1 Christian Herwartz Das klebrige Aber verlieren

Wir Jesuiten und Kirchenleute in Leitungsfunktionen spüren unsere Un-
einigkeit nach dem Offenlegen des sexuellen Missbrauches durch einige
Jesuiten an Kindern und Jugendlichen und das Verschweigen dieser Ver-
brechen.
Diesen Prozess der Uneinigkeit hat Jesus vorausgesehen und seine Of-
fenlegung gewünscht (Mt 10,34-39; Lk 12,49-53). Er selbst hat den Prozess
der Spaltung durchlaufen: Einerseits wurde sein Erneuerungsweg in der
abgelegenen Provinz Galiläa freudig aufgenommen. Doch andererseits
wurden sein Verhalten und seine Predigt von den Meinungsführern in Je-
rusalem zunehmend als politisch gefährlich und als religiös unrein einge-
stuft. Daraufhin stellte Jesus, wie Matthäus erzählt (13,10f), das Predigen
ein und redete nur noch in Gleichnissen, um wenigstens den Jüngern und
Jüngerinnen Einblick in seine Botschaft zu geben. Da verließen ihn viele
seiner Anhänger, und er fragte die Jünger: „Wollt auch ihr gehen?“ (Joh
6,68) Petrus bekennt sich – vielleicht schon im Namen des verbliebenen
Restes – zu Jesus als dem Messias, dem „Sohn des lebendigen Gottes“ (Mt
16,13-26). Dieses Bekenntnis eröffnet einen Raum des Vertrauens, in dem
Jesus von seinem bevorstehenden Leiden erzählt. Da bricht die bisher ver-
deckte Uneinigkeit zwischen den Freunden auf: Petrus nimmt Jesus zur
Seite und will ihn von seinem Weg nach Jerusalem abbringen, der ja ein
Weg des Offenlegens der ganzen Realität unter uns Menschen ist. Sehr
energisch – „Weg mit dir, Satan, geh mir aus den Augen“ – weist er Petrus
ab und macht seine Einheit mit dem Ursprung des Lebens deutlich, den
wir Gläubigen mit ihm Vater nennen. Danach ermahnt Jesus uns alle:
„Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf
sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben retten will, wird es ver-
lieren.“ (Mt 16,34) Auf seinem weiteren Weg erfährt Jesus, wie ihn alle
Freunde verlassen. Auch er selbst spürt die Gefahr der Abspaltung vom
Willen des Vaters in der Nacht vor seinem Tod (Mt 26,39). Doch Jesus
weicht vor der ganzen Wirklichkeit in dieser Welt und vor dem Angesicht
des Vaters nicht aus.
Wir Jesuiten leben nach der Offenlegung des sexuellen Missbrauchs
an den uns anvertrauten Kindern und Jugendlichen mitten in dieser Zer-
rissenheit, die uns Jesus vorausgesagt hat. Der Kommunikationsabbruch
und unser gegensätzliches Verhalten werden jetzt deutlich. Manche ältere
Mitbrüder bangen um ihr Lebenswerk; die in der Verantwortung Stehen-
den suchen den Neuanfang auch in der Begegnung mit den in der Ge-
schichte verletzten Menschen, einige Jüngere sagen: „Das war vor unserer
Zeit.“ Den notwendigen Reinigungsprozess wünschte uns Jesus:
Ich bin gekommen, ein Feuer anzuzünden auf Erden; was wollte ich lieber,
als dass es schon brenne! Aber ich muss mich zuvor taufen lassen mit einer
Taufe, und wie ist mir so bange, bis sie vollbracht ist! Meint ihr, dass ich
gekommen bin, Frieden zu bringen auf Erden? Ich sage: Nein, sondern
Zwietracht. Denn von nun an werden fünf in einem Hause uneins sein,
drei gegen zwei und zwei gegen drei. Es wird der Vater gegen den Sohn sein
und der Sohn gegen den Vater, die Mutter gegen die Tochter und die Tochter
gegen die Mutter, die Schwiegermutter gegen die Schwiegertochter und die
Schwiegertochter gegen die Schwiegermutter. (12,49-53)
Die Uneinigkeit unter uns ist auf vielfältige Weise zu spüren, denn jeder
von uns versucht, sich spontan hinter einem der vielen Abers zu ver-
stecken: Aber ich habe so etwas nicht gemacht. – Aber ich habe davon
nichts gewusst. – Aber ich war kein Amtsträger, der hätte handeln müs-
sen. – Aber ich hatte die Dramatik der Übergriffe in der damaligen Zeit
nicht begriffen. – Aber ich wollte klug reagieren. – Aber ich war weit weg
und habe deshalb nichts gewusst. – Aber ich war noch kein Jesuit. – Aber
ich war im Ausland. – Aber ich bin jetzt krank oder zu alt, um mich an
irgendetwas erinnern zu können. Diese Aber-Liste kann leicht verlängert
werden.
In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg – ich habe sie als Kind in
Deutschland erlebt – wurde ausweichend von der guten alten Zeit und
auch von der Kameradschaft im Krieg erzählt. Über den Verlust der vie-
len Menschen, die von Deutschen im Namen Deutschlands umgebracht
wurden, sollte geschwiegen werden. Viele leugneten gar die systemati-
sche Vernichtung von Behinderten, Roma, Juden, Kriegsgefangenen oder
Menschen in den besetzten Gebieten. Wenn das Geschehen nicht mehr
geleugnet werden konnte, dann begann litaneiartig die Aufzählung der
Abers. Die Verbrechen oder wenigstens doch das Wegsehen wurden als
notwendig gerechtfertigt. Die Schmerzen der Überlebenden kamen nicht
in den Blick und dauern doch oft bis heute an, wie wir in den Berichten
der Freiwilligen von Aktion Sühnezeichen immer wieder lesen können.
Doch wenn die Verleugneten von den Ereignissen erzählen konnten, fan-
den sie – selbst im feindlich gesinnten Umfeld – zu der ihnen abgespro-
chenen Würde zurück.
Die Uneinigkeit im Orden und in der Kirche erlebe ich nicht so kämp-
ferisch wie nach dem Krieg, als selbst die Märtyrer aus dem Widerstand
gegen die Nazidiktatur weggedrängt wurden, jene Frauen und Männer,
die uns 1945 die Chance des Neuanfangs eröffnet haben. Oft legten sie
noch im Gefängnis im Angesicht des Todes Zeugnis davon ab, dass die
Feindschaft zwischen Völkern, Ideologien und zwischen den christlichen
Konfessionen in ihnen überwunden ist. Ihr Zeugnis war ähnlich wie bei
Jesus systemsprengend und musste deswegen von den Systemhörigen bei-
seitegeschoben oder infrage gestellt werden. Das Engagement der Wider-
stand Leistenden schien nicht tauglich zu sein, der neuen Gesellschaft im
Kalten Krieg und im Wirtschaftswunder beizustehen.
Nach den schweren Verletzungen stießen die sexuell missbrauchten
Kinder und Jugendlichen in ihrem Umfeld auf eine ähnliche Schweige-
mauer. Sie wurden in ihrer Not mit Hinweis auf die Verdienste des Or-
dens allein gelassen oder beschwichtigt. Die notwendigen Fragen an die
Verantwortlichen und an die Ideologie der unbegrenzten Bedürfnisbe-
friedung, die auch nicht haltmacht vor den grundlegend zu schützenden
Belangen anderer Menschen, durften nicht gestellt werden. Die Opfer
der gewalttätigen Grenzüberschreitungen wurden beschuldigt, den Tat-
bestand zu übertreiben oder sich selbst mit ihrem Verhalten schuldig ge-
macht zu haben. (Eine Frau schrieb in ihrem Lebensbericht, wie sie bis
zu ihrem 40. Lebensjahr unter dem Schuldgefühl litt, als 12-jährige einen
60-jährigen Mann verführt zu haben.) Die kirchlichen und gesellschaft-
lichen Autoritäten sollten geschützt werden. Die weiter offenen Wunden
bremsten die Opfer in ihrem Leben häufig aus, menschliche Beziehungen
kamen nicht zustande oder nahmen tragische Verläufe auch für ihre Kin-
der. Sie leben oft weiter in einer verdeckten Verstörtheit.
Die neue Situation
Anfang 2010 konnte das Ausmaß des Verbrechens geahnt werden, und
der Orden übernahm die Verantwortung. Die Opfer wurden gehört. Sie
hatten ein Gegenüber bekommen. Die Macht ihrer Erzählungen wurde
deutlich und sie ist auch jetzt nicht zu begrenzen. Ihre Würde war der
kirchlichen Macht geopfert worden, und dieses Unrecht schrie nun gen
Himmel. Als das Unrecht sichtbar wurde, musste jeder Jesuit in Deutsch-
land mitten in seiner Angst einen inneren Prozess durchlaufen: Will ich
jetzt auf die Erzählungen der Opfer hören oder halte ich die Ausführungen
für übertrieben und kann sie beiseiteschieben? So unglaublich es klingen
mag, manche von uns zogen sich hinter eines der Aber zurück und hatten
die Illusion, dass bald Gras über den Skandal wachsen und das Leben wei-
ter gehen würde. Was für ein hohles Leben sollte da weitergehen?
Jeden von uns traf die Nachricht in einer anderen Situation. Der oft aus-
saugende berufliche Alltag musste weiter gehen. Wann konnte sich der
Einzelne die Zeit nehmen, den eigenen Verstrickungen in das nun sicht-
bare Unrecht nachzuspüren? Da wir alle religiöse Menschen sind, war
Vielen bald klar: Wir brauchen nicht unsere eigene Ehre retten, sondern
dürfen uns in das schmerzhafte Wir des Ordens stellen. Für jeden von
uns stand eine notwendige Bekehrung an. Dieser Prozess ist nicht planbar
und braucht bei jedem seine Zeit. Aber es gibt auch ein verständliches
Drängen der Opfer, sie nicht in ihren Leiden warten zu lassen. Wenn Jesus
wünscht, ein Feuer anzuzünden, dann will er diesen Prozess vorantreiben.
Die persönliche Bekehrung ist eingebettet in die Offenheit, auch auf
andere Machtmissbräuche im kirchlichen System und in den Ordens-
strukturen unverstellt zu sehen. In ihnen leben wir ja weiter. Den Weg
der Bekehrung zu gehen braucht den Mut, die Wirklichkeit ganz zu sehen,
auch lieb gewordene Privilegien zu bemerken und die erkannten Fehler
nicht wiederholen zu wollen. Bekehrung ist ein individueller und ein ge-
meinschaftlicher Prozess, in dem der Orden und die Kirche ihre Praxis
ändern müssen. Ähnlich waren sie nach der systematischen Vernichtung
der jüdischen Geschwister herausgefordert, die ganze eigene Geschichte
kritisch anzusehen. Die Christen hatten jahrhundertelang dieses Verbre-
chen mit verachtendem Reden und Gewalttaten gegenüber dem Volk Jesu
mit vorbereitet. Sie haben dann gegenüber dem Holocaust weitgehend
geschwiegen. – Auch bei den Jesuiten durfte jahrhundertelang weltweit
kein getaufter Jude in den Orden aufgenommen werden. Dieses Verbot
– eine strukturelle Sünde – wurde nach dem Krieg aufgehoben und wir
kehrten langsam zu der besonderen Liebe unseres Gründers, Ignatius von
Loyola, zu dem Volk Jesu zurück. Am Ende des 16. Jahrhunderts war ein
Drittel aller Jesuiten jüdischer Herkunft gewesen. Auch der Papst legte
zum Jahreswechsel 2000 ein Schuldbekenntnis für die ganze Kirche ab.
Doch die eingefleischten Vorurteile gegenüber dem jüdischen Volk und
anderen ausgegrenzten Gruppen zu überwinden, bleibt eine andauernde
Aufgabe wie bei einem trocken gewordenen Trinker, der sich dem Rück-
fall täglich neu widersetzen muss.
Ein ähnliches Schuldbekenntnis ist von den christlichen Konfessionen
für 2017 geplant. Vor 500 Jahren veröffentlichte Luther seine kirchen-
reformerischen Thesen in Wittenberg. In diesen Bekenntnissen soll die
Geschichte der Verletzungen benannt und ein Weg gegenseitiger Ach-
tung gesucht werden.
Wir Jesuiten in Deutschland müssen weiter einen glaubwürdigen Weg
der Sühne gehen, damit wir uns weiter öffnen für den Weg der Versöh-
nung. Demütig bitten wir die Opfer um dieses Geschenk. Jeder von uns
wird seine Schritte gehen und wir als Gemeinschaft wollen weiter unsere
Strukturen und eingeschliffenen Verhaltensweisen erneuern.

Das Schweigen überwinden
Nach einem erkannten Skandal wieder ins Sprechen zu kommen ist nicht
einfach. Jesus erzählt in diesem Zusammenhang die Geschichte vom kö-
niglichen Hochzeitsmahl (Mt 22,1-14). Ein Gast kann an der Freude über
die eröffnete Liebe zwischen zwei Menschen keinen Anteil nehmen. Er
hat kein hochzeitliches Gewand an. Darin drückt sich seine Not aus. Viel-
leicht lebt er in Scheidung, oder er trauert um ein verstorbenes Kind? Der
Hausherr spürt intuitiv die Blockade dieses Menschen, der dem Fest fremd
bleibt, und fragt ihn nach dem Grund. Doch er bleibt stumm vielleicht
vor Scham über das Erlöschen seiner Liebe. Wenn wir verstockt schweigen,
kommt keine heilende Luft an die eitrige Wunde der Täter, der Mitwis-
ser, der kirchlich Verantwortlichen oder der aus welchen Gründen auch
immer nicht ins Vertrauen Gezogenen. Dieses Schweigen, das die Barm-
herzigkeit Gottes verneint, schließt innerlich aus der Gemeinschaft der
Kirche aus. Der Hausherr lässt dem Mann Hände und Füße binden und
ihn in die Finsternis bringen. Er lebte mit seinem Verhalten längst mitten
in der Hochzeitsgesellschaft im Dunkeln.
Auch das gesellschaftliche Schweigen in der Kirche ist lebenszerstö-
rend. Der Evangelist Markus erzählt davon (3,1-6). Jesus bittet am Sabbat
einen Mann mit einer steif gewordenen Hand in der Synagoge aufzu-
stehen. Dann fragt er die Gesetzestreuen: „Was ist am Sabbat erlaubt:
Gutes zu tun oder Böses, ein Leben zu retten oder es zu vernichten?“ Die
Anwesenden schwiegen. Jesus sieht sie der Reihe nach an, voll Zorn und
Trauer über ihr verstocktes Herz. Doch er findet zurück zur Liebe, achtet
das Gesetz des Lebens und heilt den Kranken. – Die Pharisäer und die
Anhänger des Herodes beschließen daraufhin, Jesus umzubringen.
Dieses an den äußeren Geboten und Strukturen hängende Schweigen
erleben wir auch jetzt. Es sind oft scheinbar vorbildlich lebende Mit-
brüder mit hohem Ansehen, die sich aber fernhalten wollen von dem
schmutzigen Geschehen des sexuellen Missbrauchs. Eine innere und äu-
ßere Distanzierung wird offenbar und spaltet den Orden und die Kirche
in der Nachfolge Jesu.
Der Jesuitenorden und wohl auch die Kirche ist weltweit gespalten in
die Länder, die vor uns diesen Prozess der Offenlegung gegangen sind,
und uns hier in Deutschland, die wir sie dabei allein gelassen haben. Wir
dachten wohl, dass bei uns so etwas nicht vorkommen kann. Noch vor ei-
nigen Jahren meinten Menschen in der Kirche: „Das ist nur ein Problem
in den angelsächsischen Ländern.“ Diese Spaltung des Ordens besteht
auch nach den Ereignissen in Deutschland weiter. Große Teile der Welt-
kirche halten ein solches Verbrechen in ihren Reihen weiter für unmög-
lich.
Um nicht missverstanden zu werden: Nicht jeder von uns ist gehalten,
öffentlich zu den hier angesprochenen Ereignissen Stellung zu nehmen.
Die Umkehr ist wie alle anderen Glaubenswege vielfältig. Gemeinsam
gilt für uns alle, mit unseren Fähigkeiten ins Hören auf die Bedrängten
zu kommen, in ihnen Gott zu finden und in diesem Hören trotz aller klu-
gen Unterscheidungen zu bleiben. Den Opfern ohne ein ängstliches Aber
zuzuhören und ihnen zu glauben, ist der erste Schritt auf dem Weg der
Umkehr. Wenn wir uns gegenseitig in diesem Bemühen sehen, beginnt
mitten im greifbaren Leid auch bald ein Weg der Freude. Eine neue So-
lidarität wächst von dieser Leid anerkennenden Praxis her, die zum Aus-
tausch drängt, ein ähnliches Sehen der Wirklichkeit wahrnimmt und zu
übereinstimmenden Beurteilungen findet. Dabei wird manchen von uns
das Vertrauen von Menschen geschenkt, die sexuell missbraucht wur-
den. Andere hören den direkten Tätern und anderen Verantwortlichen
zu. Andere entdecken den vielfältigen Machtmissbrauch in Kirche und
Gesellschaft und sehen nicht weg. Sie entdecken, wie sie die beobach-
tende Sicht auf die Not anderer Menschen verlassen und neben den Be-
troffenen stehen.
Fassungslos hören wir von der nun meist jahrzehntelang zurücklie-
genden und doch ganz gegenwärtig gespürten Einsamkeit der damaligen
Kinder und Jugendlichen, von ihren andauernden oder wieder aufbre-
chenden Schmerzen in ihrer heutigen Umgebung. Diese bis ins Unter-
bewusste dringende Destabilisierung wurde ihnen von Jesuiten oder uns
nachstehenden Personen zugefügt.
Da der sexuelle Missbrauch ein weitverbreitetes Unrecht in unserer Ge-
sellschaft ist – Schätzungen sprechen von solchen Erfahrungen im Leben
jeder dritten bis vierten Frau und jeden siebten Mannes in Deutschland
– werden wir von Menschen aus ganz unterschiedlichen Kreisen ange-
sprochen, die über ihre Not sprechen oder uns auf anderen Machtmiss-
brauch in Kirche und Gesellschaft hinweisen. Sie bitten uns um solidari-
schen Widerstand. Mitten in dieser tendenziellen Überforderung stoßen
wir auch auf ungerechtfertigte Forderungen und verständlichen Hass der
Verletzten, deren Anliegen lange beiseitegeschoben wurden. Wenn wir
uns davon nicht verhärten lassen, beginnt eine neue Zeit des Zuhörens
und auch des Wahrnehmens der eigenen Verletzungen durch die Opfer,
in denen wir manchmal deutlich nein gegenüber ihren Übergriffigkeiten
sagen müssen. Ich sehe keinen Grund, nun selbst als Opfer beleidigt zu
reagieren, wie ich es auch in der Kirche bei einigen Verantwortlichen
bemerkt habe. Wir sollten den Ursprung des Konfliktes nicht aus den
Augen verlieren. Wenn Mitbrüder sich in ihrer Eitelkeit verletzt fühlen,
spalten sie die Gemeinschaft aufs Neue. Auch sie bestärken uns indirekt,
im Bekehrungsprozess weiter zu gehen.
In die schmerzhafte Solidarität mit vielen gerufen
Ganz unerwartet stehen uns Menschen aus oft gegensätzlich agierenden
gesellschaftlichen Gruppen bei, da das Thema Machtmissbrauch alle trifft.
Die sexualwissenschaftliche Ambulanz der Universität plakatiert in Mün-
chen: Lieben sie Kinder mehr als ihnen lieb ist?
Nicht nur unser hörendes Mitgefühl, sondern auch therapeutische Hil-
fe ist für Opfer und Täter wichtig, um aus Depressionen herauszufinden.
Wenn einige Jesuiten, die eine entsprechende Ausbildung haben, das Ver-
trauen für solch eine professionellen Begleitung bekommen, können sie
entsprechende Angebote machen. Den meisten von uns wird wohl eher
das Verhalten Jesu gegenüber der Frau, die widerrechtlich allein wegen
Ehebruchs gesteinigt werden sollte, richtungweisend sein (Joh 8,1-11). Je-
sus bückt sich vor der Frau an dem Ort, wohin die Steine prasseln würden.
Er distanziert sich nicht von ihr. Da die aufgebrachten Männer sich nicht
beruhigten, steht er auf und sagt: „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten
Stein.“ Er selbst bleibt in der gefährlichen Nähe zu der Frau, deren Liebe
mit einem Mann zum Skandal geworden ist. Wir sind in die Nähe unse-
rer eigenen Opfer und aller beiseitegeschobenen Menschen gerufen, um
Jesus dort neu zu entdecken, wohin wir ihn gedrängt haben.
Das kirchliche Schweigen steht auf dem Prüfstand. Wir religiöse Men-
schen üben im hörenden Schweigen den Willen Gottes wahrzunehmen
und ihm zu folgen, in welche Not er uns auch rufen mag. Dieses hörende
Schweigen sucht Gott nicht im Sturm, nicht im Erdbeben, nicht im Feu-
er – er will uns nicht mit Geschrei erreichen – sondern im sanften, leisen
Säuseln, wie er mit Elija spricht (1 Kön 19,11f). Die erfahrene Wahrheit
macht frei und soll nicht verborgen bleiben (Joh 8,30-39).
In der Begegnung mit anderen Menschen ist uns das gegenseitige Ver-
trauen wichtig, das Diskretion erfordert. Doch wann wird die Verschwie-
genheit zum Vorwand, den Machtmissbrauch in den eigenen Reihen zu
verschleiern? Die Regeln unserer Gemeinschaft, die Konstitutionen, le-
gen großen Wert auf die gegenseitige Begleitung. Jesuiten sollen wie im
Evangelium (Mk 6,7; Lk 10,1; Joh 8,17) sich zu zweit engagieren (Sozius-
regel). Die gegenseitige Offenheit, die nicht eine misstrauische Kontrolle
ist, in der kein Vertrauen wachsen kann, will geübt sein. In der ausdif-
ferenzierten und in immer größere Entscheidungsbereiche zusammenge-
fassten Gesellschaft, in der wir alle leben, finden wir uns oft vereinsamt
vor. Wir Jesuiten leben mit sehr unterschiedlichen Arbeitsfeldern und
Bezugsgruppen zusammen und können uns nicht mehr leicht gegenseitig
über die Schulter sehen, um unsere Freuden und Fragen miteinander aus-
zutauschen. Die in der Soziusregel angemahnte Begleitung ist in vielen
Arbeiten von Jesuiten in Vergessenheit geraten. Die damit gegebene Ver-
einzelung hat – aus meiner Sicht – die Tür für viele Missstände geöffnet.
Dabei geht es nicht nur um das Vermeiden von Fehlern, sondern auch
um die Ermutigung, gemeinsam Missstände in Kirche und Gesellschaft
anzusprechen.
Dazu gehört die Männern vorbehaltene Leitungsdomäne in der Kirche.
Sie zu legitimieren ist in der Geschichte immer fragwürdiger geworden
und schreibt gesellschaftliche Verhältnisse gegen die Offenheit des Evan-
geliums fest. Jesus hat Frauen und Männer um sich versammelt und sie zur
Verkündigung der Frohen Botschaft ausgesandt. Doch das Übersehen der
Frauen begann schon in den biblischen Texten. Denkverbote, die sich auf
diese Auslassungen berufen, blockieren das Wahrnehmen der Würde von
Frauen und Männern in der Kirche heute.
Beziehungen sind greifbare Realisierungen der Liebe Gottes unter uns.
Dazu gehören sowohl helfende funktionale Beziehungen als auch lieben-
de Freundschaftsbeziehungen, ohne die Menschen seelisch austrocknen.
Sie sind weltweit auch bei Amtsträgern real und für die Lebendigkeit im
Glauben auf unterschiedliche Weise notwendig. Sie nicht nur schweigend
zu dulden, sondern ohne Tabus über die Erfahrungen in einen Austausch
zu kommen, ist für ein gesundes Wachstum des Glaubens nötig. Das
Wachsen der Liebe zu Gott und den Menschen braucht Schutzräume des
Vertrauens – „Stört die Liebe nicht“ (Hohelied 3,5) –, in denen die leisen
Impulse des Lebendigen hörbar werden und die eigenen Intuitionen im
gegenseitigen Vertrauen geprüft werden können.