Da war ein Fremder

Elisabeth Kampe (2008)

Dritter Exerzitientag in Berlin Kreuzberg. Es regnet in Strömen. Ich ziehe los im Vertrauen, dass Gott mich führen wird. Ich entdecke an der Ev. Emmausgemeinde ein Schild: Mittwoch und Donnerstag Frühstück von 9:00 bis 12:00. Bei dem Regen eine heiße Tasse Kaffee – wunderbar. Ich setze mich zu zwei Männern an den Tisch. Der eine geht bald, und mit dem anderen entwickelt sich ein Gespräch.

Er erzählt von seinem Leben. Er hat sein Zuhause verlassen. Seine Frau hat jetzt einen Anderen. Seine beiden Kinder haben es zu etwas gebracht. Immer wieder entschuldigt er sich, dass er noch benommen ist von den 6 Flaschen Rotwein, die er am Vortag getrunken hat. Einige Male wankt er zur Toilette.

Mit einem anderen Frühstücksgast entwickelt sich fast eine Prügelei. Mir wird es unbehaglich.

Er fragt mich, was ich in Berlin tue. Ich erzähle ihm, dass ich Gott suche. Das hält er für absoluten Quatsch und sagt, dass alle Katholiken Lügner seien.

Mit denen will er nichts zu tun haben. Mir gegenüber ist er freundlich, besorgt mir Kaffee und holt aus einer verklebten Plastiktüte einen Krapfen heraus, den ich nach einiger Überwindung esse. Er wundert sich, dass ich so lange Zeit habe und bei ihm sitzen bleibe und sagt immer wieder, dass ich eine ganz Nette sei.

Ich gehe zurück in unser Exerzitienquartier und setze ich mich in die Michaelskirche zu einer Meditation.

Meine Frage: Was soll ich von diesem Vormittag halten? Wo warst du, Gott?

Ich finde keine Antwort und bin ratlos.

Abends in der Austauschrunde erzähle ich meine Erfahrungen des Tages.

Die Antwort der Exerzitienbegleiterin:

Da war ein Fremder, der sich Dir vorbehaltlos geöffnet hat. Er hat Dir ungeschützt Einblick gegeben in sein Leben. Er hat Dir von schmerzlichen Erfahrungen erzählt ohne Angst, sein Gesicht zu verlieren. Er war ganz unverstellt. Er hat für Dich gesorgt, Krapfen und Kaffee mit Dir geteilt. Er hat sich in seiner ganzen Schwachheit gezeigt. Und er hat Dir immer wieder gesagt, dass Du eine ganz Nette bist. Wann bekommt man das schon einmal gesagt. Das ist doch wunderbar!

Schon als die Exerzitienbegleiterin mir diesen ganz anderen Zugang eröffnete, wurde mir warm ums Herz. Stimmt! Wie konnte ich die Kostbarkeit dieser Begegnung nicht sehen?

Habe ich mich nicht doch – ganz unbemerkt – als die Überlegene gefühlt und deshalb den Wert dieser Begegnung nicht erkannt? Wäre Herr Prof. Dr. Mustermann mein Gegenüber gewesen, hätte ich mich vermutlich geschmeichelt gefühlt, als „ganz Nette“ bezeichnet zu werden. Bei Thomas, dem „Berliner Penner“, wie er sich selbst bezeichnet, nehme ich es kaum wahr.

29.10.2008