Klara Maria Breuer smmp (Januar 2012)
Als ich mich 2003 erstmals auf Straßenexerzitien in Berlin einließ, ahnte ich nicht, auf welche Weise sie etwas ins Fließen bringen würden, was meinem weiteren Weg Richtung gegeben hat und gibt. Inzwischen lebe ich seit mehreren Jahren in Münster. In der Stadt sind Kontakte zu Menschen ohne Obdach an Leib oder Seele gewachsen. Aus den Straßenexerzitien geht die Erinnerung an den Brennenden Dornbusch mit mir und die Haltung der Achtung, die im Bild der ausgezogenen Schuhe liegt. So gehen Straßenexerzitien und der Weg des Lernens für mich weiter, manchmal eher zaghaft, doch an der Hand des „Ich-bin-der-Ich-bin-da.“ Von Weg- und Lernerfahrungen spricht auch dieser Text, ursprünglich als Erfahrungsbericht für eine Veranstaltung geschrieben.
„Begegnungen mit Menschen auf der Straße“ ist mein Beitrag überschrieben. So möchte ich einladen, sich mit mir nach Münster zu begeben, der Stadt, in der ich seit fünf Jahren lebe, einer Stadt mit ihrem besonderen Charme und ihren eigenen Herausforderungen. Wir Schwestern, die zum Konvent unserer Ordensgemeinschaft in Münster gehören, wohnen im Deutschen Studentenheim, in der Innenstadt. So ist es auch hauptsächlich die Innenstadt, in der ich mich bewege.
Zunächst möchte ich Sichtweisen anbieten, die mir persönlich wichtig sind: Meinen Dienst erlebe und verstehe ich als „Weggefährtenschaft“. Als Schwester der hl. Maria Magdalena Postel, als Person, die ich bin, kreuzen sich meine Wege mit Menschen, denen ich an verschiedenen Orten begegne: Zufällig auf den Straßen; im „Treffpunkt an der Clemenskirche“, Anlaufstelle für Menschen in Not, in der ich mitarbeite; in unsren monatlichen ökumenischen Gottesdiensten, insbesondere für Menschen ohne Obdach für Leib und Seele, und bei anderen Gelegenheiten.
Dabei weiß ich mich eingebunden in ein Netzwerk von Vielen, die in unserer Stadt professionell oder ehrenamtlich an der Seite von Menschen in Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit sind: Unser Team im „Treffpunkt“, das Haus der Wohnungslosenhilfe, der Ordensarbeitskreis für Menschen in Wohnungsnot, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Straßenmagazins draußen, das kleine ökumenische Team für den Beerdigungsdienst Obdachloser, um nur einige zu nennen. Das erlebe ich als Stärke in unserer Stadt: An verschiedenen Stellen engagieren sich Menschen. Wir wissen umeinander und ergänzen einander.
Eine Sichtweise betrifft die Straße selbst. Straßen sind auf den ersten Blick zweckdienlich. Sie ermöglichen, von einem Ort zum anderen zu kommen. Manchmal schaffen sie auch Begegnungen, besonders wenn ich zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs bin. Die Straße und öffentliche Plätze als Aufenthalts- oder gar Schlafraum sind uns dagegen fremd. In Münster gehen wir von etwa 30 Personen aus, die „Platte machen“, wie das Übernachten draußen in der Sprache der Straße heißt. Doch wenn die Personen hinzugezählt werden, die in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe sowie Projekten für Wohnungslose leben, gelten etwa 400 bis 500 Menschen als „wohnungslos“.
„Ich gehe zwischen Aasee und Bahnhof spazieren“ pflegt Pfarrer Wilhelm Schultes gerne zu antworten, wenn er gefragt wird, was er macht. Seit mehr als 10 Jahren ist er Seelsorger wohnungsloser Menschen in Münster. Wer ihn kennt oder ihn begleitet, weiß, wie aufmerksam sein spazieren gehen ist, unterbrochen von dem, was er „Sakrament der Begegnung“ nennt: Menschen sprechen ihn an, oder er sie. In seinem Rucksack hat er meist Tabak und Feuerzeug dabei, auf der Straße vielmals eine erste Gesprächsbrücke. Oft drücken neben persönlichen Problemen auch Geldsorgen.
Begegnungen ergeben sich, wenn wir da sind, wo sich unsere Bekannten aufhalten: Verkäufer des Straßenmagazins, Frauen und Männer, die an den Kirchentüren oder in der Fußgängerzone einen Obolus erbitten, Bekannte, die im Park sitzen oder, bei wärmeren Temperaturen, auf Bänken in der Fußgängerzone. Da zu sein ermöglicht es, zumindest eines zu geben: Aufmerksamkeit, Wertschätzung und ein offenes Ohr. Auch meine Wege durch die Innenstadt, zum Bahnhof oder Einkauf, lassen mich oft dem einen oder anderen begegnen. Für mich sind solche Begegnungen nicht Zufall, sondern haben ihre eigene Fügung und ihren eigenen Sinn. Sie tragen, so glaube ich, dazu bei, Verbundenheit zu festigen. Man kennt und grüßt sich, wie das unter guten Bekannten ist.
Manchmal mache ich mich außerhalb meiner wenigen Dienstzeiten zum „Treffpunkt“ auf. Regelmäßige Gäste kenne ich. Ich setze mich dazu, wechsle ein paar Worte oder führe ein längeres Gespräch. Es gibt Begegnungen, die in mir nachklingen, mich bewegen, in mein Gebet eingehen. Sie lassen auch mich nicht unverändert, wirken hinein in meine Sicht des Lebens und meinen Weg des Glaubens.
Neben Aufmerksamkeit ist mir ein weiteres wichtig in „Begegnungen auf der Straße“: Die, denen wir begegnen, haben einen Namen. Wir nennen jemand bei seinem Namen oder fragen nach dem Namen, dessen eingedenk, dass Gott dem Menschen zusagt: „Ich habe dich beim Namen gerufen.“ Es ist nicht „der Bettler“ vor der Lambertikirche, sondern der Mensch mit Namen, der da sitzt, dem wir zu begegnen suchen, auf Augenhöhe.
Diese Sicht Gottes auf den Menschen leitet uns insbesondere, wenn ein Mensch aus unserem Umfeld stirbt. Stirbt jemand auf der Straße oder hat er keine Angehörigen, so ist die anonyme Beisetzung der übliche Weg. In Kontakt mit monatlich diensthabenden Beerdigungsinstituten sorgen wir, das Team für Beerdigungsdienst um Pfarrer Schultes, dafür, dass eine würdige Trauerfeier für den Verstorbenen, die Verstorbene gehalten wird. Dies geschieht oft dort, wo der Verstorbene, die Verstorbene seinen, ihren Platz hatte. Im November 2011 haben wir zum Beispiel im „Treffpunkt an der Clemenskirche“ in einer Trauerfeier von Sven Abschied genommen. Sven war regelmäßig bei uns zu Gast. Schwer drogenabhängig, ist er nur 32 Jahre alt geworden. Die Trauerfeier in unserem Essensraum war ein dichter Moment der Erinnerung an ihn. Miteinander haben wir unserer Trauer um und unserer Hoffnung für Sven Ausdruck gegeben. Teammitglieder und Gäste sowie Bekannte von Sven waren in den Räumen zusammen, in denen er so oft unter uns gewesen ist. Ein Mann, der Sven von der Straße kannte, erzählte, wie er ihn einmal nach dessen Namen gefragt habe. „Nenn mich, wie du willst“, habe der geantwortet. „Er hat mich drei Tage zappeln lassen, bis er mir seinen Namen verraten hat“, erzählte sein Bekannter. In der persönlich gestalteten Trauerfeier suchen wir die Anonymität aufzubrechen, noch einmal die Würde des Verstorbenen, der Verstorbenen zum Ausdruck zu bringen. Im „Treffpunkt“ gehört im Anschluss der Trauerfeier ein gemeinsames Mittagessen mit Würstchen und Kartoffelsalat dazu. Eine gute Tradition ist inzwischen das Gedenken an alle Verstorbenen aus unserem Umfeld beim ökumenischen Gottesdienst am Allerheiligentag in der Clemenskirche. Jeder, jede wird mit Namen genannt, ein Teelicht wird angesteckt – ein bewegender Moment…
Eine weitere Haltung, so lerne ich, ist wichtig in dieser Weggefährtenschaft: Verlässlichkeit und Kontinuität der Beziehung. Bis eine Beziehung vertrauter wird, braucht es seine Zeit. Menschen auf der Straße haben ein gutes, sicheres Gespür für Echtheit. Ihnen kann – und darf – ich nichts vormachen. Die leisen Töne wahrzunehmen, lerne ich. Worum geht´s? Ich denke zum Beispiel an Meinulf, der in einem Pflegzentrum lebt. Über längere Zeit schon kenne ich ihn. Einmal rief er mich per Handy an. „Mein E-Rolly ist kaputt, und ich habe keine Fluppen mehr“, kam mir seine Stimme entgegen. Von meiner Erfahrung mit ihm wusste ich, dass ich zurückzurufen habe. Ich habe ihn besucht. Und ich glaube, wichtiger als das mitgebrachte Päckchen Tabak war die für ihn erfahrbare Verlässlichkeit derer, die er seine Freunde nennt.
„Begegnungen mit Menschen auf der Straße“: Mich persönlich lehren sie, das Evangelium mit neuen Augen zu sehen. Ich ahne die Spur Jesu, von dem so viele Begegnungen „unterwegs“ erzählt werden. Es wird berichtet, dass Jesus sich von solchen Begegnungen unterbrechen ließ. Er blieb für einen Menschen stehen. Und, auch das berichten die Evangelien, er war in Begegnungen Gebender wie Nehmender, Lehrender und selbst Lernender.
Ich möchte mit einem Satz schließen, der mir in meiner „Weggefährtenschaft“ Orientierung gibt. Er stammt, wie ich jetzt entdeckt habe, von der australischen Ureinwohnerin Lila Watson:
„Wenn du gekommen bist um mir zu helfen,
dann vergeudest du deine Zeit,
doch wenn du gekommen bist,
weil du verstanden hast,
dass deine Befreiung unauflösbar
mit meiner Befreiung verbunden ist, dann:
lass uns gemeinsam an die Arbeit gehen!“