Margit (20. Mai 2006)
Dass Berlin einmal so wichtig werden könnte in meinem Leben, hätte ich nie gedacht. Seit 27 Jahren bin ich aus Deutschland weg und habe es nur hin und wieder während meines Urlaubs besucht, und dann immer nur meine Heimat im Frankenland.
Im Ausland war es, genauer gesagt in Italien, wo ich auch jetzt lebe, als mir bewusst wurde, wie sehr die Grausamkeiten des 2. Weltkrieges uns Deutschen ein Siegel aufgedrückt haben. Ich hatte selber den Krieg nicht mitbekommen, da ich erst neun Jahre nach dessen Ende geboren wurde, aber ich gehörte zu dem „Volk, das soviel Unheil angerichtet hat“. Man warf mir das nicht vor – im Gegenteil – man versuchte, in meiner Gegenwart nicht von dem Leid zu sprechen, das die Deutschen anderen Völkern angetan haben, und als ich herausfand, wie man mich „schützen“ wollte, traf mich das im Innersten. Da ich in unserem Schwesternorden die einzige Deutsche war und auch heute noch bin, hatte ich nie die Gelegenheit, mich mit „unserer“ Geschichte auseinanderzusetzen. Und langsam aber sicher begann ich, mich „neutral“ zu verhalten, mich meines Deutschseins eher zu schämen, besonders darüber, dass ich einmal stolz war, Deutsche zu sein.
Ist es Zufall, dass ich die Strassenexerzitien ausgerechnet in Berlin machte? Mit einer italienischen Mitschwester, die mich seit längerem liebevoll dazu anspornte, mein Deutschsein nicht nur zuzulassen sondern es sogar einzubringen? Ausgerechnet zu einer Zeit, in der es keine Gruppentermine gab und wir deshalb das Privileg hatten, die Gemeinschaft in der Naunynstrasse kennen und lieben zu lernen? Die Erfahrung auf den Strassen Berlins hat es mir bestätigt, dass es im Glauben keine Zufälle gibt, oder, wie Paulus es ausdrückt, dass denen die Gott lieben (oder, wie ich es gerne ausdrücke, die sich von Gott lieben lassen!) alles zum Guten gereicht. So sitze ich hier an meinem Computer und lächle als ich das kleine Kinderspielzeug auf meinem Schreibtisch sehe, das Christian, Petra und Sabine – unsere drei Begleiter/innen – mir am Ende der Exerzitien als Symbol meiner Gotteserfahrung mitgegeben haben.
Das Samstagsfrühstück in der Naunynstrasse, mit dem unsere Exerzitien „zufällig“ begannen, war es, das mir eine Wahrheit vor Augen hielt, die mich traf. Das „zufällige“ Gespräch mit einer Stamm-Besucherin, die mich fragte warum ich die Exerzitien machen wollte, was ich denn suchte, wurde für mich zum brennenden Dornbusch, in dem Gott mir seinen Namen offenbarte. Was ich suchte war Leben; ich wollte leben, sagte ich; ich war hungrig und durstig nach Leben, Leben in Fülle. Und sie schaute mich an und sagte: „Man sieht es an deinem Gesicht, dass du viel ungelebtes Leben in dir hast.“ Das hat mich getroffen. Und am Abend, als wir mit Hilfe unserer Begleiter/innen unseren persönlichen Namen Gottes zu erkennen suchten, kam es als unerwartetes und unfassbares Geschenk zu mir zurück. Da war kein Zweifel: Gott hatte sich mir offenbart als der, der mich ruft, mein ungelebtes Leben zu leben, als der, der lange darauf gewartet hat und der sich freut, wenn ich der Leidenschaft für das Leben in mir Raum gebe.
Die Strassen Berlins wurden für mich in den folgenden Tagen heiliger Boden. Gedenkstätten des Terrors öffneten mir die Augen für die Kraft des Widerstandes und für das Geschenk der Versöhnung, das zur Quelle neuen Lebens werden kann für jene, die sich mit ihrer Geschichte auseinandersetzen, die sich der Wahrheit anvertrauen und ihre befreiende Kraft erfahren. Dass dies nicht nur für die Geschichte meines Volkes zutrifft sondern auch für meine ganz persönliche, wird mir erst jetzt beim Schreiben bewusst. „Es ist wichtig, dass ihr eure Erfahrung mit anderen teilt“, hatte Christian uns immer wieder ans Herz gelegt. Und obwohl ich das mittlerweile schon oft getan habe, sehe ich, dass das Geschenk der Begegnung mit dem Gott des Lebens unerschöpflich ist.
Oft waren es ungeplante und unscheinbare Ereignisse und Entdeckungen, die sich am Abend als Gottesbegegnung erwiesen. Und es dauerte nicht lange, bis ich eine Antwort auf die Frage fand: „Was sind die Schuhe, die ich ausziehen muss, um diesen heiligen Boden zu betreten; was hindert mich daran, Gott wirklich zu begegnen?“ Ich merkte, wie sehr ich daran gewöhnt war, alle meine Gedanken und Handlungen ständig zu überprüfen, damit sie auch wirklich „Gott und den Menschen gefallen“, dass ich mir gar nicht bewusst war, wie mir dadurch die Religion zu einer Zwangsjacke wurde und das Spontane in mir, das nach Leben rief, so langsam erstickte. Ich war in Gefahr, den Gott des Lebens im Namen der Religion aus meinem Leben zu verbannen. Nach einem nicht leichten Kampf mit meinen Skrupeln fiel mir das wie Schuppen von den Augen. Konnte es wirklich sein, dass Gott im Kinderspielplatz auf mich wartete? Ich konnte es nicht glauben. Ich wagte es nicht zu glauben. Aber es war so. Mein spielerisches, fröhliches Kind erwachte im Anblick des Kinderspielplatzes in der Naunynstrasse, an dem wir jeden Tag vorbei gingen.
Welch ein eigenartiges Zusammenspiel: Das Wandern auf den Strassen Berlins brachte mich zur selben Zeit in Kontakt mit den Gedenkstätten des Widerstandes und den Gedenkstätten meines Kindseins: beides Orte, die ich nie wirklich besucht hatte. Und langsam aber sicher spürte ich, dass gerade da für mich der Schlüssel zum Leben lag: das Kind in mir zuzulassen, es springen und singen zu lassen, und den Glauben an das Gute im Menschen und an die Kraft der Versöhnung zuzulassen, den Glauben an den liebenden, werbenden, lebenspendenden und barmherzigen Gott.
Was bedeutet das in meinem Leben konkret? Ich spüre, dass Gott lächelt, wenn ich diese Frage stelle. Gott scheint sich zu freuen, dass ich das frage, und ich vertraue darauf, dass ich, wie Rilke dem jungen Poeten geweissagt hat, vielleicht ohne es zu merken in die Antwort hineinlebe. Das kleine Kinderspielzeug erinnert mich daran.