VIELFALT#9: Konsequenzen für die Begleitung

Aus der Impulsreihe für Begleiter*innen von Straßenexerzitien von Nadine Sylla, Josef Freise, Maria Jans-Wenstrup, Dorothee Steif und Elisabeth Kämmerling

Fast drei Monate sind wir mit euch einen Weg durch verschiedene Aspekte und Anregungen unter der Überschrift VIELFALT gegangen. Jetzt zum Abschluss wollen wir noch mal ganz konkret darauf schauen, wie sich dieses Themenspektrum konkret in den Straßenexerzitien ausprägen könnte, vielleicht sollte.

„VIELFALT#9: Konsequenzen für die Begleitung“ weiterlesen

VIELFALT #8: Missbrauch in Begleitung vorbeugen

Aus der Impulsreihe für Begleiter*innen von Straßenexerzitien von Nadine Sylla, Josef Freise, Maria Jans-Wenstrup, Dorothee Steif und Elisabeth Kämmerling

Beginnen wir mit einer kleinen Übung:

Ich hole mir ein paar gute Erinnerungen an Straßenexerzitien vors innere Auge.

Angesichts dessen frage ich mich: Worin liegt für mich der Reiz des Begleitens,
was macht mir daran Lust, was motiviert mich?

Evtl. schreibe ich einige Stichworte, die mir spontan kommen, auf.

„VIELFALT #8: Missbrauch in Begleitung vorbeugen“ weiterlesen

VIELFALT #7: Formen geistlichen Missbrauchs

Aus der Impulsreihe für Begleiter*innen von Straßenexerzitien von Nadine Sylla, Josef Freise, Maria Jans-Wenstrup, Dorothee Steif und Elisabeth Kämmerling

Mit der Begleitung von Menschen, die sich übend auf die Straße begeben, übernehmen wir eine einflussreiche, gestalterische Aufgabe. Spirituelle Verantwortung ist immer auch eine Form von Machtausübung, die behutsam und angemessen erfolgen sollte, damit die Menschen, die wir begleiten, ihren eigenen Weg gut suchen und finden können. Um hilfreich die eigene Macht einzusetzen, hilft der Blick auf die drei Formen schädlicher Machtausübung, wie sie Doris Wagner herausgearbeitet hat.

„VIELFALT #7: Formen geistlichen Missbrauchs“ weiterlesen

VIELFALT #6: Macht und Privilegien

Aus der Impulsreihe für Begleiter*innen von Straßenexerzitien von Nadine Sylla, Josef Freise, Maria Jans-Wenstrup, Dorothee Steif und Elisabeth Kämmerling

Wenn wir von „Randgruppen“ und den „Ausgegrenzten“ sprechen und von der „Mitte der Gesellschaft“ –wen meinen wir da eigentlich? Und wer definiert, wer Mitte und wer Rand ist? Und wie ist gesellschaftliche Macht damit verknüpft?

Unsere Bilder von Norm und „Normalität“ sind nicht naturgegeben, sondern werden gesell-schaftlich ausgehandelt. Dabei profitieren Gruppen, die der Norm entsprechen,von dieser Einteilung und brauchen einen „Rand“, um sich als „Mitte“ verorten zu können. Diese anonyme, sehr subtile Art der Macht kann bewusst ausgeübt werden, aber auch unbewusst reproduziert werden.

Die Vielschichtigkeit und Einzigartigkeit von Menschen hat in solchen „Normalitätskonstruktionen“ keinen Platz. Privilegierte Menschen sind viel mehr repräsentiert in Gesellschaft, Medien, Politik und Kirche. Wo dominieren Weiße, nicht-beeinträchtigte, heterosexuelle Akademiker unsere Gesellschaft und entscheiden aus ihrer Erfahrungswelt über Menschen, die viel diverser sind und mit unterschiedlichen Erfahrungen und Bezugspunkten unsere Gesellschaft ausmachen?

Diskriminierung stellt daher ein gesellschaftliches Verhältnis dar, bei dem niemand außen steht. Einer Gruppe, die Diskriminierung erfährt, steht immer auch eine Gruppe gegenüber, die daher Vorteile genießt. Diese werden auch als Privilegien bezeichnet. Privilegien ermöglichen leichtere Zugänge und Teilhabe aufgrund bestimmter, nicht frei wählbarer Zugehörigkeiten wie etwa Geschlecht, Herkunft, sozialer Status oder sexueller Identität. Somit profitieren z.B. Männer davon, dass andere Geschlechtszugehörigkeiten abgewertet werden, oder Weiße Menschen, dass People of Color und Schwarze Menschen benachteiligt werden.

Privilegien werden jedoch oft als so selbstverständlich erlebt, dass sie nicht bewusst wahrgenommen werden: If you can’t feel it, it is a privilege. (Dt.: Wenn du es nicht spürst, ist es ein Privileg.)

Mit einem Bild gesprochen: Privilegien zu haben ist wie mit Rückenwind fahren: Es geht irgendwie leichter und ich komme schneller voran als andere und ich bin mir oft nicht bewusst, warum. Wer immer mit Gegenwind fahren muss, spürt dies sofort.

Diese Privilegien können jedoch nicht nur für den eigenen Vorteil und das eigene Vorankommen genutzt werden, sondern auch, um Ungleichheiten abzubauen und anderen Menschen Zugänge zu ermöglichen („power-sharing“). Dafür ist es zunächst nötig, sich der eigenen Privilegien bewusst zu werden.

Übung: Nimm dir kurz Zeit! Welche Vielfalts-Aspekte machen dich aus? Welche soziale Gruppenzugehörigkeiten haben dich geprägt? Schreibe spontan 4-5 Aspekte auf, die dir als erstes kommen. Wenn du jetzt auf deine Liste schaust: Welche Aspekte fehlen? Hast du z.B.: Besitzer*in eines deutschen Passes, heterosexuell oder körperlich gesund bzw. nicht beeinträchtigt geschrieben? Warum ist uns dies vermutlich weniger präsent? Strukturelle Diskriminierung geschieht anhand von Geschlecht, Herkunft/Hautfarbe, sozialer Herkunft/Status, sexueller Identität, Religionszugehörigkeit, Alter und Beeinträchtigung/Behinderung. Welche deiner Aspekte würdest du unter „nicht-privilegiert –nicht der Norm entsprechend“ und welche unter „privilegiert –der Norm entsprechend“ einordnen? Welche Aspekte sind besonders wichtig für Teilhabe und Anerkennung in der Gesellschaft? Welche eher nicht? Und wie wird es sein, wenn sich jemand in mehreren Kategorien als nicht-privilegiert und nicht der Norm entsprechend einordnen muss? Welche Macht ist mit Deinen Privilegien verbunden?

In Gruppen und somit auch bei Straßenexerzitien beeinflussen die sozialen Gruppenzugehörigkeiten, wie viel Raum und Redezeit jemand einnimmt, ob der Person zugehört und Aufmerksamkeit geschenkt wird und welche Rolle sie in der Gruppe einnimmt. Als Begleiter*innen sind wir bereits durch unsere Rolle mit mehr Macht ausgestattet und tragen auch eine Verantwortung für unser Miteinander. Gleichzeitig wiegen unsere Be-Wertungen schwer und können Menschen verunsichern oder sie von ihrem persönlichen spirituellen Weg abbringen. Wir sind eingeladen, auch in der Begleitung von Straßenexerzitien unsere eigene Machtposition zu erkennen, zu reflektieren und so zu nutzen, dass sich alle auf gute Weise beteiligen können.

VIELFALT #5: Diskriminierung

Aus der Impulsreihe für Begleiter*innen von Straßenexerzitien von Nadine Sylla, Josef Freise, Maria Jans-Wenstrup, Dorothee Steif und Elisabeth Kämmerling

„Vergiss, dass ich schwarz bin. Vergiss nie, dass ich schwarz bin“

So beginnt die afroamerikanische Dichterin Pat Parker ihr Gedicht mit dem Titel
„Für die Weiße, die wissen wollte, wie sie meine Freundin sein kann“.
In diesen zwei Zeilen verdichtet sich das Geschenk und die Herausforderung jeder menschlichen Begegnung: Vergiss, welche Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht, Beeinträchtigung, sexuelle Identität, Religion oder sozialen Status ich habe, weil ich von dir einfach als Mensch angeschaut werden möchte, als der
einzigartige, vielschichtige Mensch, der ich bin; ich möchte nicht primär als Vertreterin einer Gruppe wahrgenommen und einsortiert werden. Aber vergiss zugleich nie, welche Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht, Beeinträchtigung, sexuelle Identität, Religion oder sozialen Status ich habe, denn das gehört zu meinem Leben, das macht meine Identität aus und hat Auswirkungen darauf, welchen Status und welche Teilhabemöglichkeiten ich in der Gesellschaft habe, wie privilegiert oder nicht-privilegiert ich bin, ob ich selbstverständlich dazu gehöre oder wieviel Diskriminierung ich erlebe… Beide Sätze sind wahr. Wir brauchen beide Sätze. Vielfaltssensibel Menschen zu begegnen bedeutet, keinen der beiden Sätze absolut zu setzen, sondern immer wieder zwischen beiden hin und her zu schwingen in unseren Begegnungen – im Alltag und in den Straßenexerzitien. Wie zwei Punkte einer Ellipse in unserem Herzen – aufmerksam für Prägungen, Bilder, manchmal Stereotype und Botschaften, z.B. über „Andere“ und „Fremde“, die uns persönlich, aber auch gesellschaftlich vermittelt wurden. Diskriminierung bedeutet, Menschen aufgrund eines Merkmals und den damit verbundenen Zuschreibungen bewusst oder unbewusst zu benachteiligen, abzuwerten oder auszugrenzen. Der Boden von Diskriminierung bildet nicht das reale Merkmal an sich wie z.B.: die Hautfarbe oder das Geschlecht, sondern die Konstruktionen, die wir damit verbinden. Manche Merkmale machen eben einen „Unterschied“ z.B. was Ansehen und Macht bedeutet. Diese haben reale Auswirkungen auf Zugänge und Teilhabe an zum Beispiel Bildung, Arbeitsmarkt oder bei der Wohnungssuche. Die Unterscheidungen sind aber kein „Naturgesetz“, sondern Ergebnis eines gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses. Fredi Saal bringt es auf den Punkt: „Ich bin nämlich ein gelernter Behinderter. Die Rede vom ‚gelernten Behinderten‘ bitte ich wortwörtlich zu nehmen. Denn ich bin zwar mit einer spastischen Lähmung geboren worden, ich bin aber nicht mit dem Sozialstatus eines Behinderten auf die Welt gekommen. Mich als Behinderten anzusehen, habe ich gelernt – und zwar gründlich.“ (Fredi Saal, 1996, Warum sollte ich jemand anders sein wollen? Erfahrungen eines Behinderten – biographischer Essay, S. 87) Straßenexerzitien sind nicht losgelöst von diesen gelernten Bildern in Selbst- und Fremdzuschreibungen. Auch in der Gruppe, bei den Begleiterinnen und unter den Teilnehmenden nehmen wir kontinuierlich diese Kategorisierungen vor und verknüpfen sie mit bestimmten Zuschreibungen. So kann es hilfreich sein, einen Schritt zurückzutreten und sich zu fragen: Sehe ich den Menschen, den ich begleite,
oder nehme ich ein Merkmal so dominant wahr, dass es vor allem meine Bilder im Kopf sind, die ich reproduziere, und ich gar nicht mehr in Begegnung komme? Nehme ich aber auch wahr, dass dieses Merkmal den Menschen geprägt hat, seine Sicht auf die Welt, seine Möglichkeiten sich auszudrücken, sich einzubringen und sich Dinge zuzutrauen?
Unabhängig von der konkreten Begleitung können wir uns auch fragen: wen erreichen wir mit unseren Angeboten? Wie viel Vielfalt gibt es in den Straßenexerzitien? Wer fühlt sich hier wohl und zugehörig, wer wird als „anders“ wahrgenommen?

VIELFALT #3: Gewaltfreie Kommunikation

Aus der Impulsreihe für Begleiter*innen von Straßenexerzitien von Nadine Sylla, Josef Freise, Maria Jans-Wenstrup, Dorothee Steiof und Elisabeth Kämmerling

Marshall Rosenberg (1934-2015) war ein amerikanischer Psychologe, der mit der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) die Verbindung zwischen Menschen stärken wollte, ein Mitschwingen mit dem Gegenüber – fernab von der in unserer Sozialisation erlernten Unart, Menschen und ihr Verhalten zu bewerten, zu kategorisieren oder gar mit Vorwürfen und Schuldzuweisungen zu belegen. Um gewaltfrei kommunizieren zu können, bedarf es der Selbstwahrnehmung mit dem Ziel eines Ruhens in sich selbst. Wenn ich spüre, dass ich gerade nicht in mir ruhe, geht es darum, genau diese Unruhe in mir wahrzunehmen – und anzunehmen! Wenn ich meine Gefühle und Bedürfnisse spüre und ebenfalls annehme, ist das eine gute Voraussetzung dafür, dass ich – auch als Begleiter*in in Straßenexerzitien – von mir absehen und im Gespräch ganz beim Gegenüber und bei der Gruppe sein kann. Mein Gegenüber ist eine Person, die für mich geheimnisvoll bleibt und eine Würde hat – in jeder Person spiegelt sich die absolute, göttliche Transzendenz wider.

Eine große Bedeutung in der Gewaltfreien Kommunikation kommt dem aufmerksamen Zuhören zu. Es geht darum, ganz beim Gegenüber zu sein und die eigenen Gedanken und Gefühle zurückzustellen. Fragen an mein Gegenüber sollen ehrlich offene Fragen und sensible Fragen sein, die Bewertungen und erst recht ein Bloßstellen und ein Etikettieren vermeiden.

Anstelle eines Ausfragens ist es gut, offene Fragen zu stellen („Mich interessiert, was Dir wichtig ist im Leben. Was möchtest Du erzählen?“). Es liegt dann an meinem Gegenüber, was er/sie mitteilen will.

Empathische gewaltfreie Kommunikation kennt verschiedene Methoden, ist in erster Linie aber eine Haltung. Sie erfordert Achtsamkeit, inneres Gewahrsein und ein Freisein von emotionalen Blockaden.

Wenn ich von einer inneren Unruhe getrieben mit mir selbst beschäftigt bin, kann ich innerlich nicht bei meinem Gegenüber sein. Achtsamkeit führt zu Empathie und auch zu Authentizität. Wenn ich im Gespräch Äußerungen, Einstellungen oder Verhaltensweisen bei Gesprächspartner*innen wahrnehme, die verletzen, diskriminieren und das Leben beeinträchtigen, kann ich meine Irritation, mein Gefühl, mein Bedürfnis dazu ehrlich benennen. Liebevolle Zugewandtheit und Ehrlichkeit mit sich selber und mit Gesprächspartner*innen sind die Basis von Kommunikation.

Wer mehr über die Gewaltfreie Kommunikation erfahren will, findet im Internet ausführliche Erläuterungen, auch Videos mit Marshall Rosenberg selber. Sehr hilfreich ist es, irgendwann mal an Gesprächskursen zur Gewaltfreien Kommunikation teilzunehmen. Die Kurse geben Hilfen – üben kann ich dann mein Leben lang.

Hier kommen noch einige Links:

Infoportal Gewaltfreie Kommunikation mit Trainer*innen und Seminaren: https://www.gfk-info.de; Eine Sendung des Deutschlandfunks: https://www.deutschlandfunkkultur.de/lange-nacht-ueber-gewaltfreie-kommunikation-eine-sprache.1024.de.html?dram:article_id=385322 Video mit Marshall Rosenberg auf youtube: https://www.youtube.com/watch?v=1cskKfGxurM Artikel zur Gewaltfreien Kommunikation als Ansatz gegen Vorurteile und Diskriminierung: https://www.paxchristi.de/artikel/view/5216505297895424/Gewaltfreie%20Kommunikation

VIELFALT #4:Gewaltfreie Kommunikation – Methoden und Haltungen

Aus der Impulsreihe für Begleiter*innen von Straßenexerzitien von Nadine Sylla, Josef Freise, Maria Jans-Wenstrup, Dorothee Steiof und Elisabeth Kämmerling

Wie im letzten Rundbrief erwähnt, ist die Gewaltfreie Kommunikation sowohl von Methoden und Techniken als auch von Haltungen geprägt, die auch für die Begleitung von Straßenexerzitien wichtig sind und die eingeübt werden können.

Die Methoden und Techniken gehen von folgenden Grundsätzen aus:

– immer bei der berichtenden Person bleiben: Wenn jemand von einer Situation berichtet, ist es verführerisch zu sagen: „Das kenne ich auch.“ Und dann wird schnell eine endlos lange Geschichte erzählt, die aber eine Vertiefung dessen verhindert, was der/die ursprünglich Berichtende zu erzählen begonnen hatte. Für Begleiter*innen ist es eine hohe Kunst, auf Gruppenteilnehmer*innen, die vergleichend und sehr ausführlich eigene Erfahrungen einbringen, wertschätzend zu reagieren und zugleich das Gespräch wieder auf die ursprünglich berichtende Person zurückzuführen.

– keine Wertungen vornehmen: Wenn eine Person berichtet, wie sie aus Wut einen Menschen beschimpft und „fertiggemacht“ hat, dann liegt eine Reaktion nahe wie: „Das geht aber nicht. Das darfst Du so nicht machen.“ Solche Bewertungen vermitteln der entsprechenden Person schnell, dass sie falsch ist. In jeder noch so problematischen Handlung eines Menschen steckt die Suche nach einem Leben in Fülle. Marshall Rosenberg schlägt vor, sich auf diese Suche im Gespräch zu machen. Dazu können Reaktionen helfen wie diese: Wie hast du dich dabei gefühlt? Was denkst du, ist in der Person vorgegangen, auf die Du so reagiert hast?

– nachfragen: Bewertungen kategorisieren, Nachfragen helfen, in die Tiefe zu kommen. Durch das Fragen erhält nicht nur der Fragende neue Erkenntnisse, auch die befragte Person kann sich selber so intensiver auf die Spur kommen.

– paraphrasieren: Die Paraphrase ist die Wiedergabe mit eigenen Worten – und mit dem eigenen Wertesystem. Es wird nicht einfach wiederholt, was die betreffende Person gesagt hat. Es wird auf die Gefühle und Bedürfnisse der Person abgehoben. Eventuell geäußerte Vorwürfe, Abwertungen und diskriminierende Äußerungen werden „überhört“ oder es wird kurz gesagt, dass sich diese Äußerung vielleicht jemanden verletzt fühlen könnte. „Aber jetzt geht es um Dich…“

– Pausen zulassen: Die gewaltfreie Kommunikation und auch die Gespräche in Straßenexerzitien sind nicht in erster Linie lösungs- und ergebnisorientiert. Es geht zunächst einmal um das Wahrnehmen und Annehmen der Realität so, wie sie ist, und dann um Veränderungen in der Tiefe der Person. Papst Franziskus hat bei den Plenarsitzungen auf der Jugendsynode und der Amazonassynode in Rom immer wieder auf Pausen gedrungen – im Schweigen und im Singen eines Liedes. Pausen reinigen die Luft; Gefühle können sich sortieren; ich kann in mich gehen und spüren, was mich gerade „getriggert“ hat. Dann muss ich mein Gegenüber nicht verantwortlich für meine Gefühle machen. Diese kontemplative Methode führt uns zu den Haltungen.

Haltungen: Marshall Rosenberg war von Carl Rogers und dessen personenzentrierten Gesprächsführung geprägt, die von den Grundhaltungen der Kongruenz (Echtheit, Unverfälschtheit), der Empathie (der nicht wertenden Einfühlung) und der bedingungslosen positiven Zuwendung ausgeht. Ein wichtiger Aspekt bei Rosenberg ist die Verbindung zwischen Selbstsorge und Dasein für mein Gegenüber. Wenn ich meine eigenen Gefühle und Bedürfnisse wahrgenommen und angenommen habe, kann ich besser von mir absehen und ganz beim Gegenüber sein. Sich selber annehmen und loslassen zu können – dazu helfen Achtsamkeitsübungen, Meditation, inneres Schweigen und das kontemplative Beten.

VIELFALT #2: Identität und Vielfalt

Aus der Impulsreihe für Begleiter*innen von Straßenexerzitien von Nadine Sylla, Josef Freise, Maria Jans-Wenstrup, Dorothee Steiof und Elisabeth Kämmerling

Wer bist du? Was macht dich aus? Nimm dir einige Minuten Zeit: Welche Eigenschaften, Merkmale kommen dir spontan in den Sinn? Welche Eigenschaften /Merkmale sind dir besonders wichtig –welche eher unwichtig? Wenn du dir jetzt vorstellst: Bei der Arbeit, beim Begleiten der Straßenexerzitien, auf der Straße –welche Facetten von dir stehen für die Menschen, die dir begegnen, im Vordergrund? Welche Aspekte von dir kommen gar nicht in den Blick?Wir können nicht anders –wir nehmen Menschen immer aus einer bestimmten Perspektive wahr –wir „reduzieren“ Menschen auf ein „Set“ von Merkmalen: Der Gastarbeiter, die Muslima, der Obdachlose, da kam eine Frau mit Kopftuch, mein homosexuellerKollege …Und doch haben wir alle die tiefe Sehnsucht, in unserer Ganzheit und Komplexität wahrgenommen zu werden. Wir merken, wie fließend und veränderlich unsere eigene Identität ist. Wir wollen als einzigartige und vielschichtige Personen wahrgenommen werden und nicht nur als Repräsentant*in einer „Gruppe“. Und wir wollen selbst bestimmen, was unsere Identität ausmacht. Kübra Gümüsay veranschaulicht dies in ihrem Buch „Sprache und Sein“ (Berlin, 2020) am Beispiel Kopftuch:„Auf kein Attribut werden muslimische Frauen derart reduziert wie auf dieses Kleidungsstück. Sie werden sogar danach benannt: Kopftuchträgerin. Ein Leben als wandelnde Informationssäule einer Religion und allem, was damit assoziiert wird, lässt sich kaum aushalten. Trotzdem ist es das Leben, das so viele Musliminnen in unserer Gesellschaft führen. (…) Sie werden nicht als Menschen wahrgenommen, sondern als Pressesprecherinnen ihrer Religion. Sie werden mit ihrem Glauben vorgestellt –weil sie so lange der Inspektion ausgesetzt waren, dass ihnen das Bewusstsein ihrer eigenen Individualität, Ambiguität, Komplexität verlorengeht. Dass sie vereinnahmt werden von der Perspektive der anderen.“(S. 72-73)„Die Dichterin Anja Saleh hat mir dazu einmal Folgendes gesagt: Man kann nicht alles verstehen. Ich verstehe auch nicht, warum Leute bergsteigen. Ich muss es auch nicht unbedingt verstehen. Und ich glaube, genau darin liegt die Kunst: Menschen nicht zu drängen, ihnen Dinge so verständlich zu machen, dass sie es auf sich übertragen können. Wenn jemand verstehen möchte, warum ich ein Kopftuch trage, dann denke ich mir: Da ist so viel im Hin-tergrund. Du kannst das nicht einfach verstehen, denn da steht ein Prozess, ein Leben dahinter: Wie willst du das verstehen? Versuchen Sie mal, sich selbst einem anderen Menschen verständlich zu machen. Ihre ganze Person, Ihre Widersprüchlichkeiten, Ihre Entwicklung, Ihre Ängste, Ihre Hoffnungen, Ihre Wünsche. Und stellen Sie sich vor, Sie müssten es immer wieder tun, täglich. Es ist erniedrigend. Erschöpfend. Beraubend.“(S. 73-74).

Wenn ihr Feuergefangen habt, findet ihr hier noch zwei Filmtipps:

Ted Talk von Chimamanda Adichie: The danger of a single story (19 Min) https://www.youtube.com/watch?v=D9Ihs241zeg

All that we share (3 Min)https://www.youtube.com/watch?v=i1AjvFjVXUg&vl=de

Vielfalt #1: Was ist Anti-Bias?

Wippe
Vielfalt-Logo

Ein Impuls für Begleiter*innen von Straßenexerzitien von Nadine Sylla, Josef Freise, Maria Jans-Wenstrup, Dorothee Steiof und Elisabeth Kämmerling

„Anti-Bias ist wie eine lebenslange Reise, die bei uns selbst beginnt“
(Louise Derman-Sparks)

Menschen sind vielfältig. Sie unterscheiden sich in ihrer kulturellen und religiösen Zugehörigkeit, in Geschlecht, Lebensform, sexueller Identität, Alter, Weltanschauung, körperlichen Merkmalen, sozialem Status, Bildung und vielem mehr. Jeder Mensch ist so wie er ist einzigartig.

Wir begegnen dieser Vielfalt in unserem persönlichen Umfeld, bei der Arbeit, in der Begleitung von Straßenexerzitien und letztlich bei uns selbst. Vielfalt ist immer schon da. Oft denken wir nicht darüber nach. Vieles erscheint uns selbstverständlich. Untersuchungen zeigen jedoch, dass schon Kinder ab dem 3. Lebensjahr lernen, dass bestimmte Merkmale (wie Religion, Geschlecht, Hautfarbe …) in der Gesellschaft unterschiedlich bewertet und dadurch auch unterschiedlich mit Macht und Privilegien ausgestattet werden. Hier setzt der Anti-Bias Ansatz an.

Bias“ kommt aus dem Englischen und bedeutet Schieflage, Einseitigkeit oder Voreingenommenheit. Es geht bei Anti-Bias um diese „Schieflagen“ und „Voreingenommenheiten“ (und „Vor-urteile“) in unserer Wahrnehmung und in unserem Handeln. Wir schauen mit einer bestimmten „Brille“ auf Menschen: So erscheinen uns manche Merkmale als „normal“ – andere als „unnormal“ oder „besonders“; manche Menschen gehören selbstverständlich dazu (zum „Wir“), andere bleiben immer die „Fremden“ („Ihr“) … Was meinen wir z.B., wenn wir in der Apotheke ein hautfarbenes Pflaster verlangen?

Wir bewegen uns immer – ob wir wollen oder nicht – in diesen „Schieflagen“ und Einteilungen. Wir sind in diese „verstrickt“. Je nachdem, wo wir uns auf der Wippe befinden, hat dies Auswirkungen, wie wir uns zeigen und in Gruppen verhalten. Anti-Bias möchte für diese „Schieflagen“ und Verstrickungen sensibilisieren.

Der Ansatz geht davon aus, dass wir alle Vorurteile haben. Es geht also nicht darum, „vorurteilsfrei“ zu werden. Mit diesem Anspruch überfordern wir uns. Das entlastet. Aber wir können uns für unsere Vorurteile sensibilisieren, uns diese bewusst machen. Mit dieser neu gewonnenen „Vorurteilsbewusstheit“ können wir nicht nur unser persönliches Verhalten verändern, sondern auch auf den Abbau von ungerechten und diskriminierenden Strukturen in der Gesellschaft hinwirken.

Wir laden dich ein, dich mit anderen auszutauschen:

  • Welche Merkmale machen dich aus? Wie würdest du diese Merkmale auf der Wippe positionieren?
  • Wenn du jetzt an die Menschen denkst, die du in den Straßenexerzitien begleitest: Die Teilnehmenden oder die Menschen, denen die Teilnehmenden „auf der Straße“ begegnen? Wo erscheinen sie auf der Wippe?

Anti-Bias

  • richtet sich an alle Menschen und geht alle an!
  • reflektiert die unterschiedliche Bewertung von (Heterogenitäts-)Merkmalen in der Gesellschaft.
  • geht davon aus, dass wir alle Vorurteile haben, aber das ein bewusster Umgang mit Vorurteilen möglich ist.
  • arbeitet an einer veränderten Haltung und zielt von da aus auf eine Veränderung gesellschaftlicher Strukturen.
  • ist eine lebenslange Reise, die dein Leben und unser Miteinander bereichert.