Christian Herwartz „Spiritualität der Störung“ Gespräch

„Sich stören lassen ist wichtig!“

Jesuit Christian Herwartz bietet eine besondere Form geistlicher Übungen an: Straßenexerzitien

Der Berliner Jesuit und Autor Christian Herwartz war jahrzehntelang Arbeiterpriester. Heute lebt er in einer offenen Kommunität in Berlin-Kreuzberg, begleitet Menschen, die an den Rand gedrängt sind, und gibt Exerzitienkurse. Im Gespräch mit „Paulinus“-Redakteurin Eva-Maria Werner spricht er über die „Spiritualität der Störung“ und warum es wichtig ist, hin und wieder die „Schuhe auszuziehen“.

Wieso haben Sie immer das Leben mit „einfachen Menschen“ gesucht?

Die deutlicher gewordene Spaltung der Gesellschaft in Geachtete und weniger Geachtete, in Gebrauchte und Benutzte oder gar nicht mehr Gesehene widerspricht fundamental meinen Hoffnungen, wie ich sie im Evangelium ausgedrückt sehe. Wir sind Geschwister. Das will ich nicht nur wissen, sondern auch leben.

Warum kann die Nähe zu Obdachlosen, Kranken oder Gefangenen heilsam sein?

Jesus hat uns den Hinweis gegeben, dass er dort zu finden ist. Die Nähe zu ausgegrenzten Menschen ist eine entscheidende Verwurzelung im Leben. Oft verkörpern diese Menschen eine Lebenssituation, vor der die meisten existentielle Angst haben. Dann ist es gut, diese Angst zu überwinden und ihnen in geschwisterlicher Weise zu begegnen.

Welches Erlebnis Ihres Lebens hat Sie in besonderer Weise geprägt?

Nur eins? Gut. Ich habe einmal in einem großen Kohlebunker gearbeitet und es kam die Frühstückszeit. Zwei türkische Kollegen riefen mich herbei und teilten ihr Brot mit mir. Es war eine Eucharistiefeier mitten im Dreck, wortlos. Ich bin noch nach vielen Jahren davon überwältigt, Jesus so greifbar nahe gewesen zu sein. Wir Menschen sind alle Geschwisterdurch ihn. Das brauchte mir keiner mehr erklären. Ich hatte es erfahren.

Was bedeutet für Sie die Beziehungzu Jesus?

Jesus war für mich lange der gleichaltrige Bruder, mit dem ich über meine Lebensträume reden konnte. Dann wurde ich älter als er und entdeckte in ihm den vorausgegangenen Bruder, der eine neue Verknüpfung zu Gott anbahnte. Die Beziehung zu Jesus ist ein Name für das Glück in meinem Leben geworden.

Sie sind bei Mahn- und Gebetswachen aktiv und haben einmal Ihren Jahresurlaub dazu verwendet, mit Wohnungslosen vor dem Berliner Rathaus gegen die Vertreibung der Armen zu protestieren. Woher nehmen Sie die Kraft?

Ich habe entdeckt, wie wichtig es ist, mich in meiner Armut, in meiner Kraftlosigkeit von Gott führen zu lassen. Kläglich scheitern würde ich, wenn ich mich auf meine Kraft stützen würde. Die Nachfolge Jesu ist keine Leistung. Sie wird uns geschenkt.

Einmal haben Sie gesagt: „Wenn wir vor den Mauern eines Gefängnisses stehen, schauen wir auf einen großen Tabernakel.“ Was ist damit gemeint?

Damit wir den Auferstandenen nicht übersehen, hat Jesus zu Lebzeiten gesagt, dass wir auf die Menschen besonders achten sollen, die leicht beiseite geschoben werden. Vor einem Gefängnis und bei einem Besuch eines Gefangenen wird mir diese Botschaft Jesu besonders deutlich. Er kann uns in Jedem begegnen, besonders in denen, die wir leicht übersehen.

Sie bieten „Exerzitien auf der Straße“ an. Was ist das?

Exerzitien sind Übungen. Was wird geübt? Aufmerksamkeit. Auf was? Auf das Leben im anderen und in mir selber. Ich suche Gott, wo immer er mir begegnen will. Ich suche ihn in völliger Offenheit, denn ich weiß nicht, wo er sich zeigen will. Das Wort Straße steht für Offenheit und die Unbestimmtheit am Anfang des Suchens. Mose ist Gott in einem brennenden, aber nicht verbrennenden Dornbusch begegnet. Dort war für ihn die Straße. Die Begegnung mit dem Leben findet für die Teilnehmer der Exerzitien an unterschiedlichen Orten, am Ufer eines Flusses, vor einem Gefängnis oder mitten im Drogenhandel statt. Gottes Fantasie ist unerschöpflich. Mose hat die Anweisung bekommen, an dem Ort der Begegnung mit Gott seine Schuhe auszuziehen. Ich verstehe dies so, dass er sich ganz in die Realität stellen und jede Distanz abstreifen sollte. Mose musste die Schuhe des Besserwissens, des Weglaufens, des Vergleichens usw. ablegen, wenn er auf die Stimme Gottes hören wollte. Er war aus Ägypten geflohen; nun sollte er mit einem unglaublichen Auftrag dorthin zurückkehren und die Befreiung seines Volkes anführen.

Warum ist ein Aufbruch immer wieder wichtig?

In den Exerzitien wird das Leben in der Gegenwart geübt. Erfahrungen aus der Bibel und Menschheitsgeschichte helfen, die Erlebnisse heute zu entschlüsseln. Sie können die eigenen aber nicht ersetzen. Oft bitten die Übenden zunächst um Heilung, also das Wegräumen von Hindernissen, die den Blick auf das Leben verstellen. Dann geht es christlich gesprochen um eine neue Offenheit für die Begegnung mit dem Auferstandenen. Dieser unglaubliche Vorgang ist das Kerngeschehen in einer solchen Zeit. Es geschieht überraschend und ist eine Störung unserer bisherigen Vorstellungen.

Warum ist die „Spiritualität der Störung“ so bedeutsam?

Wie kann ich mir vorstellen, dass Gott mit uns in Kontakt treten kann? Wir sind ja selten im Jetzt. Unterwegs auf der Straße übersehen wir andere häufig, weil wir mit unserer Aufmerksamkeit schon beim Einkaufen, auf der Arbeit oder in der Schule sind. Ein Bettler, ein Unfallopfer oder Einbrüche im eigenen Leben werden als Störung empfunden. Wir sind in Eile. In der Psychologie haben Störungen Vorrang. Ähnliches gilt für die Spiritualität, wenn wir die inneren Impulse von Freude oder Trauer nicht überhören wollen. Viele Spiritualitäten bieten eine Handlungsweise an, in der wir zur Ruhe finden und zu Hörenden werden. Ja es gibt etwas, das wir wahrnehmen können. Wir sind nicht gefangen in unseren Projektionen. Das Leben um und in uns gibt Impulse, die wir wahrnehmen können. Das meine ich: Gott spricht oft in Störungen mit uns.

Paulinus, Wochenzeitung im Bistum Trier, 18. Mai 2008, Seite 17