Von Josef Freise
Ignatius von Loyola (1491-1556) gründete nicht nur den Jesuitenorden, sondern führte auch die Exerzitien ein: geistliche Übungen, mit denen Menschen sich eine Zeit lang zurückziehen, um eine stärkere Beziehung zu Gott zu entwickeln und radikaler in die Nachfolge Jesu zu gehen. Eine Form dieser Exerzitien sind die von Christian Herwartz begründeten Straßenexerzitien: Hier ist nicht die Kapelle der Ort der Meditation, des Gebets und der Gottesbegegnung, sondern die Straße. Und das aus einem für Christian Herwartz guten Grund: Weil Jesus doch von sich selber sagt „Ich bin die Straße“. So jedenfalls interpretiert er das neutestamentliche Wort „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“. Im Folgenden soll von Erfahrungen aus Straßenexerzitien berichtet werden.
Zehn Tage dauern diese Exerzitien und es sind in der Regel zehn Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die in zwei Fünfergruppen von je einem Begleiter und einer Begleiterin bei der allabendlichen Austauschrunde nach der gemeinsamen Eucharistiefeier betreut werden. Die Unterkunft ist – für alle, die damit zurecht kommen – sehr einfach in zwei Schlafräumen. Das Frühstück und das Abendessen werden reihum von Gruppenmitgliedern zubereitet. Den Tag verbringt jeder auf der Straße – wohin ihn oder sie „die Sehnsucht treibt“.
Das mag herausfordernd klingen, es ist aber oft auch wirklich erholsam: in sich zu gehen und zehn Tage lang nicht fremdbestimmt etwas tun zu müssen, was der Chef, die Familie oder die Kollegen erwarten, sondern ganz der eigenen inneren Stimme zu vertrauen.
Für viele überraschend war dann auch die Ansage von Christian Herwartz und den BegleiterInnen für die ersten beiden Tage: ausruhen, abschalten, viel schlafen, alles erledigen, was einem noch auf der Seele liegt (Telefonate, Emails,…): ein niedrigschwelliger Einstieg, der gut tat.
Dann kamen die ersten biblischen Impulse: Die Geschichte vom brennenden Dornbusch (Exodus 3, 1-17) steht am Anfang aller Exerzitien: Mose sieht den Dornbusch, der nicht aufhört zu brennen, und hört die Stimme Jahwes: Zieh Deine Schuhe aus. Auf die Frage, was er den Israeliten sagen soll, wer dieser Gott denn sei, dem sie folgen sollen, bekommt er die Antwort: Sag ihnen: Ich bin der ‚Ich bin da‘. Wir, die TeilnehmerInnen, bekommen die Frage auf den Weg: Was brennt in Dir? Welche Sehnsucht ist so stark in Dir, dass sie immer wieder kommt, nicht aufhört? Ein sehr persönlicher Zugang. Mit der Geschichte von Hagar geht es weiter: Hagar ist lebensmüde und macht eine Gotteserfahrung. Sie gibt ihm den Namen: Du bist der Gott, der mich angeschaut hat (Genesis 16,13). Welchen Namen gebe ich Gott? Wie kann ich ihn ansprechen? Wie spricht er mich an? Die abendlichen Gottesdienste in der Gruppe beginnen oft damit, dass wir reihum Gott anrufen – mit dem Namen, den jeder von uns für ihn gefunden hat: Gott, der Du mir nahe bist – Gott, der Du mir hilfst, dass ich mich selbst aushalten kann – Gott, die Du mich zu den Menschen am Rande der Gesellschaft schickst….
Jeden Morgen werden wir nach dem Frühstück mit einem Morgengebet oder einem Impuls auf die Straße entlassen – wohin uns die Sehnsucht treibt. Jeder schaut, was er oder sie wirklich unterwegs braucht; so viel weglassen wie möglich ist die Devise: Nehmt keinen Geldbeutet mit (Lk. 10): Wieviel Sicherheit brauche ich? Wie abhängig bin ich vom Geld? Nehmt keine Vorratstasche mit! Kann ich mich darauf einlassen, eine Zeit lang Hunger zu spüren? Eine Liste mit möglichen Orten, wo wir Menschen am Rande der Gesellschaft treffen können, bekommen wir mit – aber sie ist nur eine Anregung: „Einmal hat ein Paar die Exerzitien mitgemacht. Sie konnten keine Kinder bekommen. Ihre Sehnsucht hat sie zu den Spielplätzen geführt, wo sie Kindern zuschauten und viel geweint haben“, erläutert Christian.
Die Begleiter/-innen geben uns auf den Weg, bei Gesprächen – auch den zufälligen (eigentlich gibt es in Exerzitien und auch sonst keine Zufälle) bei der Wahrheit zu bleiben und nicht etwa zu sagen: „Ich mache Urlaub.“ Wie kann man Menschen erklären, was wir zehn Tage lang machen. Jeder versucht es auf seine Weise. Der Versuch bei einem Besuch in einer Moschee sah so aus, dass dem älteren türkischstämmigen Hausmeister erklärt wurde: „Wir sind eine Gruppe von Christen und wir sind für zehn Tage zusammen, weil wir unseren Glauben vertiefen wollen. Wir gehen auf die Straße, wir gehen zu Menschen und wir suchen Gott.“ Seine Antwort war: „Jetzt sofort? Besser Termin machen!“ Aber dann gibt es doch noch einen Tee und ein sehr schönes Gespräch und eine Verabredung für das Freitagsgebet, zu dem dann einige Tage später drei GruppenteilnehmerInnen sehr herzlich empfangen wurden. Eine Teilnehmerin besucht in einer Flüchtlingseinrichtung eine syrische Familie mit einem kleinen Kind. Nach dem Gespräch umarmt die syrische Frau die Besucherin: „Du bist wie eine Schwester für mich!“ Das waren ganz typische Erfahrungen: Es entstehen sehr persönliche und menschliche Gespräche. Der Busfahrer an der Haltestelle hat noch Zeit, bis er fahrplanmäßig abfährt und er erzählt seine ganze Familiengeschichte: „Es war mir eine Freude, mit Ihnen zu sprechen“, sagt er am Ende. „Ich erlebe es normalerweise als eine Ausnahme, dass ich mit fremden Menschen auf der Straße einfach so rede“, sagt eine Gruppenteilnehmerin. Hier in den Exerzitien erleben wir es anders: Wir signalisieren Offenheit („Ich bin da“) und unser Gegenüber nimmt es wahr. „Wenn Ihr diese Präsenz spürt, dann zieht Eure Schuhe aus und spürt den heiligen Boden“, rät Christian Herwartz. Denn: Das ist Realpräsenz Gottes.
Eine Frau aus der Exerzitiengruppe lief nach einer anrührenden Begegnung in Ludwigshafen barfuß die Prinzregentenstraße entlang, und ein achtzigjähriger Mann mit Rollator, der sich dort tagsüber regelmäßig aufhält, sprach sie an: „Sind Sie glücklich“? Diese Ansprache war Auslöser für mehrere Begegnungen zwischen den beiden die Woche über und am Ende der Exerzitien nahm dieser achtzigjährige Ludwigshafener auch am gemeinsamen Abschlussgottesdienst teil.
Nicht immer geht alles glatt. In der Mitte der Exerzitienwoche sind einige müde, schlapp. Abends in der Gesprächsrunde (wir sind von 10 Uhr morgens bis 17 Uhr auf der Straße, danach gibt es Gottesdienst, Abendessen und eine Austauschgruppe mit fünf Teilnehmenden) sagt jemand, er habe nichts zu erzählen – er sei einfach zu müde gewesen. Christian freut sich geradezu diebisch, wenn jemand meint, es sei nichts passiert, denn er ist sich sicher: Da ist etwas. „Zufällig“ hatten wir abends das Evangelium, wie Jesus nach der Brotvermehrung die Leute nach Hause gehen lässt, seine Jünger ans andere Seeufer wegschickt und sich auf den Berg zurückzieht. Auch er ist müde. Nimmt sich eine Auszeit. „Kannst Du Dein Müdesein annehmen“ fragt Christian? Darf es sein oder passt es nicht in Dein Selbstbild? Kannst Du Dein Müdesein mit Gott, mit Jesus besprechen, ins Gebet nehmen?
Für den nächsten Tag bekommen wir dann mit auf den Weg: „Macht auch mal eine Pause! Trinkt einen Kaffee zwischendurch! Ihr müsst nichts leisten!“ Und: „Wenn Ihr spürt, Ihr seid in einer Krise: Das ist eine Chance inneren Wachstums! Ohne Krise gibt es kein Wachstum.“ Die Krisen sind dann Thema der abendlichen Austauschunde – jeder erzählt, so viel er oder sie möchte. Einsamkeit ist ein Thema. Nichts wird weggeredet, alles hat seinen Platz. Es ist wie es ist. Nichts muss verdrängt werden. Es ist da, und: „Ich bin da“. Wir spüren: Krisen und Konflikte sind Orte und Zeiten, in denen uns Gott etwas sagen will. In den Gruppengesprächen werden Konflikte gesammelt, durch die Jesus hindurch musste. Es gibt keine Patentrezepte, wie man durch Konflikte hindurch kommt. Es gibt nur eine Zusage: Er geht mit. „Geh mit uns auf unserem Weg“, ist ein Lied, das wir jeden Morgen vor dem Aufbruch singen.
Manchmal rät Christian: “Wenn Ihr etwas Euch Vertrautes tut, ist das in Ordnung. Aber versucht auch mal etwas Neues.“ Zwei TeilnehmerInnen haben Parkbänke in der Innenstadt entdeckt, die Treffpunkt für viele Menschen am Rande der Gesellschaft sind. Dorthin setzen sie sich die nächsten Tage. Es entstehen viele Begegnungen mit Menschen, die sich dazu setzen oder die schon dort sitzen, („Setzen Sie sich dazu – die Sonne tut so gut“) Einzelne Begegnungen rühren an. Ein junger türkischstämmiger Mann ist Frührentner, lebt von 300 Euro Rente; seine Mutter ist nierenkrank und muss dreimal die Woche zur Dialyse, sein Vater ist herzkrank. Ohne Ausfragen entstehen tiefe Gespräche. Ein Kosovoalbaner berichtet von seinen Kriegserfahrungen – und wie glücklich er ist, in Deutschland im Frieden zu leben. Ein junger Mann ohne festen Wohnsitz ist mit seinem Hund unterwegs. Nach einem Gespräch verabschiedet er sich, dreht sich beim Gehen noch einmal um und sagt: „Wenn wir uns das nächste Mal sehen, frage ich Sie doch auch nach einer Spende – denn ich hasse Hartz IV.“ Im Gespräch hatte Geld keinen Platz gehabt. Es war ein Gespräch, in dem seine tiefe menschliche Sehnsucht deutlich wurde. Christian: „Jesus spielt mit uns Versteck. Im Neuen Testament war er für Maria Magdalena der Gärtner, für die Emmausjünger ein fremder Wegbegleiter, für die Jünger auf dem See der Mann, der am Ufer Fische zubereitete. Wie versteckt er sich für Euch auf den Straßen?“
Wer sich auf die Exerzitien einlässt, kann eine Gottesberührung erfahren und das Himmelreich spüren, das inwendig in uns schon da ist, wenn wir wirklich zuhören und uns berühren lassen. An einem Abend steht statt der allabendlichen Eucharistiefeier eine Fußwaschung an: Jeder wäscht jemandem die Füße und jeder werden die Füße gewaschen: Auch in dieser Berührung kann wie in der Eucharistie die Realpräsenz Gottes erfahrbar werden.
Was passiert in den zehn Tagen der Straßenexerzitien? Vordergründig nichts Besonderes. Zehn Menschen laufen durch die Stadt, sitzen an Plätzen, besuchen Menschen in Notunterkünften, hören zu. Und doch erfahren sie in diesen alltäglichen Situationen eine unsichtbare Wirklichkeit hinter der Realität, die zählt. „Höre Israel“, ist der erste Anruf Gottes. Wer lernt achtsam und liebevoll mit all seinen Sinnen wahrzunehmen: zu hören, zu sehen, zu fühlen, zu riechen und zu schmecken, dem begegnet der „Ich bin da“. Das Hören auf die Stimme Jesu fährt zugleich an die Ränder der Gesellschaft. „Wer in Gott eintaucht“, sagt der französische Bischof Jacques Gaillot, „der taucht neben den Armen wieder auf.“