Vom 12. bis 21. Oktober war ich zu „Exerzitien auf der Straße“ in Berlin: Tage mit viel Schweigen; Zeit, um Spuren Gottes zu suchen und sich eigenen Lebensfragen zu stellen. Viele aus der Gemeinde haben mich gefragt, was ich da eigentlich gemacht und erlebt habe. Darum hier ein Versuch, diese Tage zu beschreiben:
Freitag, 12. Oktober
Schon die Hinfahrt wird spannend: es ist der erste Tag des Lokführerstreiks. Doch der Zug nach Braunschweig fährt; er ist mit 3 Schulklassen total überfüllt. Hinter mir sagt plötzlich ein Schüler über einen anderen: „Der kommt aus Berlin-Kreuzberg, aus dem Ghetto!“ Sein Nachbar weiß nicht, was ein Ghetto ist aber Berlin-Kreuzberg, das ist das Letzte, soviel ist ihm klar.
Da will ich hin. Vor 2 Jahren habe ich Christian Herwartz kennen gelernt, einen Jesuit und Arbeiterpriester, der seit vielen Jahren in Kreuzberg in einer Wohngemeinschaft mit Obdachlosen, Flüchtlingen und anderen „Gestrandeten“ wohnt. Ein faszinierender Mensch! So habe ich mich bei ihm zu „Exerzitien auf der Straße“ angemeldet.
Wir wohnen in einer Obdachlosenunterkunft einer kath. Kirchengemeinde; zwei Kellerräume sind die Schlafräume; das Gemeindehaus steht uns für Frühstück und gemeinsames Abendessen zur Verfügung. Die Exerzitien kosten null Euro; in der Küche liegt eine Plastiktüte. „Wenn Ihr im Lauf der Tage alle mal 20 Euro hineintut, habt Ihr immer genug, um für Frühstück und Abendessen einzukaufen.“ Gekocht wird im Wechsel. Abends haben wir erst Abendmahlsgottesdienst und Gespräch; Christian, Lotte, Klaus und Claudia begleiten uns. (…)
Dienstag, 16. Oktober
Auf dem Weg zum Bahnhof Zoo komme ich wieder am Straßenstrich vorbei. Zwei Frauen erkenne ich von gestern wieder. Sie sind mir fast ein wenig ans Herz gewachsen. Plötzlich setzen sie sich mit einem Kaffee in ein Straßencafe. Spontan kaufe ich 2 Rosen im nebenan gelegenen Blumenladen und gehe zu ihnen. Sie freuen sie sehr über die Blumen – aber erhoffen sich natürlich auch ein Geschäft. Ich komme ins Schwitzen. „Ich will kein Sex. Ich suche Gott.“ Ich glaube, sie halten mich für einen religiösen Spinner. Schließlich wollen sie nur noch Geld von mir, erzählen von ihren 6 Kindern in Ungarn, die hungern müssen.
Ich verabschiede mich und laufe weiter.
Später sitze ich lange in der Gedenkstätte „Plötzensee“ – ein furchtbarer Raum mit Haken an einem Metallträger, an denen die Nazis Gefangene erhängt haben. Kommunisten, Widerstandskämpfer, aber auch einfache Bauern, die russische Flüchtlinge bei sich im Heu übernachten ließen. Wie viel Mut müssen diese Menschen gehabt haben, um trotz der Gefahr an ihren Überzeugungen festzuhalten! Und wie viel kleinere Risiken bringen uns heute schon zum Schweigen und Wegsehen!
Mittwoch, 17. Oktober
Stundenlang bin ich auf der ehemaligen Grenze unterwegs. Wo vor 20 Jahren noch die Mauer stand, sind heute Pflastersteine in den Boden eingelassen. Ich folge ihnen einige Stunden. Mir kommt eine Gesangbuchstrophe in den Sinn, die ich immer wieder vor mich hin singe:
„Man halte nur ein wenig stille / und sei doch in sich selbst vergnügt; / wie unsres Gottes Gnadenwille, / wie sein Allwissenheit es fügt. / Gott der sich uns hat auserwählt, / der weiß auch sehr wohl, was uns fehlt.“
Ich tanze, hüpfe, singe. Autofahrer hupen, weil ich mitten auf der Straße laufe.
Plötzlich bleibe ich an zwei „Stolpersteinen“ stehen: in den Boden eingelassen sind zwei metallerne Steine, auf denen Namen von ermordeten Juden stehen: Lotte und Siegbert Rotholz, sie 1943 in Auschwitz umgekommen, er 1943 hingerichtet. Gott, wo ist da Deine Allwissenheit, Dein Gnadenwille? Ich verstumme.
Plötzlich kommt – vollkommen unverhofft – eine einzige, starke Windböe, die eine goldene Blätterwand auf mich zutreibt. Ob das Ehepaar Rotholz mir ein Zeichen geben will?
Ich laufe weiter, einige Stunden. Bis ich in Kreuzberg an einer Haustür zwischen vielen Plakaten einen Zettel mit einem Gedicht kleben sehe:
Bin niemals allein / bin nirgends zuhaus
der Tanz geht weiter / Tagein und Tagaus.
Nur manchmal verschwindet die Wirklichkeit
und ich seh einen Wind aus anderer Zeit.
Es läuft mir kalt den Rücken runter: ich seh einen Wind aus anderer Zeit. Ja, das war meine Blätterwand. Ich weiß: Das Gedicht hängt da für mich! Einbildung? Naiv? – Nein, für mich nicht. Nachts im Bett – der Priesteramtskandidat neben mir schnarcht entsetzlich – freue ich mich an dem Bild: Ich tanze mein Leben in Gottes Armen…
Donnerstag, 18. Oktober
Ein ruhiger, besinnlicher Tag. Kreuzberg ist schon fast wie ein Zuhause… Kinder spielen Straßenmusikanten, freuen sich riesig, dass ich stehen bleibe und ihnen zuhöre. Warum dränge ich im Leben im weiter? Ich will nicht immer brauchen und suchen. Ich will einfach da sein.
Im Abendgottesdienst waschen wir uns die Füße. Was für ein Gefühl, als Lotte, eine ältere Ordensschwester aus Luxemburg, mir die Füße küsst…
Freitag, 19. Oktober
Über Nacht hat jemand auf dem Bürgersteig ein Dixi- Klo abgestellt. Schmunzelnd nehme ich es als Zeichen dafür, dass Gott mich einlädt, alten Ballast abzuwerfen. Fröhlich, wieder singend, schlendere ich im Schneckentempo durch Kreuzberg. Ich habe kein Ziel mehr. Ich bin schon da.
Mittags komme ich an meinem Gedicht vom Mittwoch vorbei – Oranienstraße 34. Die Tür steht offen; ich gehe in den Hinterhof, setze mich auf eine Bank. Menschen kommen und gehen – und alle grüßen mich freundlich, lächeln mir zu.
Der Fahrstuhl im Hinterhaus sieht mit seinen Glasfenstern aus wie eine große Leiter. Plötzlich kommt mir die Erzählung von Jakob und der Himmelsleiter. „Führwahr, Gott ist an diesem Ort und ich wusste es nicht!“ sagt Jakob in 1. Mose 28,16 und ich sage es mir auch: Gott ist an diesem Ort, und ich wusste es nicht!
Ich bin einfach glücklich, singe auf meiner Bank. Besoffen vor Glück. Plötzlich sehe ich vor mir auf dem Boden eine Postkarte. Warum habe ich die vorher noch nicht gesehen? Mit großen Buchstaben steht da geschrieben: Das Wunder der Oranienstraße. Zufall? Daran glaub ich schon lange nicht mehr.
Mögen andere darüber lächeln: ich weiß, die hat Gott mir dahingelegt!
Zurück auf der Straße sehe ich vor der Tür, direkt unter meinem Gedicht, wieder zwei Stolpersteine: Dr. Georg und Frieda Cohn – Exil in Shanghai. Die beiden haben es geschafft. Und drüber hängt ein großes Banner: Ora 34. Für mich ist das die Aufforderung zum Beten. Und wie ich Gott lobe an diesem Tag!
Später schlendere ich eine Weile mit einem Behinderten durch die Straße. Plötzlich guckt er mir in die Augen und sagt: „Du hast nichts gegen mich, auch wenn ich sowas hab?!“
Samstag, 20. Oktober
Ich höre die Frage des Behinderten als Frage Gottes an mich. Ich habe ihn gelobt und besungen vor Glück in diesen Tagen – aber was ist mit den anderen Seiten des Lebens? Wo es nicht heil und rund ist? Was ist mit dem Gebrochenen, Unvollkommenen? Liebst Du mich auch so? fragt mich Christus. Plötzlich sehe ich die Menschen noch einmal mit anderen Augen, versuche, Christus in ihnen zu sehen. Wie sehr verändert das meinen Blick. Der türkische Mann mit seiner Gebetskette, die Bettlerin, der Alkoholiker auf der Parkbank – Christus ist da! Und wie arrogant bin ich oft, fühle mich überlegen. Scham überkommt mich. Ich singe wieder: „Man halte nur ein wenig stille…“
Gott will gefunden werden in den alltäglichen Dingen und Begegnungen des Lebens. An wie vielen Stellen ist er mir aufgeblitzt in diesen Tagen. Das Leben – ein Versteckspiel mit Gott!
Ein klein wenig habe ich noch gezögert – ist das nicht vielleicht doch ein wenig zu naiv? Aber dann hat Gott mir zu guter letzt noch eine Clown-Frau über den Weg geschickt, mit der ich auf wunderbare Weise herumgealbert habe, mitten auf der Straße. Was hatten wir für eine Freude! Gott sei Dank!
Donnerstag, 8. November
Ich schreibe diesen Bericht für den Gemeindebrief und bin sehr dankbar, dass mir diese Tage geschenkt wurden. Danke an Stefan Gresing, der in den Exerzitientagen den ganzen Südharz vertreten hat – und die Begleitenden und die Teilnehmenden der „Exerzitien auf der Straße“ – lange werde ich von diesen Erfahrungen zehren!
Aus: KREUZ & QUER – Walkenried, Wieda, Tettenborn/Neuhof – Ausgabe 3/2007