Straßenexerzitien

Petra Maria Tollkötter

in der Zeitschrift „Ausblicke“ vom Neukirchener Erziehungsverein, Krefeld 2007

„Was ist das, was dich immer wieder aufregt?“ „Was ist das, was dich regelmäßig traurig macht?“ So fangen die Straßenexerzitien an. Es geht darum, das, was mich regelmäßig ärgert oder traurig macht, genauer in den Blick zu nehmen, sozusagen etwas Grundlegendes in mir zu finden, das mich immer wieder stark bewegt – in welcher „Verpackung“ es auch daher kommt. Und dann nach der Sehnsucht zu fragen, die dahinter steckt. Das ist ein ungewohnter Zugang, ein zunächst seltsam anmutender Blickwinkel für Ärger oder Traurigkeit. Sich Zeit lassen, erinnerte Situationen kommen und gehen lassen, den Ärger, die Traurigkeit befragen nach dem tiefen Wunsch dahinter – es ist erstaunlich, auf welche Sehnsucht ich stoße! Woher kommt sie? Hat Gott sie in mich hinein gelegt? Möchte er mit dieser Sehnsucht von mir angeredet werden? Ich versuche es. Ich gehe mit diesem inneren Sehnsuchtsraum auf die Straße, achte auf die Begegnungen und Begebenheiten, suche Orte auf, die mich ansprechen. Die von den BegleiterInnen empfohlenen Orte sind dreierlei: die Zufälligkeiten des Weges; Orte, wo sich Armut in ihren vielfältigen Gesichtern zeigt (Hospize, Gefängnisse, Behindertentreffs, ARGE, Suppenküchen, AIDS-Cafe, Babyklappe, Obdachlosentreffs etc.); der Ort in mir, in meinem Herzen mit seinen unterschiedlichsten Bewegungen. Im einfachen Gehen durch die Stadt wächst meine Sensibilität für mich, für die Umgebung, für die Menschen, für die Möglichkeit des Aufscheinens Gottes darin. Ob Kontakte entstehen bleibt den Einzelnen überlassen. Allein schon im bewussten Hin-Schauen und An-Schauen der armen und ausgegrenzten Menschen, im wertfreien Zulassen dessen, was sich dabei an unterschiedlichsten Gefühlen und Gedanken meldet, entsteht ein Kontakt zu mir selbst, eine Aufmerksamkeit für das mich Umgebende, eine Offenheit für die leise Ansprache Gottes. Der Kontakt zu der in mich gelegten Sehnsucht ist wie ein Fundament durch diese Tage. Mit ihr bete ich, mit ihr bin ich unterwegs, mit ihr bleibe ich wach für die Spuren des Entgegenkommens Gottes.

Was lädt zu solchen Wegen ein? Zentral für die Straßenexerzitien ist die Erzählung vom brennenden Dornbusch (Ex. 3). Mitten im Alltag, beim Schafehüten, fällt Mose der brennende Dornbusch auf, der ihn neugierig macht und fasziniert, der Fragen in ihm weckt, der ihn näher treten lässt. Indem er sich auf diese Erscheinung einlässt, hört er Gottes Stimme, die ihn bittet, er solle die Schuhe ausziehen und nicht näher herantreten. Und Gott sagt: „Dort, wo du stehst, ist heiliger Boden!“. Gott ist gegenwärtig im stacheligen und kratzigen Dornbusch mitten in der Wüste. Gott ist gegenwärtig im Ausgegrenzten und Abgelehnten, im Vergessenen und Alltäglichen. Mit einer Gottesbegegnung dieser Art dürfen die Teilnehmenden der Straßenexerzitien rechnen! Sie dürfen damit rechnen, dass ein Ort für sie zum „Heiligen Ort“ wird, an dem Gott sich ihnen zeigt.

Ich selber habe die Straßenexerzitien schon mehrfach in Berlin mitgemacht. Sie werden jedes Jahr auch in anderen Städten angeboten. Diese 10 Tage in sehr einfacher Umgebung, mit 5-10 anderen ExerzitantInnen (= Übenden), mit geringer Tagesstruktur und einfachem Lebensstil lassen mich immer wieder neu das Geheimnis der Gegenwart Gottes in jedem Menschen erahnen. Die eigenen Erfahrungen und die täglichen Austauschrunden am Abend helfen mir, meine eingeübten und beengenden Wahrnehmungsmuster zu erkennen und loszulassen (meine „Schuhe auszuziehen“) und mich auf Existentielleres in mir und im Gegenüber einzulassen. Ohne meine auch schützenden Haltungen und Überzeugungen werde ich geradezu nackt in der Begegnung mit Anderen. Das befreit und beunruhigt zugleich. Durch die Menschen, die mir begegnen, höre und spüre ich etwas von unserem liebenden Gott.

Eine persönliche Erfahrung: Bei meinen ersten Straßenexerzitien verbrachte ich zwei Stunden mit zwei obdachlosen Alkoholikern auf einer Parkbank. Mir ging es an diesem Tag nicht gut. Da war viel Leere und Sinnlosigkeit in mir. Die beiden luden mich ein, mit ihnen auf der Parkbank ein Bier zu trinken. In der Begegnung mit ihnen spürte ich ein Angenommensein ohne Leistung, eine Einladung zum Daseindürfen mit allem Schwachen und Unbeholfenen in mir -weil sie auch einfach so da waren. Da kam etwas in mir zum Klingen, was nicht machbar ist: eine Einladung zum vorbehaltlosem Leben, zum Ja-Sagen zu dem, was einfach da ist. Ein mir heiliger Boden war entstanden.

Als ich sie verließ, klang der Satz in mir nach: „Wie frei ist man, wenn man nichts mehr zu verlieren hat!“ Wenn ich alles, was nach meinen Wertmaßstäben so wichtig ist, loslassen kann, werde ich frei für eine unmittelbare Begegnung, zu einem Wahrnehmen, zu einer Liebe, die so ganz anders ist! Wohl ein lebenslanger Prozess!

Ist Gott so? Mir öffnen diese Tage mit all den Begegnungen mit den Menschen am Rande immer wieder neu die „Herzensaugen“ für Gottes liebende Gegenwart in mir, in anderen Menschen und in unserer Welt. Das Glaubenswissen wird gefüllt mit Glaubenserfahrung, die alltagstauglich ist und (hoffentlich) leise, aber stetig prägt.

Die Straßenexerzitien sind offen für Menschen aller Konfessionen und gesellschaftlichen Zugehörigkeiten.

Diese Tage sind ausdrücklich kein Sozialpraktikum. Sie haben nicht das Einüben eines sozialen Engagements zum Ziel!

Sie sind eine Form unter vielen anderen Angeboten, die eigene Gottessehnsucht zu erspüren, ihr nachzugehen und Erfahrungen mit unserem Gott zu machen.