Renate (2006)
Ich war ja recht frei – akut drückte mich nichts – und unbefangen nach Nürnberg in die Exerzitien gefahren. Zuvor hatte ich schon die Entscheidung getroffen, nämlich mit „zwei Koffern“ nach Berlin zu gehen. Und nun glaubte ich voll Freude, dem „WIE“ und „WO“ in Berlin nachspüren zu können.
So war ich völlig fassungslos und überrascht, als mich gleich am 1.Tag mein Weg auf einen uralten Friedhof mit steinernen Sarkophagen führte. Ich, die jeden Friedhof meidet, musste dort hin. Mir war ganz klar, dass es mein Ort war und so suchte ich unter dem Entsetzen, dem Schmerz, der Trauer nach dem Grund. Ich war sehr irritiert, dass ich noch einmal in mein uraltes Trauma steigen musste …, bis ich begriff. Das Trauma war ja schon Thema meiner ersten Exerzitien gewesen und hatte mit Versöhnung geendet. Die befreiende Wirkung für mich war ein Wunder: Ich heilte von meiner jahrelangen, schweren chronischen Erkrankung des Kopfes und war seitdem überhaupt nicht mehr krank. Dabei übersah ich in meiner Dankbarkeit und Freude, dass mit der Versöhnung nur eine Seite erledigt war. Der Friedhof voller Sarkophage machte mich auf die andere, noch belastende Seite aufmerksam. Ich hatte durch das Trauma Überlebensstrukturen entwickelt, die inzwischen nur noch zerstörerisch waren und als Hindernis zwischen mir und dem Leben standen.
Der Prozess in den Exerzitien lief in einem rasenden Tempo, war heftig, beängstigend, schmerzhaft. Immer wieder glaubte ich, den Boden unter den Füßen zu verlieren, mich „aufzulösen“. Um es aushalten zu können, bekam ich die nötige Kraft aus etwas (scheinbar) ganz Zartem: Die Quellen der Kraft waren meine sinnlichen Wahrnehmungen. Hinter dem puren Genuss am Riechen – das wurde mir jetzt klar – steckte das Atmen, das ganz tiefe Einatmen. Und atmen ist Leben. Unter der sinnlichen Freude am Tasten/Berühren lag verborgen das Mich-selbst-Spüren.
Als wichtigstes Element tauchte – wie spielerisch – immer wieder Wasser auf. Wasser als Lebenselixier, als Botschaft, als Quelle, … Und ich dachte, mein Gott muss ein Wassergott sein!
So konnte ich, geführt und getragen, zwischen diesen beiden Schienen – Friedhof und Blütenduft, Sarkophag und glitzernden Regentropfen – meinen Weg finden. Es gab noch etwas Überraschendes, was entscheidend dazu beitrug, meine „Versteinerung“ zu durchbrechen. Ich suchte eines Nachts – trotz anfänglicher innerer Widerstände – die kleine Hauskapelle der Comboni-Gemeinschaft auf. Auf dem Boden sitzend griff ich mir die Trommel und fing ohne Überlegung an zu spielen. Ich hatte zuvor noch nie getrommelt, aber meine Hände, meine Finger fanden ihren eigenen Rhythmus … und ich hörte ihnen einfach zu. Wie in Trance trommelte ich stundenlang. Dabei hatte ich verschiedene Empfindungen, spürte meinen Körper, durchlebte Erinnerungen, gedacht hab ich nichts.
Eine Vision war Afrika – Ich sah das Land aus großer Höhe unter mir, ähnlich wie eine Landkarte. Es war der nordöstliche Teil (später sah ich im Atlas, dass dort etwa Ägypten liegt) und ich fühlte, dass ich eine schwarze Haut hatte und kurze, ganz krause Haare. Völlig erschöpft, aber ruhig beendete ich meine Session – grade passend, um mir draußen das aufkommende Licht des neuen Tages anzuschauen.
Später bat ich einen der Combonimissionare, der trommeln konnte, etwas vorzuspielen. Ich hielt fast die Luft an, als ich in seinem Spiel viele meiner nächtlichen Sequenzen wieder erkannte: SOS – Ruf an Freunde, wenn man Unterstützung braucht – Aufruf zum Tanz … . Genau in der Reihenfolge hatte ich diese Elemente in meinem Trommeln … und noch mehr. Später hatte ich das Gefühl, dass dies Trommeln durch seine Vibrationen Risse in meine Versteinerung verursacht hat – ähnlich wie ein Erdbeben Risse in Mauern bringt und diese dann einstürzen. Kurze Zeit drauf hatte ich nämlich – wieder in dieser Kapelle – einen ganz heftigen Kampf, aus dem ich – ohne meinen Kopf oder die ganze Kapelle zerschlagen zu müssen – als Siegerin hervorging!!! Völlig erschöpft zwar, aber als Siegerin, denn ich hatte begriffen, dass man einen Stein nicht unbedingt zerschlagen muss, sondern ihn „einfach“ loslassen, fallen lassen … und weitergehen kann. Eine sooo befreiende Erkenntnis!
Die Erfahrungen meiner Exerzitien waren beeindruckend wie beim ersten Mal. Ich begriff, dass ich für mein „Mit zwei Koffern nach Berlin“ etwas Entscheidendes erfahren hatte: Einen Koffer konnte ich nun stehen lassen, mit ihm hätte ich nur eine Altlast nach Berlin mitgenommen. Mich durchflutet noch immer Dankbarkeit und Erleichterung.
Und dann begriff ich, was in dem anderen Koffer ist – meine Schätze, d.h. meine Fähigkeiten! So meine besondere Fähigkeit zu riechen, zu fühlen, zu hören, … Ich habe die Bedeutung der Sinne viel tiefer erfasst. Es ist nicht „nur“ Luxus, sozusagen das Sahnehäuptchen auf dem „Eigentlichen“, NEIN. Wir haben unsere Sinnesfreuden, unseren Genuss daran, weil es immer wieder unsere Lebensfreude erneuert. Sie sind unsere Kraftquellen, sie sind ein Regulativ für einen dominierenden, rationalen Kopf.
Unsere Sinne sind Türen für das Göttliche.