Manuela Knopp (2013)
Im Juni war ich für vier Tage auf den Straßen Berlins unterwegs. Ausgebrannt und traurig machte ich mich vom Schwabenland auf in die große Stadt. Hab schon auf der Fahrt nach Berlin viel geweint: um eine unerwiderte Liebe und um meinen Cousin, der sich kurz zuvor mit 22 vor einen Zug gelegt hat. Ich war so wütend und traurig. Kraftlos. Die Frage nach Gott war so präsent. Fühlte mich von ihm überfordert. Ich weinte und weinte und so kam mir der Gedanke: Am ersten Tag geht’s zum Palast der Tränen. Der Palast der Tränen ist die ehemalige Ausreisehalle des Grenzübergangs Friedrichsstraße. Ein Ort des Abschieds der Trauer und der Angst. Viele wollten mich dort trösten. Ich saß auf einer Bank im Tränenpalast und konnte durch ein großes Fenster nach draußen auf den Bahnhof und die vielen Menschen schauen. Die Tränen flossen. Ein Security-Mann fragte, warum ich denn weine und ich hatte das Gefühl er wollte mich loswerden. Antwortete nur, dass man hier im Palast der Tränen ja wohl weinen dürfe. Ich weinte auch wieder den ganzen ersten Tag in Berlin. Schämte mich. Da fiel mir die Bibelstelle (Lukas 7,36-50) ein, in der eine Sünderin Jesus die Füße mit ihren Tränen salbt. Wie schön … welche Aufwertung von Tränen, von meinen Tränen. Im Laufe des Tages fiel mir Dietrich Bonhoeffer ein: „Und reichst du uns den schweren Kelch den bittern, des Leids gefüllt bis an den höchsten Rand, so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern aus deiner guten und geliebten Hand.“ Wie kann jemand in so einer Situation wie Dietrich Bonhoeffers so eine Strophe schreiben? Mir völlig unbegreiflich, unfassbar. Am zweiten Tag war Plötzensee, ein Gefängnis und eine Hinrichtungsstätte während der NS-Zeit mein Ziel. Viele Widerstandskämpfer ließen dort ihr Leben. Hier wollte ich Bonhoeffer nachspüren. Ich saß in der Bahn und konnte mich aber nicht entscheiden an der Haltestelle auszusteigen. War träge. Es war die Ringbahn und beim zweiten Mal an dieser Haltestelle sagte eine Frau: „Komm mein Kind hier müssen wir aussteigen.“ Es war eine Mutter zu ihrem Kind. Doch für mich war es Gott, der das zu mir sagte. Ich stieg aus und um in den Bus nach Plötzensee. Dort setzte ich mich barfuß in den Ausstellungsraum, weinte und weinte. Meine Tränen machten den schlichten Betonboden richtig nass. Für mich war es, als ob ich ihn irgendwie salben würde. Dann kam eine Gruppe niederländischer Touristen. Sie redeten sehr laut und viel. Ich überlegte zu gehen. Doch ich dachte auch ich habe das Recht hier zu sein und zu weinen. Sie sahen mich irgendwann und wurden ruhig, andächtig. Es fühlte sich so an, als ob ich den Ort geheiligt hätte mit meinen Tränen. Ich senkte meinen Kopf und weinte immer noch. Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter und ich schaute hoch. Da stand eine Frau vor mir, schaute mich an. Ein Blick … der mich tief berührt hat. Nicht mitleidig. Sie wischte meine Tränen ab mit ihren Händen. Ohne Worte und ohne Mitleid im Blick. Ich konnte es zulassen. Berührt von einer Fremden. Ich schaute wieder auf den Boden und hab sie nicht mehr gesehen. „Gottes zärtlicher Engel“ habe ich sie genannt. Hier hat ER mich so berührt, angerührt. Ich war wieder allein und sang „Von guten Mächten“ aus tiefstem Herzen in dieser Halle. Da störte mich auch die neue Touristengruppe nicht.