Urban Heck (2013)
Eine Szene aus meinen Straßenexerzitien:
„Was machst Du hier?“ fragt einer von ihnen.
„Ich suche Gott“ antworte ich.
„Den findest Du hier nicht, da gibt es doch so, so eine Redewendung – ähm – Gott ist überall.“
„Dann muss er auch hier sein“ sage ich.
Kopfschüttelnd geht er weg. Sollte Gott (auch) unter den Alkoholtrinkern im Park sein?
Das sagt sich so leicht dahin: Gott ist überall. Wenn mein Gegenüber gewusst hätte, dass ein Theologe antwortet: „Ich suche Gott“, hätte er wohl noch mehr den Kopf geschüttelt. Wissen denn Theologen nicht? Doch, doch, aber was wir wissen, erlöst uns noch lange nicht.
Wer gerade gemütlich auf seinem Packen von Katechismus-Sätzen sitzt, kann jetzt weiterblättern. Hier geht es nicht um Glaubenswissen sondern um Glaubenserfahrungen. Glauben ist nicht Wissen. Glauben ist weitaus mehr als nur Wissen, wenn ich bis ins Mark getroffen bin.
Die Bibel ist prall gefüllt mit Glaubens- und mit Zweifelserfahrungen. Viel geschieht unterwegs, „auf der Straße“. Menschen brechen auf, sind unterwegs: Abraham bricht auf, Moses ist unterwegs, Jakob haut ab aus Angst vor Rache, Israel bricht aus Ägypten auf, zieht durch die Wüsten, Jesus begegnet Menschen oft auf den Straßen Galiläas und auf dem Weg nach Jerusalem. Paulus war unentwegt unterwegs. Die Bibel ist voll von Glaubensweggeschichten.
Wie kann ich „auf der Straße“, unterwegs, mitten in der Stadt Erfahrungen mit mir und Gott machen? „Die Straße“ bietet dazu unzählige Möglichkeiten: Begegnungen, Impulse, Ablenkungen, Richtungsentscheidungen, Unverhofftes, Stille, Leere, Lärm, Menschen, Vielfalt. Da mittendrin sich selbst und Gott auf die Spur zu kommen, das sind Straßenexerzitien, das ist nahe am Alltag. Dazu braucht es die Bereitschaft, über das Gewohnte hinaus zu gehen, neugierig auf das, was gerade jetzt geschieht. Das ist ganz anders als im stillen Exerzitienhaus idyllisch eingebettet in die wunderbare Natur. Hier wie dort kann ich Erfahrungen mit mir und mit Gott machen. Hier wie dort kann ich mit Gott rechnen, aber ich kann ihn nicht zu einer Begegnung zwingen, nicht in Exerzitien, nicht in der Liturgie, er ist vielmehr schon da. Exerzitien sind Übungen, um Gott – und mir selbst – auf die Spur zu kommen.
Wie geht das in Straßenexerzitien? Mit Madeleine Delbrêl antworte ich: Ohne Plan von Gott; ohne Bescheidwissen über ihn, in den Tag gehen. Denn Gott ist unterwegs zu finden, und nicht erst am Ziel; lasst euch von ihm finden.
Straßenexerzitien in der Praxis
Eine Frau und ein Mann begleiten eine Gruppe von bis zu fünf Erwachsenen.
Unterkunft und Essen sind einfach.
Zwischen Morgenimpuls und Abendgottesdienst ist die Zeit, um „ohne Plan“ aufzubrechen. Jeder geht täglich in den je eigenen Tag im eigenen Tempo. Wohin zieht es mich? Wovor habe ich Angst? Worauf bin ich neugierig? Der ganze Tag, die ganze Stadt stehen zur Verfügung. „Die Welt ist Gottes voll“ (A. Delp SJ).
Nach dem Gottesdienst und dem Abendessen ist die Zeit, einander in der Gruppe zum ersten Mal zu erzählen: Was hat mich bewegt? Wo bin ich erstarrt? Was habe ich erlebt – innen wie außen? In der Gruppe wird erlebt und quasi nebenbei eingeübt, über eigene (Glaubens-)Erfahrungen zu sprechen.
Die Begleiter hören zu, nehmen wahr, was und wie erzählt wird. Sie geben Rückmeldungen, Hinweise, keine Ratschläge, keine Anweisungen. Die Begleiter passen die Impulse für die Gruppe je nachdem, was mehr hilft, an.
Am letzten Exerzitientag können die Teilnehmer z.B. in einer Gottesdienstgemeinschaft etwas von ihren Erfahrungen erzählen.
Das ist in Kürze die Struktur, die selbst noch unterwegs ist. Denn es gibt kein verbindliches Lehrbuch für Straßenexerzitien. Wer in aller Herrgottsfrühe ohne Worte losziehen möchte, kann das tun. Wer unterwegs eingeladen wird oder irgendwo an einem Dornbusch hängenbleibt, ist eben gerade dort gut auf seinem eigenen Weg. Es ist ein Abenteuer, keine geführte Gruppenreise.
Die Geschichte von Mose am brennenden Dornbusch ist wichtig für Straßenexerzitien.
Eines Tages trieb Mose das Vieh über die Steppe hinaus; also über das Gewohnte, das Alltägliche hinaus.
Da macht ihn ein Dornbusch neugierig, der brennt und doch nicht verbrennt. Neugierde braucht es, um aus dem Alltäglichen auszubrechen. Etwas zieht mich an, spricht mich an, ein Mensch, eine Situation, eine Stimmung.
In der Begegnung mit Gott zieht Mose die Schuhe aus. Der Ort, wo Du stehst, ist heiliger Boden. Die Schuhe ausziehen ist Zeichen von Respekt und hilft, den heiligen Boden, mehr wahrzunehmen. Die Schuhe können für unsere selbstgebauten Panzer und Schutzwälle stehen, sie können für unser „Helfenwollen“ stehen, für Angst und für alles, was uns hindert, den heiligen Ort zu spüren.
In Straßenexerzitien geht es darum Orte zu finden, wo ich mir die Schuhe ausziehe, weil ich spüre, hier ist heiliger Boden. Wo ich Gottes Gegenwart wahrnehme, da ist es wie am brennenden Dornbusch.
Wo kann heiliger Boden für mich sein?
Jesus war damals unter den Armgemachten und den Sündern zu finden. Im Matthäusevangelium sagt er: „Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,40). Also kann ich in diesen Menschen Jesus selbst begegnen, in den Armen, den Verachteten oder an den Rand Gedrängten, in Wärmestuben, Bahnhofsmissionen, Schwulencafes, Drogenstuben, an den Treffpunkte von Alkoholikern sowie Kliniken und Arbeitsämter. Diese Aufzählung ist natürlich nie und nimmer vollständig, sie soll anregen und neugierig machen. Manche werden dadurch in die Versuchung geführt, diese Orte zu besuchen und zu besichtigen.
Straßenexerzitien sind aber kein Sozialpraktikum. Straßenexerzitien führen auch nicht wie ein Navigationsgerät zum Zielpunkt Gott. Er ist unterwegs zu finden, er ist schon längst da, wo wir ihn nicht vermuten. Straßenexerzitien sind ein Abenteuer.
„Kann ich mich dazusetzen?“ fragte ich ihn am Anfang. Als ich dann auf den Boden saß, haben mich die Leute übersehen. Ich war unten, so weit unten, wie ich mich nicht hätte herunterbeugen können. Es war ein langes Gespräch da unten mit einem Menschen, der Bettler genannt wird. Er fragte nicht, was ich will, er fragte, „Wo kommst Du her?“. Zwischendurch vertraute er mir Geld an. Ungefragt sagte er mir: „Gott braucht uns und wir brauchen Gott“ und am Ende segnete er mich.