Jan Magunski (203)
Viele gehen für Exerzitien in ein Kloster. Wenn der Jesuit Christian Herwartz zu Exerzitien einlädt, wird ganz Kreuzberg zum „heiligen Ort“, und Obdachlose und Flüchtlinge werden zu Propheten.
EINE ETAGEN WOHNUNG mitten in Ber1in-Kreuzberg. Hier wohnt Jesuitenpater Christian Herwartz (60) zusammen mit einem Mitbruder in einer kleinen Kommunität. „Aber eigentlich sind wir nie nur zu zweit“, erzählt der Ordensmann, „eigentlich leben immer viel mehr Menschen in unseren vier Zimmern.“
Nicht umsonst stehen im Schlafzimmer des Mannes neben seinem eigenen Bett noch sieben weitere: Unterkünfte für Obdachlose, Alkoholiker, Strafentlassene, Flüchtlinge und Drogenabhängige: Menschen, die sonst nicht mehr wissen, wohin.
„Seit 25 Jahren bin ich jetzt in Berlin“, erzählt Christian Herwartz, der sein Noviziat als Jesuit 1969 in Münster absolviert, danach Philosophie und Theologie studiert hat. Der, einer Idee der Jesuiten folgend, nebenbei ganz praktisch, als Lkw-Fahrer, als Möbelträger und als Dreher gearbeitet hat, lange Zeit auch in Frankreich. „Ich weiß, was es heißt, Gastarbeitu zu sein“, erinnert er sich. 20 Jahre lang war er zusammen mit Menschen unterschiedlichster Nationalitäten in der Berliner Elektroindustrie tätig – und hat nach und nach die Geschichten hinter den Gesichtern kennengelernt. „Kreuzberg“, resümiert der Jesuitenpater, „ist ein Großstadt-Dschungel, ein buntes, turbulentes Armenhaus.“
In dieser vermeintlichen Idylle wollte ein junger Mitbruder aus Frankfurt vor einigen Jahren seine Weihe-Exerzitien machen: Jene „geistlichen Übungen“, die letzte Klarheit bringen sollten, ob er zum Priestertum berufen war.
Der wollte keine heile Welt, er wollte das alltägliche Durcheinander unserer Stadt, um hier nach heiligen Orten zu suchen. Und nach Gott!“ Die Begegnungen mit den Menschen hätten den jungen Mann so berührt, dass er Pater Christian Herwartz erz ählt habe: „In ihnen habe ich die Gegenwart Gottes entdeckt, jetzt weiß ich endlich, wofür ich mich weihen lasse!“
Als zwei andere Priester ähnliche Erfahrungen machten und am Abendbrottisch mit Pater Christian und den anwesenden Gästen darüber sprachen, entstand die Idee, diese besondere Möglichkeit der Gottesbegegnung auch anderen Suchenden anzubieten. „Im Sommer 2000 haben wir das erste Mal zu Exerzitien auf der Straße eingeladen.“ Das damals entwickelte Konzept besteht in seinen entscheidenden Teilen noch heute:
Für zehn Tage kommen die Exerzitanten nach Berlin und wohnen während dieser Zeit im Pfarrheim der Gemeinde St. Michael im Stadtteil Kreuzberg. Der Keller, der in den Wintermonaten Obdachlosen als Notunterkunft zur Verfügung steht, bietet ihnen mit Matratzen, Feldbetten und der kleinen Küche ein einfaches Quartier. Hier beginnen und beenden die Teilnehmer ihre Tage. Zwischen Morgengebet und Frühstück sowie Gottesdienst, Abendbrot und gemeinsamer Gesprächsrunde am Abend ist jeder für sich unterwegs auf den Straßen von Berlin – und auf den Wegen seines Lebens. Einige nutzen die öffentlichen Verkehrsmittel, andere gehen, soweit die Füße tragen.
Einer der Exerzitanten hat fast alle Wege barfuß zurückgelegt. Und den Impuls zu Beginn damit ganz wörtlich genommen: Am Anfang der Exerzitien erzählt Pater Christian nämlich immer die Geschichte vom brennenden Dornbusch. Jene Geschichte von Mose, der mitten in seinem Alltag von einer Erscheinung heimgesucht wird, die ihn zugleich verwundert und verwirrt.
„Glücklicherweise ist Mose nicht weggelaufen!“, interpretiert der Jesuit die Schriftstelle, „sondern er hat sich gestellt.“ Und erinnert daran, dass Gott mit seinem Propheten reden wolle, dass er aber zunächst einmal die Bedingung formuliert, auf die Mose sich einlassen müsse. „Du stehst auf heiligem Boden“, sagt Gott. Und darum soll Mose seine Schuhe ausziehen.“
Ein merkwürdiges Zeichen. Aber der Exerzitienleiter erklärt die Bedeutung: „Seine Schuhe ausziehen, das heißt: sich der Realität. stellen. Fluchtmöglichkeiten aufgeben. Sich nicht über andere erheben oder auf einer entsprechenden Überlegenheit bestehen. Und darum“, fährt er fort, „müssen auch wir die Schuhe der Mächtigen, der Besserwissenden, des Besserseins ausziehen, um die zu werden, die wir eigentlich sind: Kinder Gottes – und Schwestern und Brüder der einen Menschheitsfamilie.“
Dem jungen Mann, der fortan barfuß durch Berlin ging, schien das ganz leicht zu fallen. Andere haben sich schwerer getan, brauchten einige Tage, bis sie sich auch an Orte führen lassen konnten, um die sie früher einen Bogen gemacht haben: im realen, oft aber auch im übertragenen Sinne. „Dornbusch, das ist ja erstmal nichts Einfaches, nichts Schönes“, erinnert sich einer der Teilnehmer. „Etwas, das auch weh tun kann, vor dem man eigentlich lieber davonläuft.“
„Jeder Mensch hat an bestimmten Orten Angst. Mancher kann sich einer Gruppe von Drogenabhängigen nur langsam nähern“, sagt Christian Herwartz. „Wenn er dann aber doch bleibt, beginnt er, die Schuhe zu öffnen und sie abzustreifen. Er sieht sich den Schauplatz der Meditation und des Gebetes an, würde unser Ordensgründer Ignatius sagen. Seine Ängste sind weiter da, aber er wird erst einmal ruhiger und ist gespannt, was er sieht und wie er von Gott angespröchen wird. Wenn sich in seinem Herzen etwas bewegt bat, wird er wiederkommen oder das, Er1ebte vielleicht auch mit Hilfe einer biblischen Geschichte anderswo nochmals betrachten.“
Manche Teilnehmerinnen und Teilnehmer brauchen Zeit, um „ihren Ort“ zu finden, andere wissen sofort, wo Gott sie hinschicken will. Und wergar keine Idee hat, wo es hingehen könnte, bekommt von Herwartz eine di Liste mit „heiligen Orten“ in Berlin. Darauf stehen die Suppenküchen der Stadt, das Sozial- und das Arbeitsanit, verschiedene Gefängnisse, soziale Brennpunkte oder Krankenhäuser. Einen Mann zieht es in die Frühgeburtenabteilung der Frauenklinik.. Vor dem Neugeborenenfenster fängt er plötzlich an zu weinen. Auf einmal kommt eine lange Jahre verdrängte Episode der eigenen Lebensgeschichte hoch – und der Mann lernt in diesen Tagen, Frieden mit sich selbst zu sch1ießen.
Eine Frau entdeckt beim Meditieren an der Babyklappe, wie schwer es ihr fällt, ihren eigenen Sohn loszulassen – der längst über dreißig ist. Und ein sechzigjähriger Pfarrer teilt sein Mittagsbrot mit einem Obdachlosen am U-Bahnsteig; findet in ihm endlich den Gesprächspartner, der ihn wirklich versteht: Auf einem leeren Pizzakarton philosophieren die beiden miteinander über Gott und die Welt.
Während im Sonmer feste Termine für Gruppenexerzitien angeboten werden, besteht das ganze Jahr über die Möglichkeit, als Einzelperson in die Kreuzberger Wohnung einzuziehen und sich auf die Straßen Berlins zu wagen, auch in diesen Tagen vor Weihnachten, vielleicht gerade jetzt.
„Gott wartet auf uns, wo wir ihn nicht erwarten“, sagt Christian Herwartz. Das war damals so im Stall von Betlehem, das kann heute auf den Straßen von Kreuzberg geschehen. Und darum sind die Obdachlosen, Strafentlassenen oder Suchtkranken für ihn „Gottesboten“ und „Helfer zur Menschwerdung“.
Aus Kirche + Leben (Kirchenzeitung Münster) 14. 12. 2003