Gott begegnen – überall
Die Wüste und die Berge sind in unserer jüdisch/christlichen Tradition besondere Orte der Gottesbegegnung. Sie fordern mit ihrer Schönheit zum Staunen und Verkosten heraus. Der Mangel und die oft lebensbedrohlichen Situationen an diesen Orten fördern das eigene Suchen nach den existenziellen Lebensgrundlagen. Hier können wir die Stimmen von Meinungen und oft verletzten Gefühlen in unserem inneren, mitgebrachten Orchester sortieren und offen werden für die häufig überhörte Stimme Gottes in uns.
Mose wird in der Wüste aufgefordert, die Schuhe auszuziehen, als er die Stimme des Lebens aus einem brennenden, aber nicht verbrennenden Dornbusch hörte {1}. Alles Störende sollte er auf dem heiligen Boden der Aufmerksamkeit weglassen und ganz ins Jetzt der Begegnung mit dem immer Anwesenden und Mitgehenden treten. Der anschließende Weg aus der Sklaverei wurde für das Volk zu einem Weg der Reinigung von vorläufigen Gottesvorstellungen. In der Wüste fand es zu seiner Identität im Vertrauen auf den einen Gott.
Ebenso ist das Pilgern nach Jerusalem oder zu einem anderen inspirierenden Ort unserer religiösen Geschichte eine erprobte Weise, nach dem Sinn im Leben zu suchen. Die Wertvorstellungen eines geschäftigen Alltags werden zurückgelassen. Als Hilfe gibt Jesus seinen Jüngern die Anweisung mit auf den Weg, Geld, Vorratstasche und Schuhe zurück zu lassen und sich der Führung Gottes anzuvertrauen, denn die Arbeitenden sind ihres Lohnes wert. Was ist die Arbeit der Pilgernden? Die Jünger sollen den gastgebenden Hausgemeinschaften Frieden bringen. Wird er nicht angenommen, so können sie unbeschwert weitergehen und sogar den Sand an ihren Füßen zurücklassen. Jesus kennt die Gefahren des Pilgerns. Er schickt die Jünger wie Schafe unter Wölfe {2}. Das Pilgern hat ein äußeres und inneres Ziel. Die Ausrichtung darauf hilft im loslassenden Gebet und im Gehen Gott näher zu kommen.
Ostern begann eine neue Etappe des Versteckspiels Gottes mit den Menschen {3}. Wie angekündigt, begegnet uns der Auferstandene in Menschen, die gesellschaftlich an den Rand gedrängt leben: in Hungernden und Dürstenden, in Kranken, Gefangenen, Blinden und Obdachlosen. Jesus hat uns diese Hinweise genannt, damit wir ihn leichter finden {4}. In den Evangelien wird in den ersten Auferstehungsgeschichten von den Jüngerinnen erzählt, wie sie Jesus begegneten als Gärtner in der Nähe des Grabes, im Fremden auf dem Weg nach Emmaus, in der Versammlung der Jünger bei geschlossenen Türen, in Galiläa auf einem Berg und als Grillmeister am See von Tiberias. Die Phantasie Gottes ist unerschöpflich, sich auf originelle Weise an allen Orten der Welt und in jedem Menschen finden zu lassen.
Wahrnehmen mit allen Sinnen
Ähnlich wie in der Stille der Wüste, in der Bergwelt, in einem Kloster oder im Rhythmus des Pilgerns werden wir im Einlassen auf das Versteckspiel Gottes angehalten, Überflüssiges zurück zu lassen. Wir dürfen zu wahrnehmenden Menschen werden, die das „Höre Israel“ mit allen ihren Sinnen entdecken {5}. Doch wie können wir mitten in einer lauten Stadtwüste zu Hörenden werden? Was hilft uns, auf die leise Stimme des verborgenen, mitgehenden Gottes in unserer Nähe zu hören? An welchem Ort will Er oder sein Engel uns persönlich begegnen? Ihm ist kein Ort und keine Lebenssituation fremd. Gott ist in ihnen anwesend und sucht uns jetzt in der Gegenwart zu begegnen. Die biblischen Geschichten helfen uns, ihn im Alltäglichen wieder zu erkennen. Sie werden fortgesetzt durch die neuen Begegnungsgeschichten mit dem Lebendigen heute.
Oft hilft uns eine Störung im Alltag, für das gegenwärtige Geschehen aufmerksam zu sein. Unser zielgerichtetes Handeln wird durch eine Krankheit, einen Unfall, ein ungeplantes Gespräch oder das Staunen über eine schöne Melodie oder eine Blume unterbrochen. Plötzlich sehen und fühlen wir eine neue Dimension in unserem Leben. Staunend kann unser Herz zu brennen beginnen und uns leiten, Überraschendes um und in uns zu entdecken. Aber wir brauchen nicht auf einen solchen Eingriff in unser Leben zu warten. Wir können Zeiten der Aufmerksamkeit reservieren und langsam ins intensivere Wahrnehmen eintreten, in dem wir viele Dinge und Gewohnheiten eine Zeitlang beiseite legen und vor allem im Urteilen und in unseren Aktivitäten langsamer werden.
Durch Schule und Beruf sind wir mehr im Vergleichen und Planen eingeübt als im innerlichen und äußerlichen Loslassen dieser Anspannung. Sie beiseite zu legen, ist unser Beitrag in die betende Gegenwart zu treten. Wir selbst oder der Geist Gottes in uns kommuniziert ständig mit unserem Ursprung. In der Stille des Augenblicks wird dieses Gespräch in uns hörbar. Im Jetzt erleben wir die Einheit mit unserer Vergangenheit und Zukunft. Hier kosten und verspüren wir die heilende Gegenwart Gottes, seine ewige Anwesenheit. Grenzen, die uns gewöhnlich wichtig sind, verlieren ihre lebenseinschränkende Härte und der Blick wird frei. Der Kontakt mit Gott führt in die Weite, die wir in der Beziehung zu jedem anderen Menschen und uns selbst finden dürfen. Unser Herz ist geöffnet. Wir sind eingetreten in das Versteckspiel Gottes mit uns.
In die Offenheit treten
In den Exerzitien auf der Straße, wie sie seit einigen Jahren in verschiedenen Städten angeboten werden {6}, wird die hier beschriebene Aufmerksamkeit für einige Stunden oder in 10tägigen Kursen eingeübt. Sie ist neben dem aktiven Loslassen von Aufmerksamkeit bindenden Beschäftigungen das Warten auf die Öffnung des Herzens, auf das Entdecken des inneren Gebetes.
Wir können nach Gott rufen oder auf andere Weise die Versuchungen abwehren, die uns ins Denken zurückrufen und so die Stimme des Herzens überhören lassen. Oft ist es nicht einfach, das schnelle Helfenwollen eine Zeitlang beiseite zu schieben. Widerstand tritt uns entgegen, die für andere Beschäftigungen verlorene Zeit oder das für dies oder jenes Anliegen nützliche Gebet in uns nicht zuzulassen. Oft suchen wir auch im Kontakt mit Gott die Bestätigung unserer Vorstellungen und nicht die Weite und die Barmherzigkeit, die er für uns bereit hält.
Nach einiger Zeit sind wir plötzlich, fast unerwartet, in der Stille und der Langsamkeit, ohne nach dem äußeren Schweigen gesucht haben. Mit Leichtigkeit bekommen wir dieses Geschenk manchmal mitten im Straßenlärm, in einer Menschenmenge oder auf einem einsamen Platz. Dann sind wir bei diesen geistlichen Übungen in unserer alltäglichen Steinwüste angekommen. Wir beginnen ihre Schönheit und eine neue Liebe zur dieser Stadt zu entdecken. Auch ihr Sog vom Leben abzulenken wird uns auf vielfältige Weise deutlich. Dieser Schritt in die Offenheit ist der Ausgangspunkt oder das Fundament für das weitere Suchen. Der Weg des Staunens hat begonnen.
Die damit verbundene Freude ist auch meist nach einigen Tagen auf dem Pilgerweg spürbar: „Ich wollte pilgern und hatte viele Bedenken – jetzt bin ich unterwegs und es ist gut so.“ Das Ziel des Pilgerns ist noch weit weg. Viele Lebenssituationen können auf dem Weg nochmals vor Gott ausgebreitet werden und Heilung finden, damit sie ohne Schmerzen mitgehen und bei der Ankunft am Ziel mitjubeln können.
Schuhe ausziehen
Bei den Exerzitien auf der Straße gibt es kein räumlich hervorgehobenes Ziel, zu dem sich alle aufmachen können. Straße ist in diesem Zusammenhang ein Symbolwort für den Wunsch unbegrenzt, also überall nach Gott zu suchen. Gott ist in jeder Begegnung, in allen Dingen zu finden, wie Ignatius von Loyola oft gesagt hat {7}. Dieser Satz bestätigt sich auf vielfältige Weise bei jedem Exerzitienkurs auf der Straße ganz persönlich. Häufig finden sich die „Dornbüsche der Anwesenheit Gottes“ {8} in der Nähe von gesellschaftlich ausgegrenzten Menschen oder von Lebensbereichen in uns, die wir nicht gerne sehen wollen. Das sind Orte, um die wir im Alltag häufig einen Bogen machen und an denen wir nicht stehen bleiben oder uns gar auf den Boden setzen wollen, zum Beispiel in die Nähe einer Bettlerin.
Die Teilnehmer/innen brechen wie beim Pilgern täglich auf und lassen sich allein von ihren geöffneten Herzen führen. Abends erzählen sie in der Exerzitiengruppe von den Erfahrungen des Tages. Manchmal spüren sie unterwegs an ganz unterschiedlichen Ort in sich eine „Wärme“, die sie aufmerksam macht. Ihr Herz wird bewegt. Sie beginnen sich neugierig umzusehen und entdecken vielleicht erst beim abendlichen Erzählen, was sie während der Einsamkeit des Tages innerlich berührt hat. Manchmal bemerken sie Tränen in ihren Augen oder ein anderes Zeichen, das sie auf ihr brennendes Herz aufmerksam macht {9}. Dann wird ihnen in den Exerzitien auf der Straße geraten – ebenso wie Mose vor dem brennenden Dornbusch oder den 72 Jüngern bei ihrer Aussendung {10} – ihre Schuhe auszuziehen. Sie stehen jetzt ungeschützt an dem Ort, der für sie zu einem heiligen Ort werden kann. Das ängstlich-schamvolle Verstecken vor der eigenen Realität wird hier für sie erlebbar. Wenn sie an diesem Ort bleiben oder noch etwas näher treten, dann helfen ihnen die nackten Füße ihres Herzens, dass sie mit all ihren Sinnen zu Hörenden der Stimmen werden, die sie an diesem Ort und in sich selbst wahrnehmen.
Wenn sie die Schuhe der Überheblichkeit, des Vergleichens, des Lauerns auf eine Gefahr, der Gewaltbereitschaft und viele andere abgelegt haben, dann ahnen sie die Freude, die Jesus in der ersten Seligpreisung der Bergpredigt beschrieben hat: „Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich.“ {11} Noch eindringlicher in einer neuen Übersetzung: „Selig sind die Armen, denen sogar das Gottvertrauen genommen wurde, denn ihnen gehört Gottes Welt.“ {12} Ohne die distanzierenden Hindernisse, die sich in dem Symbol der abgelegten Schuhe oder in einer anderen Bloßstellung ausdrücken können, schmelzen alle Hindernisse zwischen Gott und seinem Geschöpf zusammen. Dann wird ein Stück mehr die Einheit mit ihm und seine Barmherzigkeit erlebbar. Die Übenden finden in Ihm keine Spur von Fremdbestimmung, sondern die in sie gelegte Identität. Sie stehen – vor einem Gefängnis, unter Drogenabhängigen oder Obdachlosen, in einer Gedächtnisstätte der Willkür und grausamen Vernichtung von Menschen, vor einer Babyklappe, einem Schutzhaus für Kinder, Frauen oder Ausländer, die aus schwierigen Situationen fliehen mussten, an einem Fluss oder anderswo – mit nackten Füßen und werden zu einem Zeichen der Gewaltlosigkeit. Oft sprechen sie dann Menschen an, die ihnen ihr Leben erzählen oder sie fragen, wonach sie suchen. Nach und nach lernen sie den Auferstandenen zu entdecken, besser auf ihn zu hören und in der Freude des österlichen Versteckspiels zu leben.
Mitten in Versuchungen
Wie in der Wüste warten die Dämonen nicht lange, die Übenden vom Weg der inneren Kommunikation und des Schauens abzudrängen. Menschen, die in die Abgeschiedenheit der Wüste oder eines Klosters gingen, Pilger, aber auch Maler {13} haben davon eindringlich berichtet. Die Ernsthaftigkeit, in Einheit mit dem Leben und damit in Gott zu leben, wird geprüft. Wie Schafe unter Wölfen erfahren wir uns.
In den Exerzitien auf der Straße üben wir das Entdecken Gottes und das Leben in Einheit mit ihm zwischen vielen Symbolen der Sklaverei. Unterschiedliche Strukturen isolieren und vereinsamen die Menschen. An vielen Orten werden wir durch Gebäude oder auf Werbetafeln ermahnt, das Geld anzubeten, sich mit Spielen abzulenken oder uns den Mächtigen nicht zu widersetzen {14}. Die Dämonen täuschen eine Wirklichkeit vor – geradezu wie die optische Täuschung einer Fata Morgana in der Wüste -, die dem Erleben des brennenden Herzen in uns oder dem brennenden, aber nicht verbrennenden Dornbusch widerspricht. Mose hat dieses sehr sprechende Bild der Liebe in der Wüste gesehen. Einzig die Liebe brennt und verbrennt doch nicht {15}.
Dämonen sind kein kritisch nachfragendes Aber. Ihr „ja, aber“ schleicht sich unbemerkt als etwas Nagendes und Ablenkendes in unsere Wahrnehmung ein {16}. Es reißt uns aus der geschenkten und vertrauten Naivität des Gebetes heraus. In ihrer Eifersucht wollen Dämonen die entdeckte heilende Barmherzigkeit Gottes in uns beiseite schieben. Oft lassen wir uns lange täuschen. Wenn wir aber die dämonischen Kräfte erkannt haben, diese Wölfe, die die Ängste in uns zum Lodern bringen, dann stehen wir an einer Weggabelung. Welche Richtung werden wir einschlagen? Nehmen wir den Weg der Bedenkenträger oder verächtlichen Zyniker oder den Weg der Armut, des Spottes und der kindlich liebenden Naivität, auf dem wir uns von dem Vertrauen Gottes in uns weiter leiten lassen?
Anmerkungen
{1} Ex 3,1-5
{2} Lk 10,1-11
{3} P. Ringeisen, Auf Gottes Klopfzeichen hören, München 1982, S. 45
{4} Mt 25,31-46
{5} Dt 6,4; Mk 12,29
{6} Zur Geschichte dieser Exerzitienform: Christian Herwartz, Auf nackten Sohlen – Exerzitien auf der Straße, Echter, Würzburg 2006
{7} Ignatius von Loyola lebte im 16. Jahrhundert und gründete den Jesuitenorden. Seine geistlichen Erfahrungen finden sich in den biographischen Notizen: Der Bericht des Pilgers, Übersetzung von Michael Sievernich, Wiesbaden 2006; seine Anweisungen zur Begleitung von Exerzitien in: Geistliche Übungen, Übersetzung von Peter Knauer, Würzburg 1998
{8} vgl. Dtn 33,16
{9} vgl. Lk 24,32
{10} Lk 10,4; vgl. auch Fußwaschung Jo 13,1-20; Jesus zieht das Obergewand aus
{11} Mt 5,3
{12} Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh 3/2007
{13} Auf dem Isenheimer Altar in Colmar stellte Matthias Grünewald Antonius in einem Heer von Dämonen dar
{14} dieVersuchungen Jesu in der Wüste Mt 4,3-10
{15} Christian Herwartz Entdecken der Mysterien des Alltags, in: Wort und Antwort 49 (2008) Aprilheft
{16} Lk 9,59-62
in: Meditation. Zeitschrift für christliche Spiritualität und Lebensgestaltung. 34. Jahrgang Heft 4/2008, Themenheft ‚Wüste‘ (c) Matthias-Grünewald-Verlag der Schwabenverlag AG, Ostfildern, 2008