Der Ruf Gottes an mich hörte ich 1971 durch Michael Walzer SJ während unseres Philosophiestudiums in München. Er fragte mich: „Ich möchte eine manuelle Fabrikarbeit aufnehmen und den Graben zwischen Arbeitern und Studierten überwinden; kommst du mit?“ Sofort spürte ich ein Ja in mir, der ich sonst lange um Entscheidungen ringe und antwortete ihm zustimmend. Der Beginn unseres gemeinsamen Engagements zog sich noch sieben Jahre hin, aber ich startete umgehend mit einer regelmäßigen Arbeit als LKW-Fahrer, als Möbelträger und auch am Fließband neben dem Studium der Theologie in Frankfurt. Dann zog ich zu Mitbrüdern nach Frankreich, deren Leben von manueller Arbeit bestimmt war. Ich fand Anstellungen in der Metallindustrie und wurde zum Dreher ausgebildet. Nach drei Jahren zogen wir beide 1978 nach Berlin, fanden Arbeit und gründeten mit einem dritten Mitbruder eine kleine Kommunität. Nun begann das langsame Hineinwachsen in einen Großbetrieb, in dem ich 21 Jahre blieb, und in einen sehr unruhigen, armen Stadtteil, der von vielen gemieden oder nur mit großer Angst betreten wurde. Michael starb 1986 an einem Gehirntumor. Mit ihm hatte ich mich in verschiedenen Gruppen und mit KollegInnen in der Gewerkschaft engagiert. Das war gut und richtig so. Ich tat es weiter. Aber auf die Frage, warum ich das tat, konnte ich wohl nie befriedigend antworten. Da gab es mitten in meinem Leben ein Geheimnis.
Gerne tauschte ich mich über die Ländergrenzen hinweg mit Menschen aus, die einen ähnlichen Weg der Inkulturation in häufig abgewerteten Lebensbereichen machten. Anfangs dachte ich, dass irgendwann ein missionarisches Engagement mit Worten entstehen würde. Doch dazu kam es an meinem Arbeitsplatz nie. Die Kollegen schützten mich vor einem solchen coming out mit meiner Studienzeit und Ordenszugehörigkeit. Sie wollten mich im gemeinschaftlichen Engagement durch die zu erwartenden Anfeindungen nicht mundtot machen.
In der Mitte der KollegInnen habe ich den auferstandenen Jesus gesucht und auch gefunden. Doch ich bin nie auf die Idee gekommen, dass ich selbst Teil seiner Menschwerdung bin. Ja, ich bin über eine Grenze gegangen, die seinem Weg nach unten entspricht (Phil 2,6f). Immer mehr entdeckte ich seine Liebe zu mir fremden Menschen und lernte mit ihnen zusammen zu leben. In unserer größer werdenden Wohngemeinschaft, in der wir Jesuiten mit Menschen aus allen Kontinenten in Berlin-Kreuzberg leben, lernte ich unterschiedliche Formen der Gastfreundschaft und der gegenseitigen Achtung kennen.Wir leben auf engem Raum zusammen mit etwa 15 Menschen, die aus unterschiedlichen Kulturen, Gesellschaftsschichten und Religionen stammen. Mit möglichst wenig vorgegebenen Regeln versuchen wir zusammen zu leben. Diese tendenzielle Offenheit zu allen Menschen – nicht zu allen Meinungen und allem Verhalten – erfahre ich als ein Eins-werden mit dem von mir wahrgenommenen Verhalten Gottes. Sein Mitgehen mit allen Menschen in ihren Fähigkeiten und ihren Bedürfnissen ist für mich ein Erkennungszeichen seiner Allmacht.
Meine Erfahrungen mit stark reglementierten Arbeitsabläufen, oft willkürlichen, kaum nachzuvollziehenden autoritären Strukturen, besonders im Gefängnis, verstärken meine Abwehr gegenüber spirituelle Übungen, die festgeschriebenen Abläufe folgen. Ihren Wert will ich nicht infrage stellen. Doch ich lerne das experimentelle Vorgehen von Ignatius immer mehr schätzen und nehme in mir eine anarchistische Kreativität wahr, wie ich sie auch in der jüdisch-christliche Tradition entdecke. Jesus lebte auf der Grenze zwischen der nomadischen und der sesshaften Zeit seines Volkes, in der viele abgrenzenden Strukturen noch nicht so ausgebildet waren.
Seit September 1995 bete ich mit einer Gruppe von Ordensleuten und vielen FreundInnen regelmäßig vor dem Abschiebegefängnis in Berlin. Anschließend gehen wir in diesen großen fest verschlossenen Tabernakel der Anwesenheit Jesu (vgl. Mt 25,36) und besuchen einzelne Gefangene.
Die in dieser Situation gewachsene Aufmerksamkeit wurde eine entscheidende Voraussetzung, Menschen bei ihren Geistlichen Übungen auf der Straße zu begleiten. Überraschend klopften einige mit diesem Anliegen in jener Zeit an die Tür unserer Kommunität. 1998 fand für Mitbrüder ein erster kleiner Exerzitienkurs in unserem Stadtteil statt. Untergebracht waren wir während der Sommerpause in einer Wärmestube für obdachlose Menschen. Wir erinnerten uns an die Erfahrungen von Ignatius, die Grundlage für seine Exerzitienbegleitung wurden. Er lebte damals in Manresa als Obdachloser in und am Rande der Stadt.
Nach meiner Entlassung aus dem Betrieb begann 2000 ein neuer Abschnitt meines Lebens. Mit vier Ordensleuten gegen Ausgrenzung – also mit unseren Erfahrungen vor dem Abschiebegefängnis und dem Kontakt mit den Weggeschlossenen – schrieben wir einen offenen Exerzitienkurs auf den Straßen von Berlin-Kreuzberg aus {1}. Wir begleiteten die beiden Exerzitiengruppen mit jeweils einer Frau und einem Mann. Diese offene Begleitung in kleinen Gruppen hat sich bewährt. Anschließend gaben mir die drei anderen BegleiterInnen den Auftrag, einen neuen Kurs auszuschreiben. Dies geschah in den nächsten Jahren nicht nur in Berlin und vielen Städten Deutschlands, sondern auch in Belgien, Ungarn, Frankreich und der Schweiz. Meist waren es 10tägige Exerzitienkurse, manchmal auch eintägige Experimente oder Einladungen für nur wenige Stunden. Termine und Reflexionen finden sich in mehreren Sprachen auf dieser Seite.
Das von innerem Schweigen getragene Zuhören
So sehr Fasten und Stillschweigen Konzentrationshilfen sind, so grenzen solche Absprachen immer einige von der Teilnahme an Geistlichen Übungen aus. Überraschend machten wir die Erfahrung, wie bei den Exerzitien auf der Straße ganz ungeübte Menschen ins innere Hören und damit auch in ein aufmerksames Schweigen treten und so die Gegenwart Gottes in vielerlei Zeichen und Menschen wahrnehmen. So kann ein in starren kirchlich Verhältnissen lebender Mensch vor einem Mann mit einem Presslufthammer in der Krypta einer Kirche meditieren und spüren, wie die Betondecke in ihm Risse bekommt und er sich unter ihr wieder lebendig wahr nimmt. Er erzählt abends von seinem Erlebnis. Am nächsten Tag besuchen andere TeilnehmerInnen diese Kirche. Sie fanden eine gesicherte Baustelle, doch den Engel oder Jesus selbst fanden sie nicht mehr. Er war für den Übenden am Tag vorher da gewesen. Alle, die sich auf dieses „Beten mit offenen Augen“ einlassen, kennen solche Geschichten von Jesus mit dem Presslufthammer, als Kanalarbeiter, als BettlerIn, usw. Ähnlich erzählen die ersten Zeugen der Auferstehung von Jesus als Gärtner, Fremden, Koch, der Fische brät.
Ihre Geschichten ähneln der von Mose vor dem Dornbusch in der Wüste (Ex 3,2-4). Ganz überraschend begegnete Mose der brennenden aber nicht verbrennenden Liebe Gottes verborgen in einem Dornbusch. An diesem Ort zog Mose, der schon 80 Jahre alt war (Apg 7,30), aus Ehrfurcht vor der Gegenwart Gottes die Schuhe der Distanz (Mt 5,3) aus und ließ sich in die Freiheit mit seinem ganzen Volk rufen. Auch das Gesicht Jesu, aus dem uns die Liebe Gottes entgegen sieht, entdecken wir auf seinem Befreiungsweg zur Kreuzigung in einem kleinen Dornbusch. Er ist zum Folterinstrument einer Dornenkrone geworden. In diesem Kontrast wird die Liebesbotschaft des Evangelums noch eindringlicher: Jesus lädt einen der Hingerichteten zu sich ein (Lk 23,43), sorgt für seine Mutter (Joh 19,27) und lässt sich auf Gott auch ohne ein abschließendes Verstehen ein.
Wie Mose werden die Übenden von der überwältigenden Einladung in die Freiheit überrascht. „Kann das wahr sein, dass ich den eingeübten Weg meines Lebens verlassen soll?“ Vor dieser Anfrage Gottes stehen auf die eine oder andere Weise alle Übenden.
Jetzt erinnere ich mich: Ich hatte in der Fabrik gearbeitet, bin dann in die Schule zurückgekehrt, in den Orden eingetreten und habe mein Studium aufgenommen. Da wurde ich von Michael gefragt, ob ich mit ihm in die Fabrik als ungelernter Arbeiter zurückkehren wolle. Mein Ja war eine große Befreiung, denn ich konnte mir nie vorstellen, einmal Priester in der ersten Reihe zu sein (Mt 23,2-10). Gott hat einen anderen Weg für mich gefunden, Priester zu sein.
Das Fundament Sehnsucht
Die Exerzitien auf der Straße beginnen mit der Frage: Was ärgert dich immer neu, was macht dich jeweils traurig oder ängstigt dich; worüber freust du dich unverhofft, überschwänglich? Durch den Schmerz oder auch die Freude hindurch ist die eigene Sehnsucht zu spüren, die diese ursprüngliche Regungen anstößt. Sie sind Wegweiser zum Ursprung unseres Lebens, der sich in uns Menschen auf so unterschiedliche Weise ausdrückt und lebendig zeigt. Unsere Sehnsüchte sind göttliche Abdrücke seiner Liebe in uns, die uns zum Leben befähigen. Diese vielfältige Größe Gottes spiegelt sich in der Gemeinschaft aller Menschen wieder. Wir suchen über die lebendigen Liebeszeichen in uns auf Gott zuzugehen, ihn im Gebet anzusprechen und von ihm leiten zu lassen. Der Ärger über das Nichtbeachten von Menschen führt eine Frau in den Exerzitien zu ihrer Sehnsucht, dass alle Menschen wahrgenommen werden wollen, damit das von Gott anvertraute Leben in ihnen entdeckt kann. Die Übende findet darüber zu ihrem persönlichen Gebet: „Du, die Du mich schön ansiehst und mich das Lieben lehrst.“ Dieses innere Gespräch mit unserem Ursprung führt die Übenden an Orte in der Stadt, die ihnen heilig, das heißt lebensweisend werden, also zu ihren brennenden und nicht verbrennenden Dornbüschen der liebenden Gegenwart Gottes. Sie finden diesen Heiligen Boden oft an vorher von ihnen unbeachteten Plätzen.
Nach und nach entdecke ich meine Geschichte der Sehnsucht. 1975 habe ich sie vor dem Aufbruch nach Frankreich „Solidarisch leben“ genannt. „Die Lust Einheit zu entdecken“ ist eine spätere Formulierung meines Wunsches, respektvolles Sehen und Hören einzuüben. Die Straße der Sehnsucht in uns weist auf den Menschwerdungsprozess hin, der die Menschwerdung Gottes in uns aufleuchten lässt. Darüber staune ich während der Exerzitienbegleitung bei den TeilnehmerInnen und bei mir selbst. Das Begleiten geschieht im Nichtwissen über diese Pläne Gottes und ermutigt die Übenden, die eigenen Erfahrungen ernst zu nehmen.
Auf diese Weise stoße ich nochmals auf den Bibeltext, den ich jahrelang meditiert habe: Das Nein Jesu und seinem darin deutlich werdenden Glaubensbekenntnis, wie wir es in den Versuchungsgeschichten finden: Der Mensch lebt von jedem Wort, das aus dem Munde Gottes kommt; du sollst Gott nicht auf die Probe stellen, sondern ihm allein dienen (Mt 4,1-11; Lk 4,1-13). Die Suche nach dem persönlichen Neinsagen kann ebendo in die Geistlichen Übungen einführen und zum Fundament der Gottessuche werden: Einem Leben aus dem Wort Gottes, dessen Glaubwürdigkeit wir nicht misstrauen, sondern dem wir dienen wollen.
Jesus ist Straße
Mit unserer Sehnsucht gehen wir über das Gewohnte, über die Steppe (Ex 3,1), aus den privaten Räumen hinaus auf die offene Straße. Nach und nach erkennen wir Jesus als die Straße (Joh 4,16), auf der Gott uns entgegenkommt. Vielleicht bemerken wir ihn zuerst als Obdachloser, der keinen Ort hat, wo er sein Haupt hinlegen kann (Mt 8,20) oder als jemanden, der uns heilen will. Viele Heilungen finden auf der Straße statt. Einmal wird dazu sogar das Dach abgedeckt, weil Jesus in einem Haus ist (Mk 2,4). Phantasiereich nutzt er die Heilungsmöglichkeiten der Straße. Vor einem blinden Menschen spukt Jesus auf die Erde und trägt den entstandenen Brei auf seine Augen auf. Dann weist er den Bettler an, sich im Teich Siloach zu waschen. Übersetzt heißt dieser See: der Gesandte (Joh 9,7), ein Hinweis auf den erwarteten Messias.
Wir kennen die Zumutungen des Lebens auf der Straße, die wir nicht selbstverständlich als Begegnung mit Gott wahrnehmen wollen. Mit einem „Das kann er doch nicht von mir erwarten“ weisen wir seine Einladungen ins Leben häufig zurück. Doch Jesus ist auch heute der Durstige, der eine Frau am Brunnen (Jo 4,7) um Wasser bittet. Er steht neben uns auf der Straße, auf die viel Müll, das Restrisiko, die unverkäuflichen Abfälle, Menschen in Krisensituationen geworfen werden, die von der Allgemeinheit entsorgt werden sollen. Mitten in diese Krankheitsymptome einer geldorientierten Gesellschaft lädt Jesus ein, nach ihm, dem lebendigen Wasser, zu verlangen.
Die Frau, die Jesus um Wasser bittet, entdeckt ihren Durst nach dem nicht versiegenden Wasser. Sie bittet Jesus um das Wasser, das ewiges Leben spendet. Aber erst als sie die Zusage Jesu mit ihrer eigenen Lebenserfahrung in Verbindung bringt, ahnt sie etwas von dem Gehörten und ruft die Leute aus dem Dorf zusammen. Erst zwei Zeugen können auf die Wahrheit hinweisen. Im Zusammenspiel von Schrift und Erfahrung wird sie sichtbar.
Jesus ist die Straße, auf der uns die Wahrheit und das Leben Gottes auch heute entgegen kommt (Jo 14,6). Hier und an den Orten, die uns zur Straße werden, will er uns begegnen. Als Jesus im Haus eines Pharisäers eingeladen war, kam eine von vielen verachtete Frau zu ihm und wusch ihm mit ihren Tränen die Füße. Da war durch diese Frau mitten in der Männergesellschaft das Gott widerspiegelnde Unplanbare der Straße greifbar (Lk 7,38). Auch in der Exerzitiengruppe tritt nach einiger Zeit das Überraschende der Straße in das abendliche Nachgehen der Erlebnisse ein.
Die Erfahrungen auf der Straße weisen mich auf eine entscheidende Auslegungshilfe für biblische Texte hin, die ich schlicht „Straße“ nenne. Sie weist auf einen wichtigen Offenbarungszusammenhang in der biblischen Botschaft hin. In der Offenheit der Straße spiegelt sich die Offenheit Gottes und die nomadische, heimatlose Gesellschaft, an die im jüdischen Glaubensbekenntnis erinnert wird (Dt 26,5).
Auf der Straße entdecken wir ganz unterschiedliche BegleiterInnen. Sie handeln ohne eine besondere Absicht. Jesus erzählt von ihnen in seiner Rede vom letzten Gericht (Mt 25,31-46). Dieser Text führt uns in die Offenheit allen Menschen gegenüber. Das ist der zentrale Hinweis auf die Botschaft der Straße, der ich mich öffnen will. Die Freude darüber hat mein Leben mehr und mehr verändert.
Im Zuhören bleiben, die Schuhe ausziehen
Da wir in einer mörderischen, von Gewalt geprägten Welt leben – wie Schafe unter Wölfen (Lk 10,3f) -, sollten wir uns die vier Weisungen Jesu zu Herzen nehmen und unseren Blick durch die scheinbare Sicherheit geordneter Verhältnisse nicht verstellen lassen. Jesus fordert uns weiter dazu auf, unsere Schuhe zurück zu lassen: die hochhackigen, mit denen wir auf andere hinab sehen, die Turnschuhe, mit denen wir allen Konflikten schnell auszuweichen versuchen, jene, die wir als Waffen einsetzen können, oder die glitzernden Schuhe der Eitelkeit. Ebenso sollen uns die fesselnden Konventionen der Harmonie, des Grüßens (Lk 10,4) oder der richtigen Kleidung nicht gefangen nehmen. Unsere Wahrnehmung wird davon schnell eingeengt, was die Begegnung mit dem Leben verhindert.
In den Exerzitien auf Straße üben wir, uns zu persönlichen Begegnungsorten führen zu lassen. Sie liegen scheinbar zufällig am Wegrand. Aber wir finden sie auch in uns selbst oder in schon lange bestehenden Beziehungen. Am Abend taucht regelmäßig die Frage auf: Welche Distanz musstest du überwinden, welche Schuhe ausziehen, um in der beschriebenen Situation die bereitliegende Botschaft hören zu können? Wenn ich an den Meditationsorten meine nackten Füße spüre, mit meinem Herz nicht beschuht also nicht distanziert bleibe, dann werde ich auch an einem unruhigen Ort nach einer Ablenkung wieder in das Jetzt und Hier zurückfinden. Diese Übung veränderte meinen Alltag und lässt mich heute vieles gemeinschaftlicher wahrnehmen, was ich vorher nur als Information registriert habe. Immer noch sehe ich manches distanziert beobachtend und als brauchbar oder unbrauchbar wertend. Aber die Überraschungen nehmen zu, das Gemeinsame des Lebens mit anderen Menschen zusammen zu entdecken.
Jesus privatisiert seine Beziehung zum Vater nicht, sondern lässt uns daran teilhaben. Wir sehen durch ihn den Vater. Jesus ist die Straße zu ihm, die Wahrheit und das Leben. Jesus führt uns zu den ursprünglichen Gotteserfahrungen des Volkes, als sie Nomaden in der Wüste waren. Dorthin sind Menschen auch später in der Geschichte aufgebrochen, um den Glauben von vielen Dekorationen zu befreien und nach einem direkten Zugang zu Gott zu suchen. Die Exerzitien auf der Straße bescheren mir den Kontakt mit diesem pilgernden, ergebnisoffenen Suchen, das nicht in einem bestimmten Zeitrahmen eingegrenzt werden kann. Ich entdecke zunehmend die Einladung, dass wir selbst zur Straße werden dürfen, einer Straße, die dem Frieden den Weg bereitet, auf der wir Barmherzigkeit üben, die Gerechtigkeit Gottes wahrnehmen und sie greifbar werden lassen.
In den Exerzitien klärt sich nicht nur die Beziehung zum Ursprung des Lebens, zu der Quelle der eigenen Sehnsucht, zu Gott, sondern auch zu den Mitmenschen, der Natur und zu allem, in dem wir leben. Der Austausch über die täglichen Erfahrungen am Ende des Tages ist ein wichtiger Schritt in die Offenheit vor dem Nächsten und vor Gott zu treten.
Die dritte Etappe der Exerzitien
Nach der Fundamentsphase (1) und der Suche nach der Begegnung mit dem Leben (2) – Mose vor dem Dornbusch im Angesicht der brennenden Gegenwart Gottes – gehen die Übenden in der dritten Etappe gemeinsam – ähnlich den Jüngern – von Emmaus zurück nach Jerusalem in die Versammlung der Jünger (Lk 24,33). Dort konnten die beiden am Morgen den Berichten der Frauen und Petrus nicht mehr zuhören und mussten weggehen. Jetzt am Abend können sie nach der Begegnung mit dem Fremden, in dem sie Jesus erkannten, den Freunden wieder zuhören. Dieses Hörenkönnen ist das Ziel von Geistlichen Übungen. Der Ruf Höre Israel hat in der Geschichte einen zentralen Platz. Am Ende der Exerzitien nehmen wir beim Gottesdienst in einer Gemeinde oder einer anderen Gruppe die Veränderungen bei uns wahr. Der für manche sogar verbrannte Boden einer Kirche kann wieder betreten werden. Notwendige, ergebnisoffene Klärungsprozesse beginnen und brauchen manchmal einen längeren Zeitraum für ausstehenden Entscheidungen. Die gemeinschaftlichen Elemente der Exerzitien helfen in diesem Prozess lange über die vorgesehene Übungszeit hinaus.
Einige TeilnehmerInnen sind bereit, ihr Hören andern Übenden zu schenken und zukünftige Exerzitienkurse zu begleiten. Etwa 80 Menschen waren in den letzten 10 Jahren zu diesem kostenlosen Dienst bereit. Nicht jedes Jahr werden sie ihre Urlaubszeit dafür einsetzen. Aber aus dieser großen Gruppe kommen immer wieder Initiativen, Exerzitien oder Übungstage auf den Straßen größerer oder kleiner Städte zustande.
In mir ist großes Vertrauen in den Heiligen Geist gewachsen, da ich erlebt habe wie er die Menschen in ihrem Suchen unterstützt und seinen Sinn finden lässt. Ebenso kann ich mich in das Bemühen der BegleiterInnen loslassen, da unter ihnen das Hören auf den Ruf Gottes deutlich spürbar ist. Ich erlebe Kirche.
In der Begleitung und in vielen anderen Situationen bemerke ich, wie ich aus dem Hören heraus zu sprechen beginne. Die Emmausjünger hören Petrus zu, wie er Jesus begegnet ist. In Einheit mit dem Gehörten erzählen auch sie. Während die beiden von den Ereignissen erzählten, war Jesus wieder anwesend und wünschte ihnen Frieden. Leider wird in der Regel diese Aussage beim Vorlesen der Geschichte weggelassen, weil die Bibelausgaben sie zur nächsten Perikope schlagen. Doch dieser Satz macht für mich deutlich, was die Kirche unter Erinnern versteht, wie wir sie in der Eucharistie feiern. Jesus ist neu gegenwärtig unter uns, und die Jünger reagieren wieder erschrocken und halten ihn für einen Geist. In den Exerzitien auf der Straße und weit darüber hinaus üben wir wenigstens kurzzeitig im Jetzt zu leben, also in der Sehnsucht nach der unbegrenzten Einheit mit Gott. Im Jetzt dürfen wir die Ewigkeit schmecken, mit der wir wie nach der Verklärung Jesu wieder mit ihm in unseren Alltag hinuntersteigen, der durch unsere Erfahrungen auf dem Berg mitten in der Stadt sein Mehr gezeigt hat: Der Mensch lebt nicht allein von Brot, sondern von jedem Wort, das aus dem Mund Gottes kommt.
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{1} Jahrbuch SJ 2002
Veröffentlicht in: Review of Ignatian Spirituality, Rom 2011, eng., span., fr.