2 Bei den Exerzitien auf der Straße die Handschrift Gottes in uns wahrnehmen

von Christian Herwartz SJ und Katharina Prinz

Die Exerzitien auf der Straße sind Ende der 90er Jahre entstanden. Mitten in Berlin-Kreuzberg in einer Wohngemeinschaft, später in den Räumen eines Obdachlosentreffs oder einer Notunterkunft baten Menschen um Exerzitienbegleitung. Sie waren wie Mose über die ihnen bekannte Umgebung hinausgezogen und entdeckten in der Stadt überraschend brennende und nicht verbrennende Dornbüsche. Wie Mose zogen sie ihre Schuhe aus und hörten an diesem Ort auf die Botschaft für sie. Die dabei gemachte Erfahrung ermutigte die Berliner Gruppe Ordensleute gegen Ausgrenzung, die sich seit vielen Jahren regelmäßig zum Gebet vor der Abschiebehaft in Berlin trifft, Übende in 10tägigen Kursen zu begleiten. Viele entdeckten diesen geistlichen Weg in alltäglichen Situationen und entdeckten immer neue Formen, andere auf ihren Wegen zu begleiten. Doch vor allem bekommen die Übenden von den Menschen auf der Straße und von den anderen TeilnehmerInnen überraschend einen Anstoß, über den sie zum eigenen Sehen finden.

Die Kurse werden von den Einladenden mit drei Impulsen begleitet:

– Die Hinführung in die Achtsamkeit und das Gebet.

– Das Nachgehen der eigenen Sehnsucht auf der Straße mit dem Impuls: Geht wie Mose eurer Sehnsucht nach über die euch bekannte Steppe hinaus und entdeckt den Heiligen Boden auf dem Gott mit euch sprechen will. Er offenbart sich mitten in den Stacheln eines Dornbusches als brennendes aber nicht verbrennendes Feuer der Liebe (Ex. 3).

– Die Emmausgeschichte ermutigt uns, das neue Sehen zu teilen und feiern (Luk. 24).

Auf dem Symposion „Geistliche Begleitung“ wurde zweimal ein Workshop angeboten: „Was können geistliche BegleiterInnen von den Exerzitien auf der Straße lernen?“

Wir, Katharina Prinz und Christian Herwartz, sind im Wesentlichen beim ersten Impuls der Exerzitien auf der Straße geblieben. Wir entführten die TeilnehmerInnen innerlich auf die Straße.

Das Wort Straße weist auf den offenen Bereich hin, den wir nicht wie die eigene Wohnung verschließen können. Eigene Pläne werden durchkreuzt. Wir werden von vielerlei Ereignissen überrascht. Ähnlich werden wir bei innerer Bereitschaft von der unbegrenzten Gegenwart Gottes herausgefordert. Auf dieser Straße mitten durch unseren Alltag beschreibt Jesus seine Situation als die eines Obdachlosen: Die Füchse haben Höhlen, die Vögel Nester, der Menschensohn hat nichts, wohin er sein Haupt legen kann (Lk 9,58). Jesus selbst ist unter uns zur Straße geworden: Ich bin die Straße/der Weg, die Wahrheit und das Leben (Jo 14,6).

Auch seine Jünger sendet Jesus jeweils zu zweit auf die Straße Richtung Jerusalem und bereitet sie darauf vor, wie Schafe unter Wölfen zu leben, ohne Schuhe, ohne Geld, ohne Beutel, ohne zu grüßen (Lk 10,3f). Dieses Weglassen von Sicherheiten ist eine hilfreiche Meditationsanleitung – auch im alltäglichen Leben.

Ins Gebet kommen

Wir haben unsere Schuhe ausgezogen, um die Wirklichkeit an unsere nackten Sohlen heranzulassen. Die hochhackigen Schuhe haben wir ausgezogen, mit denen wir auf andere Menschen hinunter sehen, oder die Sportschuhe, mit denen wir allen Konflikten ausweichen und spontan zur Flucht neigen, oder die Schuhe mit Stahlkappen, die wir auch als Waffen einsetzen können. Alles Bedrohliche vermeidend gingen die JüngerInnen gewaltlos zu ihren Gastgebern und wünschten ihnen den Frieden. Diesen Frieden geschenkt zu bekommen ist auch unsere Hoffnung in den Exerzitien.

Ignatius von Loyola hat die Exerzitien nach einer längeren Phase des Übens auf den Straßen von Manresa gegeben, auf denen er als Obdachloser lebte. In der Fundamentphase, wie er die Vorbereitung auf die innere Offenheit nennt, spüren wir unser (auch fehlendes) Vertrauen. Wir bemerken unseren Hunger nach Glauben – die Kommunikation mit dem Schöpfer hat begonnen. Wir werden langsamer und ein Schweigen unserer vielen diskursiven Überlegungen stellt sich ein. Doch wie können wir den Ursprung des Lebens oder die befreiende Barmherzigkeit Gottes im Gebet ansprechen?

Den persönlichen Gottesnamen finden

Dem persönlichen Gottesnamen näherten wir uns in drei Schritten. Wir erzählten ein Beispiel aus der Praxis:

– Eine Frau ärgerte sich jedes Mal, wenn in einer Gruppe eine Person abseits steht und nicht gesehen wird.

– Die Wurzel ihres Ärgers liegt in ihrer Sehnsucht, dass jeder/m Würde anvertraut ist, die sichtbar werden soll.

– Nachdem die Übende ihre Sehnsucht spürte, sprach sie Gott im Gebet an: „Du, der Du mich schön ansiehst.“

Am nächsten Tag ging sie vor ein großes Krankenhaus und blickte die Menschen, die dort mit einem Tropf, Gipsbein oder Rollstuhl standen, mit ihren Augen Gottes schön an. Auch noch ein Jahr später erzählt sie: Immer wenn ich Gott so anspreche, bin ich wieder im Gebet. Doch nach meinen Erfahrungen in Argentinien sage ich jetzt: „Du, die Du mich schön ansiehst und mich das Lieben lehrst.“ In dieser Aussage ist die gefundene Identität und das immer weitergehende Lernen spürbar.

Als Einstieg fragten wir jede/n etwas von dem wiederkehrenden Ärger in seinem/ihrem Leben zu erzählen. Manche Menschen spüren keinen Ärger oder können ihn nicht zulassen. Dann fragen wir nach der Traurigkeit, die sie regelmäßig wahrnehmen.

Wenn die Übenden ihren eigenen Ärger oder ihre Traurigkeit gefunden haben, fragen wir Begleiter weiter: Wie sollte die Widerspruch auslösende Situation sein, damit Frieden einkehren kann? Diese Frage öffnet den Weg, die persönliche Sehnsucht zu benennen. Der Ärger oder die Traurigkeit enthält meist mehrere Aspekte. Die Begleiter können einzelne Aspekte ansprechen oder einige bündeln, im direkten Bezug zum Erzählten. Für das Ansprechen der Sehnsucht sollten möglichst die von den Übenden gewählten Worte genutzt werden, da Verallgemeinerungen von der gefühlten Erfahrung weg führen. Die vielleicht nur umrisshaft geahnte Sehnsucht kann nun genauer benannt werden.

Die Sehnsucht ist kein Produkt unserer Erziehung oder unser eigenes Werk, sondern die Handschrift Gottes in uns, die unsere Würde greifbar macht. Sie wirkt in uns und durch-säuert unser ganzes Leben. Staunend dürfen wir diese Kontinuität in unserem Leben wahrnehmen. Ihr können wir in den Exerzitien folgen.

Manche Menschen kommen über den Weg der Freude direkt zum Entdecken der sie leitenden Sehnsucht.

In der Gruppe der Übenden werden ganz verschiedene Aspekte unserer gemeinsamen menschlichen Sehnsucht sichtbar. Mit diesem gegenseitigen Geschenk beginnen die Gruppenexerzitien. Es spiegelt die Wirklichkeit Gottes unter uns wider.

Im Workshop waren einige TeilnehmerInnen stellvertretend für alle bereit, von ihrem Ärger zu sprechen und nach der dahinter liegenden Sehnsucht zu suchen. Alle beteiligten sich daran und spürten darüber ihren eigenen Hunger der Sehnsucht, die in ihnen lebt.

Wir suchten Rückschlüsse auf die Quelle unseres Lebens, auf Gott zu ziehen, der sich mit einem seiner Namen in unserer Sehnsucht widerspiegelt. Wie mag er oder sie für den/die Übende/n heißen? Nicht immer sprudelt sofort ein eigener Name Gottes hervor, mit dem das Gebet der/s Einzelnen beginnen kann. Wie können wir den Prozess des Suchens gegenseitig begleiten? Diese Frage wurde nun im Workshop zur gemeinsamen Aufgabe.

So übten wir mit den TeilnehmerInnen im Workshop die Kompetenz der Gruppe für den Suchprozess zu nutzen. Wir eröffneten das Gespräch mit unserer eigenen Intuition. Dann luden wir die TeilnehmerInnen ein, mit ihrer Kompetenz in die Suche einzusteigen. Sie gaben Rückmeldungen und bemerkten, wenn Stimmigkeit im Gesichtsausdruck sichtbar wurde. Sie wollten keine Ratschläge geben, sondern teilten ihre Erfahrungen mit den Übenden.

Wenn die/der Übende eine innere Freude oder Erstaunen gespürt hat, dann kann sie/er dem entdeckten Impuls im persönlichen Gebet nachgehen und ihn im Kontakt mit dem Lebensspendenden überprüfen. Das ist das Ziel dieser Suchbewegung. Hierbei muss sich jede/r auf die stille Suche des Herzens einlassen.

Die ausgesprochenen Intuitionen entsprechen der Straßensituation. Spontan greifen wir als Übende nach einer Situation und nähern uns ihr, wie auch Mose neugierig von seinem Weg abbiegt und zu dem brennenden aber nicht verbrennenden Dornbusch geht. Auf diesem Weg spürt er plötzlich, wo er auf Heiligem – auf empfänglichem – Boden steht.

Ausblick

Mose ist seiner Sehnsucht nach Heimat gefolgt, wie sie in dem Namen seines Sohnes deutlich wird: Gerschom – Gast in der Fremde (Ex 2,2). Mit ihr zog er durch die Wüste dem Gottesberg Horeb entgegen und begegnete Gott. Wir sehen diesem Gott neu ins Gesicht, wenn die Folterer Jesus einen kleinen Dornbusch auf den Kopf setzen (Jo 19,2) und ihn verspotten. Aus diesem Gesicht leuchtet uns die Gegenwart Gottes entgegen. Sie erhellt uns vielleicht grell, aber verbrennt uns nicht. Im Angesicht dieses mit uns solidarischen Gottes werden wir während der Exerzitien auf der Straße in die Gleichheit mit vorher distanziert wahrgenommenen Menschen oder Lebenssituationen geführt. In der geschwisterlichen Nähe zu den ausgegrenzten FreundInnen Jesu ereignen sich bei den Exerzitien auf der Straße lebensverändernde, aus der Liebe erwachsene Befreiungen.

Die Entstehungsgeschichte der Exerzitien auf der Straße wurde festgehalten in dem Ignatianischen Impuls 18: „Auf nackten Sohlen“ (2006). Die Anregungen während der 10tägigen Kurse werden von Christian Herwartz im Ignatianischen Impuls 51 erläutert: „Brennende Gegenwart“ (Echterverlag 2011). Das Kursangebot, Berichte von TeilnehmerInnen usw. findet sich unter: www.con-spiration.de/exerzitien.

Aus: Peter Hundertmark/Walter Mückstein (HG.), Handbuch geistliche Begleitung, Brennpunkt Leben – Brennpunkt Gott, Ostfildern 2012, S. 156-160