Exerzitien auf den Straßen Berlins

Matthias (2010)

 

Man kann es sozialpsychologisch sehen.
Man kann es als Raum der Gottberührung sehen.
Es ist eine Frage der Welt-Anschauung.
Zweifelsohne liegen sie beide nahe beieinander.
Eine Deutung aus der Möglichkeit Gottes.

1. Tag

Am Montagnachmittag habe ich mich auf den Oranienplatz gesetzt. Ich kenne mich schon etwas aus – sowohl im Haus an der Naunynstraße, aber auch in der Struktur der Exerzitien auf der Straße. Mit fast suchendem Blick nehme ich wahr, was in meiner Nähe geschieht.

Die Bänke auf dem Oranienplatz sind recht eng einander in der Mitte des Platzes gegenüber aufgestellt. Ich setzte mich auf eine Bank. Schräg gegenüber sitzt eine Mutter, liest in aller Gelassenheit ein Buch. Vor sich ein kleines Mädchen, schwer behindert, in einem Rollstuhl. Sie bewegt sich unkontrolliert (wenigstens nach meinem Augenschein), sabbelt etwas, schaut intensiv in das nicht Festmachbare.

Ich schaue zu den Menschen mir gegenüber. Ich überlege, ob ich fragen soll, ob ich mich neben sie setzen darf. Meine ‚innere Stimme‘ – ich nenne sie im Laufe der Exerzitien meinen ‚Ruf‘ – sagt mir, ich möge mich bitte zurückhalten. Etwas später kommt der Vater des Kindes und noch ein Geschwisterkind dazu. Er trinkt seine Flasche Bier, die Frau liest, der Geschwisterjunge fährt mit seinem Fahrrad um das Geschehen herum. Alles mit einer selbstverständlichen Normalität. Ich schaute hin. Ich lächelte hinüber, was sie dort -zumindest für mich nicht erkenntlich – nicht weiter wahrnehmen.

Mein ‚Ruf’ sagt mir, dass das nicht mein Eingang in die Exerzitien auf der Straße ist. Es geht nicht um ‚Trophäen‘, die später erzählerisch vorweisbar sind.

Auf dem Rad des Rollstuhls steht – geziert mit einem Motiv aus dem Kleinen Prinzen: Pauline.

Pauline ist nicht der Anfang meiner Exerzitien. Insoweit schon, als sie mich lehrt, dass ich das, was es zu begegnen gibt, nicht kalkuliere.

2. Tag

Ich suche nach dem Namen Gottes. Ich suche nach ‚Gott‘. Ich habe bestenfalls eine intellektuelle Vorstellung ‚Gott’, aber wenig Empfinden, wobei das ein falsches Wort ist für das, um was es geht. Eine Ganzgotterfahren vielleicht – aber auch das ist es nicht. Kann sein, dass es darum geht, eine Gottvergewisserung, eine Gottgewissheit zu suchen, die ‚nur’ da ist.

Mit der Unerfasslichkeit ‚Gott’ verbringe ich den ersten Vormittag auf der Straße. Ich bekomme kein Wort, kein Erspüren ‚Gott’. Ich bekomme ein Bild: ein schwarzer Film, ohne jedes Bild. Vier Stunden lang. Das ist mein Gespür für ‚Gott’. Ich versuche Gebet – Jesusgebet. Ich versuche Gottesnamen. Nichts ist da.

Ich gehe den Berliner Mauerweg. Entlang an einer Demarkationslinie. Wo ist West? Wo ist Ost? Es sieht heute fast alles gleich aus. Hier Gottesnamen? Ich lese Hinweistafeln über versuchten Tunnelbau von West nach Ost, um Menschen die Flucht zu ermöglichen. Ich lese von Fluchtvereitlung im letzten Moment – von Menschen, die um der Freiheitsliebe willen erschossen wurde, andere, die für lange Jahre in Haft kamen. Kein Gottesname dabei.

Ich gehe ohne Geld. Die von Jesus Gesandten werden geschickt – ohne Geld, ohne Schuhe, ohne Vorratstasche, ohne Geld. Ich bin ohne Geld unterwegs (später fällt mir ein, dass ich ja noch die Kreditkarte in der Brieftasche habe). Mir kleben ab einer gewissen Zeit die Eingeweide aneinander. Ich habe früher auch schon Heilfastenkuren für mich gehalten. Ich hatte nie Gewinn davon. Mir klebten immer die Eingeweide lechzend zusammen – derweil Andere von wunders was für Befreiungen erzählten, Weitung und Dankbarkeit der Eingeweide. Meine nahmen nur übel – damals im Heilfasten, heute auch, dem Berliner Mauerweg entlang.

Ich gehe zurück zur Naunynstraße. Da esse ich Brot, trinke ich Tee. Ich stelle fest: Dieses Mal ist es nicht die Zeit ‚ohne Geld’.

Am Nachmittag sitze ich wieder auf dem Oranienplatz. Zwischen ‚Gottnamen suchen’ und Überlegung, einen irgendwie präsenten ‚Ruf’ zur Öffnung meines Hauses hier in Köln für Beladene des Lebens – ähnlich der Naunynstraße – das beschäftigt mich, während ich, gestützt auf die Jesusgebetskette in meiner Hand – vergeblich suche, dem Namen ‚Gott’ Klang zu geben. Ich sehe den schwarzen Film.

Dann gehe ich etwas durch den Parkstreifen, der sich dem Oranienplatz anschließt. Ein junger Mann spielt Trompete, improvisiert, nicht künstlerisch, sondern so, wie Seele sich eben Stimme schafft. Ihm schräg gegenüber auf der Bank ein junger Mann, kleine Kopfhörer im Ohr, etwas lässig hingestreckt auf die Bank. Ich denke, ich mag mich neben ihn setzen. Meine Scheu hindert mich. Ich nehme Platz – auf einem Mäuerchen, dem Trompetenspieler direkt gegenüber.

Dann der ‚Ruf’, ich möge mich doch neben den jungen Mann setzen. Nach einigem Zögern stehe ich auf, gehe zu dieser Bank. Im gleichen Augenblick wird die Bank neben ihm frei. Eine Mutter mit kleinem Kind gibt sie frei. Für mich so, als sei das eine Einladung des Ausweichens. Für kurze Sekunden bleibe ich unschlüssig zwischen den beiden Bänken stehen, da sagt der junge Mann: „Setzen Sie sich doch!“. Ich nehme die Einladung an. Er reich mir einen dicken Joint und fragt: „Wollen Sie auch ‚mal ziehen?“. Ich danke, lehne ab, sage was von Nein Danke. Dann spricht er gleich weiter, dass er jetzt aufbrechen müsse, er habe mit einem Kumpel ein Problem zu klären. „Man muss hingehen, um etwas zu klären“, sagt er. Ich höre mitklingen meine Frage nach der Unbenennbarkeit Gottes und meine Überlegungen zum offenen Haus für die Gestrandeten.

Dann sprechen wir über den Trompeter. Ich sage, dass für mich das Improvisieren so etwas ist, wie der Seele Töne zu geben. Sagt er: „Was ist das, Seele? Wenn ich an Seele denke, dann schaue ich nur auf eine Wand und in einen Spiegel. Da sehe ich nur mich. Sonst nichts.“

Und gleich fügt er an: „Jetzt muss ich wirklich gehen. Tschüss dann.“

Und dann ist er schon auf dem Weg.

Ich höre dem Trompeter noch etwas zu.

Ich habe immer noch kein Gottempfinden. Ich habe ein paar markige Sätze, wie wenn für mich gesprochen. Der schwarze Film und die Wand, der Spiegel mit nichts als dem eigenen ratlosen Bild.

Sätze, die Wegleiter sind.

In mein Tagebuch schreibe ich: ‚Liebevolle Einladung. Hingehen. Nicht Kasteiung, das wäre das ‚ohne Geld’. Heute. Nicht Zeit des Fastens.’

3. Tag

Ich bleibe beim Fundamentum – der Gottnamensuche.

Ich fahre mit der Ringbahn S 42 einmal um den Innenbereich Berlins. Ich versuche den Namen ‚Gott’. Ich wende die Gebetsschnur des Jesusgebetes. Es bleibt namenlos. Der schwarze Film. Ich sage, dass all das Bemühen Hirnscheiß ist. Natürlich kann ich Gottesnamen produzieren – dazu bin ich Profi genug. Ich bin aber auch wahrhaftig genug mir zuzugestehen, dass das nicht meine Namen ‚Gott’ sind. Ich probiere Namen: Gott, der du mich ziehst, ziehst, Reiner (der Kranke aus der Kommunität). Bestenfalls nur ‚Gott’.

Ich habe Geld dabei, nutze es nicht. Am frühen Nachmittag bin ich erschöpft vom Nichtbegreifen. Ich gehe in die Wohnung, auf ein Brot und einen Tee. David ist in der Küche. Er kocht Tee. David ist aus Madagaskar. Etwa Mitte 50. Er spricht nicht, ist tagsüber meist nicht zu sehen, arbeitet nachts, ist den Rest der Nacht bis zum frühen Morgen wach, in der Küche. Ruhe- und redelos.

Wir sitzen in der Küche am gleichen Tisch. Ich respektiere, dass er schweigt. Irgendwann frage ich, ob man in Madagaskar auch Tee trinke. Er: „Nein, da ist es zu heiß. Wir trinken eher Wasser.“ Dann schweigen wir wieder. Ich respektiere aus vollem Herzen, dass er lieber schweigt. Ich weiß nicht warum – außer, dass es ‚Ruf’ sein kann: Ich frage ihn: „Musst du oft an deine Heimat denken?“ Und dann erzählt David, spricht aus tiefster Seele, spricht von den politischen Verhältnisse zu Hause, von einem korrupten Präsidenten, der sich am Volk bereichert hat, der von der westlichen Welt gestützt wird, den das Volk aber vertrieben hat. Das Volk habe einen jungen Präsidenten gewählt, aber der Westen und die Weltkonzerne straften das Volk bis auf den heutigen Tag. In Deutschland und im ganzen Westen höre man nichts von diesem himmelschreienden Unrecht. Der alte Präsident sei auch Präsident der evangelischen Kirche Madagaskars gewesen. Er habe öffentlich mit Präsident Busch gebetet. Ob ich mir vorstellen könne, wie wenig er diesem Glauben glauben könne.

Und er zeigt mir Bilder, auf denen Kinder und Jugendliche aufgereiht auf einer Wiese liegen. Erschossen. Von den Milizen des alten Präsidenten „abgeknallt wie Hasen“, bittert David. Und der Westen schweige weiterhin. Das treibe ihn um, die ganze Nacht.

Ich bin erschüttert.

Ich danke ihm, dass er mir das anvertraute. Er dankt mir, dass ich ihm zuhörte.

Er habe sich an die Linken gewandt. Keine andere Partei sei gewillt, nach Madagaskar zu fahren, um sich vor Ort ein Bild zu machen. Nun wolle eine Delegation dieser Partei endlich dort hinreisen. Dank steht auf seinem Gesicht. Er irrt umher wegen dieses Unrechts und ist verschlossen im Leiden und Schweigen. Seine Landsleute schwiegen auch. Sagt er mit, als ich ihn nach Verbündeten unter den Seinen frage.

Wir gehen auseinander. Gott, der du mir das Leiden mitteilst. Das könnte ein Name sein. Aber der fällt mir nicht ein.

Ich lege mich auf das Bett, lese in den Erfahrungsberichten von der Naunynstraße. Plötzlich höre ich auf zu lesen. Ich merke, dass ich von dem Unsäglichen, das mir David anvertraut hat, zwar eine Kopfbestürzung habe, aber nicht wirklich ein Gefühl. Fühllos, schreibe ich später auf.

Ich setze mich wieder auf eine Bank auf dem Oranienplatz. X-Mal versuche ich – aber es bleibt nur: ‚Gott, der du’. Ich will sagen: ‚… der du mich aufweichst’. Ich lasse es. Das ist Kopf. Hirnscheiß. Ich erinnere mich, dass ich im vergangenen Jahr in der Gedenkstätte Plötzensee da saß und weinte und sprechen konnte: „Gott, der du meine Angst bist.“ Es war ein beschenktes Weinen.

Ich denke an den 85-jährigen Franz, Jesuitenbruder, 30 Jahre in der Kommunität Naunynstraße. Er sagt mit der größten Klarheit und liebender Gewissheit: „Gott ist die Liebe“. Ich höre und verstehe nicht. Ich habe gelernt, dass ich auch nicht verstehen muss.

Auf dem Oranienplatz bleibt schließlich: „Gott, der du…; Gott, der…; Gott.“ Und dann mündet es in das vertraute: Herr Jesus Christus, du Sohn Gottes, erbarme dich meiner. Ich gehe dabei.

Zu Hause schreibe ich: „Gott sitzt in meiner Wahrnehmung im Kopf. Ich kriege ihn nicht tiefer.“ Ich lese im Buch des B. Glassman, einem Zen-Lehrer, der Straßen-Retreats macht. Da werde ich aufmerksam auf die Gnade des Nichtwissens. Und auf das Betteln.

Am Abend gehe ich noch etwas raus. Unter einem Baum sitzt ein Gitarrenspieler. Bierflaschen in seiner Nähe. Er spielt. Er singt dazu. Ich gehe an ihm vorbei. Dann der ‚Ruf’. Ich kehre um, frage, ob ich mich neben ihn setzen dürfe. Es bejaht. Wir sprechen über Musik – dass er indische und indonesische Musik könne und dass er gerade mit dem regierenden Bürgermeister Wowereit im Spiegel auf einem Bild zu sehen sei und dass er warte, bis er 60 sei. Dann wolle er in Musik promovieren. Über seine Straßenmusik. Und dass er nicht singen könne, wenn jemand dabei sei.

Dann spielt er. Und irgendwann beginnt er, neben mir sitzend, zu singen. Ich singe mit, halte Grundtöne, ganz im Hintergrund, aber mit dabei. Dann spricht er, dass Musik Geist trage. Ich erzähle ihm, dass ich auf der Straße herumgehe und suche, etwas von Gott zu spüren. Ob er denn denke, dass Gott sei.

Da hört er auf zu spielen, schaut mich an und legt fest: „Ich lese die Bibel und glaube der Bibel! Klar gibt es Gott. Schauen Sie sich doch nur das alles hier an“ – und dabei zeigt er auf das Umfeld, in dem wir gerade sitzen – „ist doch klar, dass es einen Gott gibt. Wo soll das alles herkommen?!“ Wir schweigen. Dann singen wir noch etwas, er innig und Melodien kennend. Ich ganz aus der nahen Ferne mich einbringend mit Grundtönen. basso continuo.

Seine Freundin, offensichtlich anders als das, was Menschen aus Konvention ‚normal’ zu nennen festgelegt haben, seine Freundin hat einen Tonbecher in der Hand, isst daraus Joghurt. Mit Joghurtbrei verschmierten Händen reicht sie mir ohne jeden Vorbehalt die Hand zum Gruß. Ich ergreife sie. Sie zieht die ihre zurück, wischt sie an der Hose aber und reicht mir die Hand erneut – mit der Erklärung, die Hand sei vorhin noch etwas joghurtverschmiert gewesen. „Entschuldigung.“ Ich empfand es nicht ekelig.

Wir singen weiter, ganz zerbrechlich sich vorwagend. Aber zusammen. Zwischendrin sagt er mir, dass er keine Stimmen mehr höre, seit ‚sie’ bei ihm sei. ‚Sie’ hat er gerade geschickt, die hinter der Hecke versteckten Pfandflaschen zu holen, um neues Bier kaufen zu können.

Dann fällt plötzlich Schauerregen. Wir gehen je unserer Wege.

Ich gehe glücklich eingeladen zurück.

Tagesende mit dem Eintrag: „VerwIrrung“.

Zwei Kleine Schwestern sind noch in der Wohnung zu Gast. Wir tauschen uns aus, kennen gemeinsame Bekannte. Ein entspannender Ausgleich für einen Tag, an dem es weiterhin keinen mir erkenntlichen Namen Gottes gibt.

4. Tag

Christian, der Exerzitienbegleiter, gibt mir Exodus 3, die Geschichte der Begegnung des Mose am brennenden Dornbusch. Auch er ‚verrückt’, denn er treibt die Herde über die Steppe hinaus. Christian spricht mir zu den Satz, dass Er, Gott, die Not gesehen habe, die Not seines Volkes in der Knechtschaft in Ägypten. Geschichten, die uns erzählt sind, dass wir vielleicht uns darin finden – nicht als Schafhirten, nicht als Israel´. Als Menschen, die Gott anspricht. Denen er sagt, er kenne das Leiden – nicht nur, dass er es gesehen habe. Mein ‚Leiden’, dass der Kopf hält, aber das Herz sich nicht recht erreichen lässt, nicht so, dass es ein leibdurchdringendes Wahrnehmen ist.

Ich nehme kein Geld mit. Christian sagt, dass er die Suppenküche der Franziskaner in der Wollankstraße empfehle.

Ich fahre mit der S-Bahn zur Wollankstraße. Anderthalb Stunden zu früh für die Suppenküche. In der Bahn sitzend weiß ich nicht, was jetzt weiter sein wird. Ich steige aus der Bahn aus und ‚weiß’, dass ich jetzt mich auf eine Bank auf dem Bahnsteig setze. Ich lese Exodus 3, das mit dem Anruf Gottes: „Mose, Mose“. Und das mit der Antwort des Mose: „Hier bin ich“.

Dann ziehe ich die Schuhe aus. Heiliger Boden? Es reicht nicht. Ich ziehe zudem die Strümpfe aus. Dann fest auf dem Boden. Mehr und mehr weicht das Rufen, weicht meine Antwort auf. Ich vernehme: „Matthias, Matthias“. Ich kann antworten „Hier bin ich“. Und es spürt sich.

Menschen, immer wieder andere, da die Bahnen kommen und gehen, setzen sich für eine kurze Zeit neben mich. Zunächst wage ich nicht, sie anzuschauen. Ich schäme mich wegen der Schuhe und der Strümpfe und der nackten Füße mitten auf einem Bahnsteig in Berlin, Wollankstraße. Später kann ich die Menschen anschauen, die neben mir Platz nehmen. Sprechen kann ich mit einer Frau, die einen lieben Labrador bei sich hat. Nur kurz sprechen, dann kommt ihre Bahn. Der Labrador bleibt noch etwas bei mir, weil ich ihn kraule. Er scheint zu spüren und zu genießen. Dann öffnen sich die Türen der Bahn. Frau und Hund steigen ein.

In der geöffneten Türe eines Zuges steht ein junger Türke. Der schaut mich an. Ich schaue ihn an. Eine eigene Art der Intimität, im Hinsehen, das wegschaut, kurz bevor die Blicke sich treffen. Dann schließt sich die Türe. Christian hält später für möglich: ‚Gott, der du mich ansiehst’.

Ich bleibe im „Matthias-Matthias“ – „Hier bin ich“. Ich lese: „Ich kenne dein Leid.“ Mein Leid ist in diesem Augenblick nichts gegen das Leid, das Menschen bis in die Existenzvernichtung ertragen müssen. Ich bleibe bei Anrede und Antwort.

Nach etwas anderthalb Stunden bin ich bereit. Ich gehe zur Suppenküche der Franziskaner. Ich ziehe die Strümpfe, dann die Schuhe wieder an.

Ich kenne das Kloster, fällt mir ein. Ich habe da mal einen jungen Brasilianer abgeholt, den ich über einen Kölner Freund kennengelernt habe. Er war Gast im Kloster der Franziskaner.

Ich stehe am Haus. Ich gehe weiter. Bald aber fasst mich ‚der Ruf’. Ich gehe zurück. Ich überwinde den Gang am Haus entlang, schon im Blick der Armen, die bereits auf die Öffnung der Suppenküche warten. Wenige sitzen in Grüppchen zusammen, erzählen so, als hätten sie alle Schamgrenzen längst hinter sich lassen müssen.

Die Meisten sitzen schweigend, vereinzelt da. Ich habe Durst. Die Wartenden haben rote Becher in der Hand. Ich wende mich einem Schweigenden am Tisch zu, frage schüchtern, wo es ‚was zu Trinken gäbe. Er zeigt mir mit spärlichen Worten und Gesten: „Da hinten, da steht ein großer Kessel. Da sind auch Becher.“ Dann Schweigen. Ich gehe, wohin er gezeigt hat. Ich nehme einen Becher, den Tee. Ich trinke, weil ich Durst habe.

Dann ist es halb Eins. Ich gehe mit den anderen in die große Schlange der Wartenden. Das ‚Personal’ ist da, die Riesentöpfe stehen am Platz. Es geht dennoch nicht los. Ich werde etwas nervös. Das ‚Personal’ hat eine sehr menschliche Ausstrahlung. Manche geben sich sehr jovial. Ich kenne das – diese joviale Menschenfreundlichkeit. Ich kenne sie von mir, wenn ich im Notel Dienst mache. Als Mann auf der anderen Seite jetzt, hier in der Schlange, als Neuling, empfinde ich diese menschenfreundliche Jovialität als bedrohlich. Die Helfenden sind nach wie vor große und vermutlich wahrhaftige Menschenfreunde. Als Neuling erlebe ich Teile an ihnen als Bedrohung.

In der Schlange stehend bin ich ganz und gar im Jetzt. Kein Hauch eines Empfindens, etwas auszutesten – wie ich mich so in einer Suppenküche machte, als einer, der ‚eigentlich’ alles hat, es mal ausprobieren wollte. Das ist es ganz und gar nicht. Ich bin ganz da. In wirklicher Bedürftigkeit. Mit wirklicher Angst vor der Freundlichkeit der Helfenden. Ich erlebe ihre laute Kumpanei so, als sei das doch nicht so schlimm, dass ich da anstehen müsse. Armut käme vor. Sie, die Helfenden, werden es anders denken. Ich empfinde so. Leibkonkret. Dabei sind sie weder laut noch Kumpel. Ich erlebe ‚es’ nur so.

Dann kommt jemand in den Saal. Später erinnert mich diese Szene an die aus dem Matthäusevangelium, wo einer von den Hecken und Zäunen Eingeladener rausgeworfen wird, weil er kein hochzeitliches Gewand trägt. Einer der Helfer stürzte auf den Mann zu und hielt ihm irgendetwas vor – vielleicht, dass er eine Vereinbarung am Morgen nicht eingehalten habe. Aber der Inhalt war nicht beeindruckend für mich. Das schnell Zugehen auf den Mann brütete in mir Angst: ‚Wird er an der Reihe vorbeigehen und mich herausrufen und mir sagen, ich gehöre da nicht hin?!’.

Der Mann vom Personal ist ganz unauffällig wieder weg gegangen. Ich habe die Bedrohung nur erlebt. Leibkonkret.

Dann, mit einer viertel Stunde Verspätung, tritt eine Frau auf, resolut, mit Schürze um den Leib, faltet die Hände, spricht: „Im Namen des Vaters – und: Komm Herr Jesu, sei unser Gott – und wieder Im Namen des Vaters. Und dann: Guten Appetit.“ Fragt einer einen anderen, beide vor mir in der Reihe: „Bist du religiös?“ Sagt der andere: „Ja, wenn es mir schlecht geht.“ Da lacht der Frager und sagt: „Du bist mir einer“. Und fügt hinzu, dass es bei ihm nicht anders sei.

Dann setzt sich die Schlange in Bewegung. Ich muss nur abschauen, was man zu tun hat. Ich weiß dann, wo der Löffel ist und wie ich an den Suppennapf aus Hartplastik komme. Es gibt Gemüsesuppe, wirklich wunderbar schmacklich. Ich setze mich mit an einen Tisch. Ich wünsche guten Appetit. Kurze Zustimmung, meine Anrede bemerkt zu haben. Essen aber in schweigender Vereinzelung. Nur Leute, deren Scham mir aufgebraucht scheint, schwatzen wie Vertraute, die sich jeden Tag hier treffen. Andere haben sich noch einmal mehr vereinzelnd im Gelände des Klosters verteilt. Unbegegnenbar.

Ich esse, dankbar. Ich höre in mir klingen: ‚Matthias,.Matthias und mein Hier bin ich.’ Ich habe das in der Schlange gespürt, hier am Tisch, dann im wieder Weggehen. Ich setze mich auf eine Bank an der Straße, in die Sonne. Dankbar, dass ich satt geworden bin. Ganz da, jenseits der Überlegungen, was das denn bedeute, wenn ich in eine Suppenküche gehe – nicht als Gebender, sondern als Empfangender.

Ich gehe, komme am Friedhof der Französischen Kirche vorbei. Da mache ich Rast. Sitze auf der Bank. Ich bin.

Auf dem weiteren Weg, wieder auf die U-Bahn zu, komme ich an einem Zentrum für intensive Beatmung vorbei. Vermutlich ein Zentrum für Komapatienten. Ich denke, dass der Ruf morgen dorthin gehen wird.

Am Abend feiert die Kommunität Messe – zu Ehren und zum Dank zum 85. Geburtstag von Franz. Es wunderbares Fest, in einer Schlichtheit, die festlich ist. Nach langem Schriftgespräch – da war das Evangelium mit dem, der wegen Mangel an hochzeitlichem Gewand heraus geworfen wurde – das Abendessen. Brot, das von der Tafel kommt, ebenso der Schichtkäse, dessen Mindesthaltbarkeitsdatum um ein paar Tage verstrichen ist. Und Wasser, Berliner Wasser aus dem Hahn. Und alles ist festlich. Später kommt noch Renate hinzu. Ein Feuerwerk an Lebendigkeit. Eine Lebendigkeit, die sie ab und an in die Psychiatrie sperrt. Sie wirbelt alles auf. Und alles passt.

5. Tag

Im Gespräch mit Christian bespreche ich: „Der ‚Ruf’ heute führt mich zum ibc – dem intensiv-beatmungs-centrum. Bevor ich mich aufmache, lese ich ein Kapitel aus den Erfahrungsberichten der Naunynstraße zu Ende. Da lese ich vom Arbeitsamt und den Arbeitslosen. Ich spüre meinen ‚Ruf’, statt zum Beatmungszentrum ins Arbeitsamt Charlottenburger Str zu gehen. Ich glaube, dass ich mich dort noch einmal – wie bei der Suppenküche – in eine Reihe stellen muss, ausgesetzt, ausgesondert, zwangsläufig, weil eben nicht in gesicherten Verhältnissen. Wieder weiß ich, dass ich im Jetzt bin. Ich probiere nichts aus.

Auf dem Weg zum Ostbahnhof verlangsamen sich ungewollter Weise meine Schritte. Ich bekomme keinen Kontakt mehr zu dem „Matthias, Matthias“ und dem „Hier bin ich“. Ich werde langsamer. Ich spüre ‚Ruf’: ‚Geh weg von der Straße. Geh auf den Spielplatz da. Zieh die Schuhe und die Socken aus, vielleicht geht ‚es’ dann’.

Ich wende mich nach links, auf den Spielplatz. Der ist durch einen breiten Weg getrennt. Als Spielgeräte sind überwiegend Balancierbalken zusammengestellt. Ich setze mich auf einen, auf der östlichen Seite der Spielanlage. Ich ziehe die Schuhe aus, die Strümpfe auch. Ich stelle die Füße auf den Kiesboden des Spielplatzes. Der Ruf und meine Antwort des ‚Hier bin ich’ bekommen wieder Lebendigkeit.

Mütter mit Kleinkindern kommen auf den Spielplatz. Sie lagern sich auf dem gegenüberliegenden Teil des Platzes. Irgendwann kommen drei kleine Mädchen – ich schätze sie dreijährig – und spielen im Kies. Balken des Spielgerätes verhindern unseren Blick zueinander. Irgendwann reckt eines der Mädchen immer wieder den Kopf zur Seite und schaut mich an. Wir lächeln uns zu. Die Mütter bleiben im anderen Spielfeld. Dann kommen die Drei, sagen mir, ich müsse jetzt den Balken verlassen, auf dem ich sitze: „Wir wollen jetzt hier spielen!“ Ich frage, ob ich ganz weggehen solle, aber mit Nachdruck verordnen sie: „Setz dich da auf den Balken und schau uns zu.“ Ich folge. Die Kinder balancieren. Dann ruft eines, das Mädchen, das vorher auch immer wieder um die Ecke geblinzelt hat, ruft, sie springe jetzt und ich müsse sie fangen. Und dann springt sie schon und ich fange sie auf. Nun kommt doch eine der Mütter. Ich denke: ‚Wenn die wüssten, dass ich auch noch ein katholischer Priester bin…’ Ich schmunzelte. Das Mädchen geht über einen Balken, streckt den Arm aus und befiehlt: „Du musst mich festhalten!“ Ich halte meine Hand der ihren entgegen. Sie fasst zu. Wir gehen – zwei Mal, drei Mal, dann ist die Mutter da und sagt etwas gereizt, sie könne doch wirklich ohne Hand allein gehen. Ich nehme natürlich sogleich meine Hand weg. Das Kind fragt noch einmal nach meiner Begleitung. Die Mutter wiederholt, sie sei eine besonders gute Balanciererin und sie könne alleine gehen. Ich dränge mich nicht vor.

Das Kind springt vom Balken und schaut mich von unten an, fragt: „Wie heißt du?“ Ich sage meinen Namen: Matthias, und frage sie: „Wie heißt du?“ Da sagt sie: Dominica. Sonntag.

Wieder so ein Kitsch wie aus amerikanischen religionspädagogischen Filmen der Siebziger Jahre.

Die Kinder spielen noch weiter, von der Mutter auf den anderen Teil des Spielraumes zurück geführt. Ich bin beglückt von dieser Begegnung. Ein Geschenk. Könnte ich Namen Gottes sagen, dann hier: … der du mich ansiehst, der du an meiner Hand gehst, … der du dich auffangen lässt…

Ich kann es aber gut ohne diesen Namen.

Ich schreibe meinen Namen auf: Matthias, Geschenk Gottes.

Ich lese den Psalm 8. Ich habe Kontakt, dass er meinen Namen ruft und ich antworte: „Hier bin ich.“

Nach einer Zeit der Beglückung ziehe ich die Schuhe wieder an. Es ist bald halb eins. Hungergefühl meldet sich. Ich denke daran, zur Suppenküche nach Pankow zu gehen. Ich habe für heute genügend Begegnung.

Ich wähle den Weg zurück zur Haltestelle Kottbusser Tor. Ich gehe an einem kleinen Straßencafé vorbei. Drei Tische draußen. An zwei sitzt je eine Person. Im Vorübergehen sehe ich auf dem Tisch ohne Gäste ein Frühstückskörbchen mit einem halben, abgerissenen Mohnbrötchen. Ich gehe vorbei. Dann wieder ‚der Ruf’, ich solle umkehren und den Besitzer um dieses Brötchen bitten. In diesem Augenblick gibt es keinerlei Gedanke, ob ich mal etwas Verrücktes ausprobieren solle. Ich bin auch nun wieder im Jetzt, in meinem Hungergefühl. Ich bin in diesem Augenblick nicht der, der die ganze Auslage des Ladens hätte kaufen können. Ich bin der, der braucht, weil er nichts hat. Jetzt, in diesem Augenblick.

Ich trete in den Laden. Gottlob niemand außer dem Besitzer darin. Er ist beschäftigt. Es wird eine halbe Minute gewesen sein, dass ich mein Anliegen nicht vortragen konnte. Dann, als er direkt neben mir einen Aschenbecher in eine Mülltonne leert, frage ich ihn: „Darf ich das halbe Brötchen draußen haben?“ Er schaut nach oben zu mir und sagt karg: „Natürlich.“

Ich gehe hinaus, nehme das Brötchen, wage erst beim letzten der Tische wieder auf zu sehen. Ich zupfe im Inneren des Brötchens, esse davon. Und im Halten des Brötchens überkommt mich eine Flut an Empfindung. Mir, der nicht weinen kann, steigen Tränen in die Augen. Ich suche die nahe liegende Bank in einem Park auf, setze mich, schluchze, weiß nicht warum, aus Staunen, dass ich als Erwachsener erstmals gebettelt habe; aus Dankbarkeit, dass ich bekam, was ich in diesem Moment brauchte. Umsonst, ohne Zurückweisung. Ich esse das Brot der Tränen. Nicht wissend, was sie tragen.

Als ich mich wieder beruhigt habe, mache ich mich auf zur U-Bahn, steige an Gesundbrunnen um in die S-Bahn nach Oranienburg, bin mit Leuten zusammen. Einer sieht etwas so aus wie unser verstorbener Bruder Toni.

Manche steigen an der Wollankstraße aus. Einer neben mir drückt den Knopf, durch den sich die Türen öffnen. Wir gehen unserer Wege.

Unterwegs male ich mir aus, dass ich nun dieses zweite Essen in der Suppenküche als ein Dankessen feiern werde. Ich komme auf den Platz vor der Suppenküche. Mehr Bedürftige stehen Schlange als am Tag davor. Wieder die Vielen, die verschämt vereinzelt, oft im Stehen, ihre Suppe löffeln.

Es gibt einen Eintopf mit ganz viel gequollenem Reis, ein wenig Gemüse, unübersehbar viele klein geschnittene gekochte Eier. Vermutlich eine Riesenladung von der Tafel, Partyeier mit Überschreitung des Mindesthaltbarkeitsdatums.

Das Essen schmeckt überhaupt nicht. Wir sitzen mit vielen am Tisch. Alle schweigen. Ein verstohlenes ‚Guten Appetit’, mehr nicht. Es ist keine Romantik, in der Suppenküche essen zu gehen. Gestern schmeckte die Suppe wunderbar, heute ist das Essen eine Mühsal. Ich kann weiter sagen: ‚Hier bin ich’.

Von dem Übermaß der Eindrücke dieses Tages gehe ich langsam wieder über die Wollankstraße und die Prinzenallee zur U-Bahn-Station. Ich bin erschöpft, betrete den Elisabeth – Kirchhof, suche eine Bank, verscheuche die Unzahl der Feuerwanzen, die oben auf sich von der Sonne bescheinen ließ, klopfte auf die Bank, dass die Tiere wenigstens auf die Unterseite der Bank wechseln. Ich schaue in die Sonne, sehr bewegt, ermattet, überwältigt. Später sagt mir jemand, dem ich von diesem Tag erzähle, dass das so sei: ‚Wenn die Obdachlosen überwältigt sind, dann suchen sie auch eine Bank, egal wo. Hauptsache, sie können ausruhen’.

Feuerwanzen sind Mitgeschöpfe.

Am Abend halte ich das Abschlussgespräch mit Christian. Meine Erschütterung mit dem halben Brötchen ist weiter wach, weckt Weinen und Rührung. Das Verstockte, ein wenig weicher. Für diesen Moment.

Am folgenden Tag versammelt sich wie jeden Samstag der Kreis der Bewohner und Freundinnen und Freunde der Naunynstraße zum schönen gemeinsamen Frühstück. Dabei werde ich im Laufe des sich hinziehenden Mahles eingeladen, von meiner Woche dort zu erzählen. Ich erzähle der Reihe nach. Wir werden durch Neuankömmlinge zwei Mal unterbrochen. Dann fügt sich der Erzählfaden wieder an. Die Anrührung ist geblieben, als ich erzähle, dass da ein halbes Brötchen lag, um das ich fragen ‚musste’ und dass es so war, ohne dass ich wirklich verstehe.

Michael begleitet mich – wie im Vorjahr – zur Bahn, wartet wieder, bis der Zug einfährt, wartet auf dem Bahnsteig, bis der Zug losfährt. Ein Wiedererkennen.

Ich fahre gefüllt, höre auf dem Weg Musik, schaue aus dem Fenster, habe keinen schwarzen Filmstreifen vor mir. Muss nicht wissen, wie der Name Gottes sein könnte. Ich habe meinen Namen gehört und gesagt: ‚Hier bin ich’.

Man kann es sozialpsychologisch sehen.

Man kann es als Raum der Gottberührung sehen.

Es ist eine Frage der Welt-Anschauung.

Zweifelsohne liegen sie beide nahe beieinander.

Eine Deutung aus der Möglichkeit Gottes.