt: „Selig die Armen“ und damit ist, für mich wenigstens, gemeint: Selig die vor Gott nicht so tun, als ob sie großartig sind, die sie loslassen können, alle diese Rollen, in denen wir hängen, vor Gott keine Rolle zu spielen, sondern eben arm zu sein. Da ist nicht nur eine materielle Armut gemeint, auch die kann uns natürlich Barrieren machen, aber auch die vielen anderen Dinge, wo wir glauben besser zu sein als der andere. Das zählt alles vor dem Leben, vor dem menschgewordenen Gott, nicht. Und wer sich ein Stückchen auf diesem Weg macht, wer sich auf diesen Weg des Loslassens, der Armut begibt, der wird beschenkt. Das ist meine Erfahrung durch mein ganzes Leben.
D.: Warum gehen dann trotzdem so wenige offizielle Kirchenvertreter, so wenige Pfarrer und Priester wirklich aus ihren Kirchen raus und gehen in die Lebens- und Arbeitswelt der einzelnen Menschen?
C.H.: Das ist eine schwierige Frage, das ist in anderen Ländern anders. Da ist halt auch unsere Kirche mit diesem Reichtum, mit der Kirchensteuer usw., das ist ein blinder Fleck der Deutschen. In der Weltkirche ist das schon anders, aber auch in der Gemeinschaft, in der ich lebe, gehen viele raus. Vielleicht nicht in die manuelle Arbeit, aber sie gehen raus und arbeiten an verschiedenen Orten in der Gesellschaft, an Schulen, unter Flüchtlingen, im Gefängnis, weil es wichtig ist die Menschen dort zu entdecken. Christus wo er ist, nicht nur in einer Kirche oder bei den Katholiken besonders in einem Tabernakel, das ist ja letzlich ein Gefängnis, sondern ihn im Leben zu entdecken. Und ich sage nicht, dass er in der Kirche nicht ist. Es gibt bei Gott keinen Ort wo er nicht ist, aber eben auch die Augen zu öffnen, um ihn überall dort zu sehen, wo der einzelne oder die einzelne ihn entdecken darf.
D.: Ist Weihnachten als eine Zeit äusseren Überflusses, ist das für Sie eine schwierige Zeit?
C.H.: Sie ist nicht mehr so schwierig, weil ich mich nicht mehr so daran reibe. Früher habe ich mich mehr daran gerieben, aber mir wäre lieber, dieses Fest am vierundzwanzigste Dezember würde abgeschafft und es würde das ursprüngliche Weihnachtsfest gefeiert, was am 6. Januar ist und was die Ostkirche auch weiterhin da feiert. Nämlich da wo Jesus sichtbar wird im Tempel, wo er offen wird, wo er auch gesellschaftlich anfängt zu wirken. Und ich hoff, dass wir dieser Versuchung widerstehen, der wir in den letzten 150 Jahren hier im marktwirtschaftlichen Westen verfallen sind, Jesus in einer Mentalität von Kleinfamilien gefangen zu halten oft, dass wir ihn also wieder freigeben, um ihm frei begegnen zu können. Weil die Weihnachtsgeschichte der Menschwerdung Gottes nicht die Unterstützung von einer Herbergsordnung ist die sich verschliesst, sondern eben in die Offenheit geht. Und bei jedem Menschen den wir ausgrenzen, denke ich – ja ich bin sicher -, dass wir damit Jesus ausgrenzen.