Wolfgang Palm (2012)
Nach den ersten Informationen zu „Exerzitien auf der Straße“ während des 2. Ökumenischen Kirchentages in München 2010 durch meine Frau entwickelte sich schnell die Vorstellung: damit lässt sich mein geliebtes Reisen in einem religiösen Zusammenhang und mit tieferem Sinn praktizieren. Im Herbst des gleichen Jahres nahmen meine Frau und ein Jahr später wir als Paar in Berlin an einem Exerzitienkurs teil. So stand mein Aufbruch heuer vom 13. Mai bis zum 13. Juni auf dem Caminho Portugués von Lissabon nach Santiago de Compostela unter diesem Vorzeichen. Anlässlich meines 60. Geburtstags im Februar 2012 sehnte ich mich nach einer „Auszeit“ mit IHM auf einem längeren Pilgerweg, nach bisher lebensprägenden Erfahrungen selbstverständlich auf einem Jakobsweg. Wie in Exerzitien, wollte ich diesen Weg gehen mit IHM, der der Weg i s t, vier Wochen lang. Die Offenheit für IHN, Seine Gegenwart, Seine Botschaften an mich – das sollten leitende Maxime sein für eine Zeit der Einkehr, der Aufmerksamkeit und Wachheit, der Rückschau auf mein bisheriges Leben und ein Beschäftigen, wie mein weiteres Leben sein könnte und wohin ER mich führen will in der Zeit, die ER mir schenkt.
Start vom Flughafen Köln-Bonn nach Lissabon am Sonntagmittag des 13. Mai. Mit einem Exzerpt des Büchleins von Christian Herwartz „Brennende Gegenwart“ im Rucksack. Im 1. Abschnitt dieses Pilgerweges existieren keine Pilgerherbergen, die Etappen sind durchweg sehr lang (ca. 30 km +/-), portugiesische Sprachkenntnisse erforderlich und anderes mehr. So die Angaben im Pilgerführer. Im Kontrast dazu die Aussendung der Jünger Jesu: „Nehmt keine Vorratstaschen mit ….“ Und die Ausführungen dazu von Christian. Überhaupt spielte das Kapitel „Planung“ von Anfang an eine gewichtige Rolle. Bin ich doch ein Mensch, der normalerweise viel Struktur braucht, sucht und möglichst oft herzustellen bestrebt ist – materiell, zeitlich, in Beziehungen. Einen ganzen Tag verbrachte ich in Lissabon, um Abstand zu gewinnen von sehr stressigen Zeiten zu Hause und um mich auf den Exerzitienweg einzustimmen. Beim Anflug erblickte ich das Nationalheiligtum „Cristo Rei“, eine 1959 am Südufer des Tejo errichtete 110 Meter hohe Christusfigur. Vor 33 Jahren stand ich an ihr mit Freunden, die wir uns anlässlich einer Priesterweihe in Portugal zusammengefunden hatten. Wir, Studenten aus Benediktbeuern in Oberbayern und Studienort der Salesianer Don Boscos. Bei dieser Gelegenheit begab ich mich an diesen Ort vieler, guter Erinnerungen.
Meine Tochter heißt Lucia. In der Altstadt im Teil Alfama steht die Kirche Sta. Luzia, gegenüber St. Jakobus. Beide Kirchen standen auf meinem Besuchsprogramm. Die Straße zur Jakobuskirche ist mit einer schweren Kette vom Autoverkehr abgesperrt. Diese Kette, etwa 20 cm über den Straßenpflastern hängend, übersah ich. Mit schnellem Schritt hatte ich die Autostraße überquert. Entsprechend heftig der Schmerz am unteren Schienbein, neben einer vor kurzem mehr oder weniger verheilten Entzündung, die wochenlange Diagnosensuche und Behandlung erforderte. Ein großes Fragzeichen, ob ich am nächsten Morgen meinen Pilgerweg starten könnte und wie sich die Prellung (auf dem Hintergrund der Entzündung) auswirken würde.
Alles verlief ausgezeichnet am nächsten Tag. Start, Orientierung anhand von gelben Pfeilmarkierungen, Rückkehr auf „den rechten Weg“ nach einem „Verhauer“, Quartier in einer Rettungswache, Sommer mit über 32 Grad im Schatten. Bis auf eine Riesenwasserblase unter der linken Ferse. Als ich am späten Mittag des nächsten Tages mein Ziel erreicht hatte, zeigte sich ein Teil des linken Fußes in Blau-rot-gelb-Färbung, ohne direkte Schmerzen. Das konnte das Ende des geplanten Weges sein. In der Gesundheitsstation der Stadt vermutete die Ärztin eine Thrombose oder Blutvergiftung und überwies mich ins Krankenhaus, ca. 20 km zurück Richtung Lissabon. Gegen Mitternacht die Diagnose: vermutlich Überlastung des Fußes, nichts anderes. Empfohlene Behandlung: weniger Belastung. Riesenerleichterung und Dank an IHN, der mir den zweiten deutlichen Hinweis gab, w i e ich gehen sollte, um (ggf.) mein Ziel zu erreichen. Damit änderte ich meine weitere „Strategie“: die folgenden zwei Nächte buchte ich ein Hotelquartier in einer Stadt, die ich mit dem Zug erreichte; ab sofort 15 km Maximalstrecke pro Tag; möglichst viel Entlastung vom Rucksacktragen; und Pausen einlegen. Damit kam ich die nächsten Tage gut weiter.
Am 9. Tag, etwa 12 km von der großen Stadt Coimbra entfernt, suchte ich eine Übernachtungsmöglichkeit in einem Internat. „Zufällig“ kam ich nicht zum Haupteingang des großen Geländes, sondern erhielt auf Anfrage von einem Einheimischen den Richtungshinweis, der mich zum Noviziat der portugiesischen Gesellschaft Jesu führte. Luís, seit etwa ½ Jahr Novize, sprach gut englisch, organisierte für mich einen Schlafplatz im Gästehaus der Schule und lud mich – nach Rücksprache mit dem Hausleiter – für die Stunden meiner Anwesenheit zum Mitleben in seiner Hausgemeinschaft ein. D.h. Einladung zu Mahlzeiten, Gebeten, Gottesdienst am Abend, Hausbesichtigung. Er zeigte mir in einem Meditationsraum einen Schuh vom Hlg. Franz von Xaver. Beim Gespräch während der Mahlzeiten erzählte ich u.a. von den Straßenexerzitien in Berlin und Christian. Ein Pater, der nach mehr als 30 Jahren Einsatz in Mozambique zurückgekehrt ist, ein junger Mann am Beginn seines Lebens in der SJ, ich als 60-jähriger Ehemann und Familienvater, als Christ mit Ehrenämtern und Haus- und Grundbesitz – als Tisch- und Gebetsgemeinschaft begegneten wir einander, „Berlin“ und „Cernache“ entwickelten sich zur sprudelnden Quelle von Heimaterfahrung und ignatianischen Impulsen. Jesus als Weg, Schuhe ausziehen, Sendung – das erhielt eine unfassliche Dichte, Nähe und Tiefe.
Am nächsten Tag in Coimbra, Portugals ältester Universitätsstadt, erhielt ich vormittags einen der sehr begehrten Schlafplätze in der Jugendherberge. So konnte ich unbeschwert die Stadt anschauen. Eine Unterkunft besuchte ich am Nachmittag, von der ich eine Adresse hatte ohne nähere Angaben. Sie erwies sich als Haus für Menschen ohne festen Wohnsitz. Als ich als Santiagopilger das Angebot für eine Übernachtung in einem Dreibettzimmer erhielt und ein gemeinsames Abendessen mit allen Bewohnern, war wieder Berlin mit Christian und den Exerzitienerfahrungen ganz nah. Ich wechselte das Quartier. „Offen sein, Schuhe ausziehen, die alten Schuhe lassen (?)…“ – das erhielt hier eine sehr eindrückliche und wertvolle Bedeutung.
Ich habe Santiago erreicht: ohne (Wett-)Lauf mit anderen Pilgern und Eile; mit viel Zeit für Rosenkranzbeten; dem (inneren) Singen von (Taizé) Liedern; fast tägliche Teilnahme an einer Eucharistiefeier in portugiesischer oder spanischer und 2 x unterwegs mit einer Ministrantengruppe und jeden Morgen in Santiago in deutscher Sprache; mit täglichen Reflexionen und Spurensuche. Selten gab es einen Austausch mit anderen über Erfahrungen mit IHM. „Schuhe ausziehen …“ ist eine ständige Anfrage bei den sehr vielfältigen Begegnungen unterwegs. Christliche Motive zur Pilgerreise finden sich auf den Jakobswegen – ausgesprochen – selten. ER war da und das Tagebuch als Möglichkeit, Erlebnisse in Worte zu fassen. Der Jakobsweg als Übungsweg, den eigenen Glauben zu vertiefen – Form, Inhalt und Absicht scheinen mir in vielen (oder allen) Punkten ähnlich zu sein mit dem Konzept der Straßenexerzitien. Für mich eine sehr bereichernde Erfahrung, an die bewährten Motive des Pilgerns über Jahrhunderte anzuknüpfen und in einer Zeit zu praktizieren, die von modernen Zeitströmungen oftmals be- oder überdeckt wird und mich auf meinen Lebensweg insgesamt von IHM führen zu lassen und auszurichten. Viele Erfahrungen helfen, den neuen Aufbruch nach dem Erreichen des (Zwischen-)Ziels Santiago inspiriert, gestärkt und vertrauensvoll zu beginnen und auf meinem Lebensweg weiterzugehen. So wird die vierwöchige Übungszeit in Portugal und Spanien zur Grundlage, aus der einen oder anderen Gewohnheit – „aus alten Schuhen“ – auszusteigen und auch im Alltag und gewohnter Umgebung Hinderliches zu lassen, Neues zu wagen und un-beschwerter mit leichterem Gepäck IHM entgegen zu gehen. Nach wie vor helfen mir die Fragen, Anregungen und Aussagen in „Die brennende Gegenwart“ und meine Erfahrungen in Berlin mit Straßenexerzitien, offener und lebendiger zu leben, mein Leben besser zu verstehen, mehr Klarheit zu gewinnen, Mut für neue Schritte zu spüren sowie Orientierung und Freude, mit IHM auf dem Weg zu sein. Die „Freundschaftsikone“ mit Jesus und Abt Menas und eine Zusammenfassung von „Die brennende Gegenwart“ – meine wichtigsten Gepäckstücke im Rucksack auf dem Jakobsweg.