Annette Reimers-Avenarius (2010)
„Naunynstraße 60, genau über dem ‚Tor zur Hölle'“ – so beschrieb Christian Herwartz mir den Weg zu dem Ort, der mir für eine Woche als Herberge dienen sollte. Nicht nur bei diesem Satz kam ich arg ins Zweifeln, ob ich die „richtige“ Entscheidung getroffen hatte, meine diesjährige Fortbildungswoche nicht in einem schön gelegenen, mit allen Annehmlichkeiten ausgestattetem Tagungshaus mit intellektuellen Vorträgen zu einem mehr oder weniger zentralen theologischen Spezialthema gebucht hatte… Und wer war überhaupt dieser Christian?
Einmal gab es eine Email hin und her, dann ein kurzes Telefonat mit obigen Satz – ich kannte den Mann schlicht nicht – hatte lediglich merkwürdige Dinge über diesen Jesuiten und Arbeiterpriester gehört…Auf die Frage, was ich mitzubringen habe, antwortete er mir: „Nichts“. Ich fragte sofort nach: Was kostet mich die Woche? Soll ich Bettwäsche einpacken? Handtücher? Und schon etwas verunsicherter: Die Bibel? Er blieb beim „Nichts“, und sagte alles ist hier, auch eine Bibel, und einen Augenblick des Nachdenkens weiter, sagte er: Es wäre gut, wenn Du möglichst wenig mitbringst.
Ich dachte sofort, oh, jetzt denkt er vielleicht, ich sei so eine Tussi mit notorischem Übergepäck, prall gefülltem Schminkköfferchen, jeden Tag Föhnwelle und hochhakkigen Klack-Klack-Schuhen…egal, dachte ich, – ich will es einfach wissen. Ich will einfach wissen, was „Exerzitien auf der Straße“ sind und wer dieser Christian ist…Und so machte ich mich auf den Weg nach Berlin Kreuzberg.
Vor dem mehrstöckigen Gründerzeitmietshaus stehend, entpuppte sich das „Tor zur Hölle“ als Untertitel einer wenig einladenden, verdammt schwarzen Heavy-Metal- Kneipe mit dem aussagekräftigen Namen „Trinkteufel“; nur zwei Stockwerke höher fand ich eine Art Gegenprogramm: Gelebte Gastfreundschaft! Ich fand eine WG, die vor mehr als 25 Jahren von Franz Keller und Christian Herwartz gegründet wurde, beide Jesuitenpater und Arbeiterpriester, die seit dieser Zeit inmitten ihrer Gäste leben. Zwölf Betten in Mehrbettzimmern waren in der Woche, in der ich da war, belegt, Männlein und Weiblein getrennt, jederzeit hätten noch mehr Menschen dazu kommen können. Ein Wohn- und Esszimmer, eine Küche, zwei Bäder, ein Kachelofen in jedem Zimmer. Vor vielen Jahren eigenhändig renoviert. Miete und Nebenkosten werden bezahlt von den Renten, die sich die beiden Jesuitenpriester als Arbeiter in der Industrie verdient hatten; Essen kommt von der Tafel und von Spenden der beiden Nachbarkirchengemeinden, der römisch-katholischen St. Michael und der evangelischen St. Thomas.
Die Gäste können unterschiedlicher nicht sein – und ich hatte in einer Woche reichlich Gelegenheit, mit den meisten ausführlich ins Gespräch zu kommen. Und wenn ich noch an die Menschen denke, von denen mir erzählt wurde, dass sie hier gelebt haben…Menschen, die hier und nur hier sterben wollten, Menschen, die nur ein oder zwei Nächte ein Bett brauchten, und dann 3 Jahre oder länger geblieben sind. Menschen, verschiedener Nationalität, Sprache, Religion…Kinder, die hier geboren wurden…dann bekomme ich eine Ahnung, was Gastfreundschaft alles bedeuten, umfassen, einschließen kann. Und: Wie sehr die Rolle Gast – Gastgeber – und wieder zum Gast wechseln kann – und welche theologische Erkenntnis damit verbunden ist.
Gibt es Regeln – eine Hausordnung? – Ich habe keine entdeckt – außer zwei wöchentlichen Terminen, an denen man teilnehmen oder es lassen kann: Samstag Vormittag ist großes Frühstück: es kommt alles auf den Tisch, was Küche und Speisekammer hergeben: eine lange Tafel wird gedeckt; es kommen Freunde, Ehemalige, Assoziierte, es wird gegessen, erzählt, man verabredet sich…Und am Dienstag Abend ist Kommunitätsabend: es wird zusammen gekocht, gegessen, einander erzählt, was man in der Woche erlebt hat; jede und jeder, der mag kommt zu Wort, Schönes und Schmerzhaftes hat hier seinen Platz, danach wird Abendmahl gefeiert. Am Esstisch. Einfach. Schnörkellos. Mit einer Scheibe Brot. Ein Bibeltext wird gemeinsam ausgelegt, gesungen, gebetet.
Soviel zu meinem ungewöhnlichen Quartier, das mir innerhalb kürzester Zeit von der Herberge zur Heimat wurde. Von hier habe ich mich täglich aufgemacht: auf die Straße. In die Straßen Kreuzbergs und anderer Stadtteile. Zu meinen Exerzitien. Mitgenommen habe ich die Geschichte von Moses am brennenden Dornbusch, der sich nicht verzehrte.
„Zieh die Schuhe aus, denn hier ist heiliger Boden“ – Ich habe die Schuhe ausgezogen, an manchen Orten haben sich mir die Schuhe von ganz allein ausgezogen, ich konnte gar nicht anders. Schwieriger war es schon, innerlich die Schuhe auszuziehen, abzulegen, was mich vom „Heiligen“ trennt, innere Barrieren aufzugeben, von manchem hohen Roß hinunterzusteigen, auch das Wehrhafte in mir abzulegen, das, was sich sperrt, um ungeschützt, mit Respekt wahrzunehmen, was ich bei mir und anderen wahrnehme, genau hinzuhören – zu sehen, auf das, was mir begegnet.
Und Mose erfährt den Namen Gottes. Und Gott erzählt ihm vom Elend seines Volkes und wie es ihm zu Herzen geht… Und Gott sendet Mose schließlich.
Und so machte ich meine Erfahrungen mit mir, mit anderen Menschen und mit Gott an für mich völlig fremden Orten wie den Drogenumschlagplatz am Kottbusser Tor, das Jüdische Museum, die Synagoge am Frankl-Ufer, einer Notaufnahme eines Krankenhauses, dem Strich an der Kurfürstenstraße, der Hinrichtungsstätte Plötzensee, der Kirche Regina Martyrum und schließlich dem Abschiebegefängnis in Köpenick. Dort besuchte ich einen Gefangenen.
Was habe ich erlebt: Viel Elend. Auch mein eigenes. Ohnmacht. Glück. Geist, auch vom Heiligen. Sehnsucht. Begegnungen, die ich nicht „machen“ kann. Risiko. Menschwerdung. Christian Herwartz war mir erfahrener Begleiter, wir sprachen abends täglich miteinander, d.h. er sagte nicht viel, hörte mir im wesentlichen zu, gab mir Impulse, fragte an entscheidenden Stellen nach…und schickte mich weiter…immer weiter.
Was habe ich mitgenommen nach dieser „Fortbildung“:
1. Gott redet wirklich! Gott hat mit mir gesprochen. Hörbar. Unverwechselbar.
2. Durch die Begegnung mit anderen Menschen, habe ich einen tiefen Blick in meine eigene Seele genommen.
3. Ich habe mehr als einen „heiligen“ Ort betreten: einer war die WG Naunynstraße 60. Dort habe ich eine Gastfreundschaft erlebt, von der ich merke, dass sie mich verändert hat: Mich mit weniger zufrieden zu geben, fällt mir zusehends schwerer…Wer weiß, wo das eines Tages hinführt?
Gemeindeblatt der Evangelisch-Lutherische Kirchengemeinde Altona-Ost, November 2010