Mitten im Glaubensabfall der Deutschen Christen, die in vielen Entscheidungsgremien der verfassten Kirche das Sagen hatten, fand die Bekennende Kirche im Dritten Reich einen Weg, im Bekenntnis an Jesus Christus fortzufahren. Sie hat die beiden Erkenntnisquellen zusammen gebracht, die gegenwärtigen eigenen Erfahrungen und jene, von denen in der Bibel erzählt wird.
In dieser Spannung versuchen wir auch heute unsere Welt zu sehen und zu begreifen: In Berlin und an vielen anderen Orten in Europa haben Menschen in den letzten fünfzehn Jahren ihre Geistlichen Übungen auf der Straße gemacht {1}. Auf ihren Wegen nehmen die TeilnehmerInnen das Wort vom brennenden aber nicht verbrennenden Dornbusch mit {2}, das auf die brennende aber nicht erlöschende Liebe Gottes zu uns hinweist. Die Übenden suchen in der Stadt nach den persönlichen Orten, an denen der die Menschen liebende Gott auf sie wartet. Eine scheinbar zufälligen Ahnung ruft sie jeweils vor ihren stachligen Dornbusch, um den sie in ihrem Alltag gerne einen Bogen machen.
Die Erinnerung an die biblischen Geschichten, besonders die von Mose, hilft, entgegen dem gewohnten Weglaufimpuls die innere Stimme wahrzunehmen, zu bleiben und ihr zu folgen: beispielsweise auf eine Bank mit einem Obdachlosen, vor ein Gefängnis, in ein ehemaliges Konzentrationslager oder in ein Krankenhaus. An diesen persönlich berührenden Orten hören wir, ebenso wie Mose vor über 3000 Jahre, die Aufforderung, unsere Schuhe auszuziehen, uns der vorgefundenen Realität zu stellen und uns von ihr – äußerlich und innerlich – berühren zu lassen.
Oft geraten wir dann in Begegnungen, wie sie von Jesus in der Öffentlichkeit erzählt werden. Eine Frau, die gesteinigt werden soll, wird zu ihm gebracht {3}. Wir stehen vielleicht vor einem drogenabhängigen Menschen und spüren neben ihm die verächtlichen Blicke der Vorbeigehenden.
In der biblischen Geschichte zieht Jesus auf seine Weise die Schuhe aus. Er bückt sich und begibt sich damit in die Gefahr, selbst von den Steinen – in den Händen der um die beiden herum stehenden Männern – getroffen zu werden.
Ohne Schuhe stehen wir verletzbar und gewaltlos vor den anderen Menschen.
Jesus schreibt den Gottesnamen in den Sand, wie ihn Mose gehört hat. So meinen einige Ausleger dieser Textstelle. Vielleicht schreibt Jesus auch eine Botschaft an die bedrängte Frau, die wie der brennende Dornbusch vor Jesus steht. Sie ist von den Umstehenden verurteilt wegen ihrer Liebe zu einem Mann und steht nun als Ausgestoßene in ihrer Mitte. Nach einiger Zeit richtet sich Jesus auf und spricht entwaffnend wie ein Kind zu den gewaltbereiten Menschen: „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein auf sie.“
In den geistlichen Übungen auf der Straße vergessen wir in der Begegnung mit einem Alkoholiker oder einer am Boden sitzenden, bettelnden Frau alle moralischen Distanzierungen. Wir sehen den anderen Menschen mit schwindenden Vorurteilen an und entdecken uns selbst in unserer eigenen Bedürftigkeit. Dies geschieht ohne eine besondere Absicht. Später kann das neu entdeckte Wahrnehmen einmal Grundlage für ein angemesseneres Handeln werden. Jetzt treten wir aus unseren Vorurteilen heraus und nehmen die menschliche Not oder Freude wahr. Wir nehmen uns Zeit.
Jesus schreibt wieder in den Sand und auch uns treffen oft die giftigen Blicke unserer Umgebung. Wir spüren die wachsende Einheit mit der verurteilten Frau.
Von dieser Einheitserfahrung, von einem überraschend wahrgenommenen inneren Frieden lese ich oft in den Berichten der Bekennenden Kirche. Die konfessionellen Trennungen zwischen den christlichen Gruppen als auch zu jüdischen oder andersgläubigen Menschen lösen sich auf.
Ebenso wird Jesus mit der ausgegrenzten Frau eins. Die in der jeweiligen Kultur bekannten Vorurteile verlieren ihre Bedrohungen.
Am Ende der Begegnung bleibt noch der Wunsch – an den anderen und oft an uns selbst -, aus der Gefangenschaft einer lebensbedrohenden Sucht befreit zu werden. Jesus sagt der nahe stehenden Frau, nachdem alle sie verurteilenden Menschen gegangen waren: „Ich verurteile dich auch nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr.“
Oft wird davon erzählt, wie Jesus auf der Straße Kranke von ihren Gebrechen heilt {4}. In den Geistlichen Übungen auf der Straße bekommen wir einen direkten Zugang dazu und können solche unglaublichen Geschichte selbst mit verfolgen. Jesus lebt in den biblischen Geschichten und jetzt als Auferstandener unter uns auf der Straße, also in der Öffentlichkeit, auch wenn er sich im Tempel aufhält oder in einem Privathaus. Zur Not wird das Dach abgedeckt, damit die Helfer den Gelähmten mit seiner Trage vor die Füße Jesu stellen können {5} oder eine Frau dringt in die abgeschirmte Männerwelt ein, berührt Jesus mit ihren Tränen und macht den privaten Ort zur Straße {6}.
Wenn ein Teilnehmer bei den Exerzitien auf der Straße Obdachlosigkeit aus eigener Erfahrung kennt oder jemand freundschaftliche Kontakte zu Menschen auf der Straße gefunden hat, dann können wir am Abend beim Austausch der Erfahrungen die Realität der Straße unter uns spüren. Wir nehmen darin die Anwesenheit von Jesus war, der von sich gesagt hat, selbst diese Straße zu sein {7}.
Drastisch macht uns Jesus deutlich, dass er an die nomadische Zeit seines Volkes anknüpft und auf der Straße lebt: „Die Füchse haben Höhlen und die Vögel Nester. Der Menschensohn aber hat nichts, wohin er sein Haupt legen kann.“ {8} Viele Religionen haben ihre spirituellen Wurzeln in der Angewiesenheit während dieser Zeit des Umherziehens. Wir sesshafte Menschen erfahren sie als bedrohlich und arm. Deshalb schirmen wir unsere privaten und gesellschaftlichen Lebensräume immer mehr ab. Dabei verlieren wir viele Mitmenschen in unserer Nähe aus den Augen. Dieser gesellschaftlichen Kälte begegnen Menschen in den besonderen Zeiten des Gebetes, des Pilgerns, von Geistlichen Übungen auf der Straße, ähnlich wie es Menschen auch in Zeiten äußerer Bedrängnis erleben. Die Bekennende Kirche ist in einer solchen Zeit entstanden und ihr wurde mitten in der Not auch Befreiung von vielen gesellschaftlichen Zwängen geschenkt. Auch wir dürfen die Freude der Taufe neu erleben, die uns durch Todeserfahrungen in die Auferstehung des liebenden Lebens führt, das brennt aber nicht verbrennt. Das Geschenk der Straße vor unseren Mauern der Abgrenzung öffnet uns den Blick und lädt uns zur Begegnung mit unseren Mitmenschen, mit Jesus und mit uns selbst ein.
Ich selbst bin den Weg eines Arbeiterpriesters gegangen und habe meine Straße in den unterschiedlichen Fabrikhallen gefunden, mitten in den oft gefährlichen, verletzenden und manchmal tödlichen Arbeitssituationen und den entmündigenden Strukturen. Doch mitten in diesen Schwierigkeiten durfte ich meinen Kolleginnen und Kollegen begegnen und durfte mit ihnen zusammen durch viele Konflikte hindurch unsere Würde neu ahnen. Auf dieser Straße des Entdeckens, die Jesus unter uns ist, entsteht kein Stillstand. Die erfahrene Gemeinschaft ist kein statisch begrenztes Gebäude, sondern der Hinweis auf das oft nicht erkannte göttliche Leben unter uns.
Anmerkungen
{1} Die Geschichte der Entdeckung dieser Exerzitienform in: Christian Herwartz, Auf nackten Sohlen – Exerzitien auf der Straße, Würzburg 2006; aktuelle Informationen: www.con-spiration.de/exerzitien
{2} 2. Buch Mose/Exedus 3,2
{3} Johannes 8,2-11
{4} Mt 9,35; 12,15.22; 14,14; 15,30; 19,2; Lk 6,18; 8,43; 17,14; 22,51
{5} Mk 2,4
{6} Lk 7,37ff
{7} Jo 14,6
{8} Mt 8,20; Lk 9,58
in: UNTERWEGS Festschrift 100 Jahre Rudolf Weckerling, Aktion Sühnezeichen Friedensdienste Berlin 2011, Seite 109 – 111.